35.
"LU FENG STOPFTE IHN UNTER DIE BETTDECKE."
„LETZTEN Monat wurde einer meiner
Onkel draußen von einem Monster gebissen und... starb. Dann, vor ein
paar Tagen, ging ein anderer Onkel hinaus, um Vorräte zu suchen. In
diesen Tagen ist die Temperatur in die Höhe geschossen, und es gab
einen Sandsturm. Er ist auch nicht mehr zurückgekommen. Und dann
waren da noch die beiden Onkel, die ich gerade erwähnt habe“,
Xi Bei kratzte mit den Fingern an der Farbe, die sich vom Tisch
abblätterte, dann sagte er langsam, „Es gibt nur noch mich und
meinen Großvater, aber seine Krankheit wird immer schlimmer. Früher
konnte er noch mit mir reden, aber heute ist er nicht mehr klar im
Kopf. Manchmal schreit er vor Schmerzen, und manchmal sagt er Dinge,
die ich nicht verstehe.“
Xi Bei schaute Lu Feng mit einem ernsten Blick an: „Kannst du ihn heilen?“
Lu Feng antwortete: „In der Basis können sie vielleicht die Ursache der Krankheit herausfinden.“
Er garantierte nicht, dass sie 'ihn auf jeden Fall heilen können'.
An Zhe blickte auf die Worte im 'Monatlichen Basismagazin'. Auf einer Seite stand ein Nachruf, der besagte, dass ein gewisser Herr, der immer zum Magazin beigetragen hatte, an einer Krankheit verstorben war und dass der Fortsetzungsroman 'Mission' daher eingestellt werden müsse.
In der Basis - oder zumindest in der Äußeren Stadt - wurden nur sehr wenige Menschen fünfzig oder sechzig Jahre alt. Diejenigen, die das Glück hatten, ein hohes Alter zu erreichen, hatten mit verschiedene Krankheiten zu kämpfen, die in schneller Folge auftraten. Das künstliche Magnetfeld war schwächer als das ursprüngliche geomagnetische Feld, so dass die Menschen immer noch unter den Auswirkungen einer leichten Strahlenbelastung litten. Daher war das Auftreten von genetischen Krankheiten - vor allem Krebs - immer noch sehr hoch und kostete mehr als der Hälfte der älteren Menschen das Leben.
Außerdem führte die Lebensweise in der Wildnis dazu, dass viele Menschen an posttraumatischen Störungen und endlosen Stressreaktionen litten, die ebenfalls chronische Krankheiten hervorriefen, die nicht auszurotten waren.
„Danke... danke sehr“, sagte Xi Bei, „Mein Großvater hat mich aufgezogen, und er war es, der mir das Lesen beibrachte. Er war auch derjenige, der immer unsere Generatoren repariert hat. Alle sagten, es gäbe keine anderen Menschen auf der Welt, aber Großvater ließ uns immer weiter hoffen. Er sagte, dass die Polarlichter am Himmel bedeuten, dass es noch menschliche Organisationen irgendwo da draußen geben muss.“
Lu Feng fragte: „War er der zuständige Ingenieur von diesem Ort?“
„Ja“, antwortete Xi Bei.
Lu Feng verengte seine Augen leicht. Er fragte: „Warum wusste er, dass die Aurora die Existenz einer menschlichen Organisation darstellte?“
Nach einigem Nachdenken erklärte Xi Bei: „Dieser Ort ist eine Magnetitmine und Großvater war in dieser Hinsicht ein Ingenieur. Er sagte,... er sagte, dass sein eigener Lehrer in einem Forschungsinstitut gearbeitet hat und dass das Forschungsinstitut immer die magnetischen Pole untersucht habe. Großvaters Lehrer sagte ihm, dass die Ursache dieser Katastrophe ein Problem mit den Magnetpolen war, aber das Forschungsinstitut war sehr bemüht, einen Weg zu finden dieses Problem zu lösen.“
„Das Hochland-Forschungsinstitut“, sagte Lu Feng barsch, „Die Basis der Forschung über die künstlichen Magnetpole.“
Xi Bei nickte: „Ich glaube, das war der Name.“
„Wir haben vorübergehend den Kontakt zur Basis verloren“, sagte Lu Feng, ohne auf das vorherige Gesprächsthema weiter einzugehen, „Wenn die Kommunikation wiederhergestellt ist, werden wir euch beide mitnehmen.“
Xi Bei nickte energisch: „Danke.“
Danach blieben sie in der Mine. Wann die Kommunikation wiederhergestellt werden würde, war ungewiss, also gab Xi Bei ihnen einen groben Überblick über die Struktur des Bergwerks. Der Ort, an dem sie sich gerade befanden, war der Kernbereich. Als die große Katastrophe noch nicht stattgefunden hatte, war dies der vorübergehende Ruhebereich für die Bergleute und Ingenieure gewesen. Es gab Zimmer, in denen die Leute wohnen konnten, einfache Wohneinrichtungen und einige Bergbaumaschinen, die zurückgelassen worden waren, darunter Generatoren und viele Werkzeuge. Da es sich tief unter der Erde befand und von unvergleichlich harten Mineralien umgeben war, stellte dieser Ort, solange der Höhleneingang geschützt war, eine in sich geschlossene Sicherheitszone dar.
Außerhalb des Kerngebiets befanden sich mehrere tiefe Minenschächte, allesamt erschaffen von den Minenarbeitern, die sich entlang der Erzgänge erstreckten.
„Obwohl es dunkel ist, gibt es keine Monster im Inneren“, sagte Xi Bei, „Ihr könnt also beruhigt schlafen.“
Am Mittag ging Xi Bei los, um das Essen vorzubereiten. An Zhe war neugierig auf ihre Küche, aber er kannte Xi Bei noch nicht gut, deshalb wagte er es nicht, rücksichtslos in das Territorium anderer Leute einzudringen. Stattdessen fand er etwas anderes zu tun.
Pilze mochten Wasser und auch die Menschen mussten Wasser trinken. Wasser war etwas sehr Wichtiges, manchmal sogar wichtiger als Nahrung. Um genügend Wasser zu sammeln, hatten sich die Menschen in der Mine große Mühe gegeben.
Wann immer es draußen regnete, war es an der Zeit, Wasser zu sammeln. Es war nötig, dass man jedes Mal eine große Menge an Regenwasser sammelte, das dann mit Alaunpulver gereinigt und in einem großen Zementkübel gelagert wurde.
Aber das Wetter war nun einmal unberechenbar. Niemand wusste, wann der nächste Regen kommen würde, und so hatten die Menschen, die an diesem Ort lebten, im Laufe der Jahre ein Wasserauffangsystem erschaffen. Entlang des größten und tiefsten Minenschachts hatten sie komplizierte Linien in die Steinwände gemeißelt. Das Innere des Schachts war extrem feucht, und durch den Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht kondensierten hier feine Wassertröpfchen in großer Zahl an den Wänden.
Sobald die Tröpfchen ein bestimmtes Gewicht erreichten, kullerten sie herunter und sammelten sich langsam entlang der von Menschenhand geschaffenen Linien, um dann Tropfen für Tropfen in eine Wasserauffangflasche ganz unten am Ende einer Linie zu fallen. Wenn die insgesamt hundert Plastiksammelflaschen dann gefüllt waren, konnten so insgesamt fast hundert Liter zusammenkommen.
Laut Xi Bei waren die Wassersammelflaschen nun fast voll und konnten eingesammelt werden. So gingen An Zhe und Lu Feng, jeder mit einem Plastikeimer und einer Gaslampe zur Beleuchtung ausgestattet, auf den Hauptweg der Mine, um Xi Bei beim Wasserholen zu helfen.
An Zhe hob zuerst die Plastikflasche am Eingang auf und schüttete das Wasser in den Eimer, stellte die Flasche dann wieder an der richtigen Stelle ab und ging weiter auf die Suche nach der nächsten Flasche.
Er bemerkte, dass Lu Feng sich nicht bewegt hatte, und drehte sich um, um nachzusehen.
Dieser Mann lehnte an einer Steinmauer und sah ihn gelassen an. Erst nachdem An Zhe ihm einen fragenden Blick zugeworfen hatte, machte er ein paar Schritte nach vorne und holte mit ihm das Wasser. An Zhe war verblüfft über dieses seltsame Verhalten, aber da bislang alle Handlungen des Obersts immer sehr durchdacht ausgeführt worden waren, fragte er auch dieses Mal nicht weiter nach.
Die Mine erstreckte sich bis tief unter der Erde und in der Mitte waren Metallschienen verlegt worden.
Er und Lu Feng nahmen jeweils eine Seite und konzentrierten sich auf das Befüllen ihrer eigenen Eimer.
Es handelte sich um eine Magnetitmine, die rundherum raue Wände hatte, die Schürfspuren aufwiesen. Der Hauptgang war sehr nass und dunkel, und der Schein der Gaslampe war in dieser feuchten Umgebung erloschen und machte die Umgebung neblig.
Die Menschen mögen diese Art von Umgebung nicht, aber der Wasserdampf ließ sich An Zhe sehr wohl fühlen. Er spürte sogar in sich selbst, wie seine Spore eine entspannte Rolle machte, was ihn amüsierte. Mit schmunzelnden Augen rieb er sanft als Reaktion darauf über seinen Bauch – dass er die Spore an diesem Ort gebracht hatte gab ihm nun ein Gefühl der Sicherheit.
Während er den Minenweg entlang weiter schritt, nahm die Wassermenge in seinem Eimer weiter zu, und als er schließlich am Ende des Wasserauffangsystems ankam, war der mit Wasser gefüllte Plastikeimer zum schwersten Ding auf der ganzen Welt geworden.
Nachdem er die letzte Flasche Wasser eingefüllt hatte, drehte sich An Zhe mühsam um, den Wassereimer in der Hand.
Vor ihm lag eine lange, dunkle Höhle, und die Stelle, von der er aus losgegangen war hatte sich in einen fernen Lichtpunkt verwandelt, der so schwach war wie ein Funke.
Der Wassereimer in seiner Hand war so schwer, und der Weg war so lang. Er musste zurücklaufen, aber er war schon kurz davor, ihn nicht mehr tragen zu können. Den Eimer zurückzuschleppen war praktisch eine unmögliche Aufgabe.
An Zhe war plötzlich verblüfft.
Schritte ertönten in der Höhle, denn Lu Feng war zu ihm hinübergegangen.
Der Oberst fragte: „Du läufst nicht mehr?“
Am Ende seiner Worte lag ein Ton, der ein spöttisches Lachen zu enthalten schien. Schweigend blickte An Zhe auf das Ende des Minengangs und spürte, wie sein IQ nach und nach ausgelöscht wurde.
Lu Feng warf ihm einen Blick zu und sagte trocken: „Wenn du zuerst hierher gelaufen wärst und dann angefangen hättest, es mit Wasser zu befüllen -“
An Zhe sagte nichts. Er war körperlich nicht sehr gut in Form.
Wäre er erst mit einem leeren Eimer hergekommen und hätte dann auf dem Rückweg das Wasser gesammelt, dann hätte er am Ende des Weges nur noch ein kurzes Stück mit dem schweren Wassereimer gehen müssen. Aber jetzt - er hatte nicht nur den immer schwerer werdenden Wassereimer den ganzen Weg hierher getragen, sondern musste nun auch wieder damit zurück laufen.
Endlich wusste er auch, warum sich Lu Feng zu Beginn nicht bewegt hatte, nachdem er An Zhes Handlungen gesehen hatte.
Dieser Mann, dieser Mann...
Dieser Mann hat die Folgen von Anfang an klar vorausgesehen, aber er hatte es vorgezogen, ihm zuzusehen, als ob nichts geschehen wäre.
An Zhe beschloss, wütend zu werden. Er war ein selbstbewusster Pilz, also begann er mit dem unvergleichlich schweren Wassereimer in der Hand, zurückzulaufen und bemühte sich sogar, dabei sein Tempo zu beschleunigen.
Aber Lu Feng hatte lange Beine und konnte daher mühelos mit ihm mithalten.
Nachdem er mehr als zehn Schritte gegangen war, streckte dieser Mann sogar die Hand aus und hielt An Zhe mit einer Hand auf der Schulter fest.
„Sieh mal da drüben“, sagte Lu Feng.
An Zhe schaute zur Seite.
Dort stand ein zwei Quadratmeter großer Wagen auf der Metallschiene, der mit ein paar Erzbrocken beladen war. Es war eindeutig ein Minenkarren, der zum Transport von Felsen benutzt worden war.
Das Gewicht in seiner Hand wurde plötzlich leichter. Lu Feng hatte seinen Wassereimer genommen und in den Karren gestellt, dann folgte sein eigener Eimer daneben.
Gerade als An Zhe dachte, der Oberst wolle mit diesem Transportmittels nur seine Energie sparen, hörte er ihn sagen: „Steig du auch ein.“
An Zhe betrachtete den Minenkarren etwas zögernd.
Er spürte, dass der Ausdruck in Lu Fengs Augen ein gewisses Interesse enthielt, so als wolle er seltsame Spielchen mit ihm spielen.
Da er weder gehorchte noch sich weigerte, hob Lu Feng ihn schließlich hoch und setzte ihn in den Wagen.
Das Innere des Minenwagens war sehr geräumig. Mit dem Rücken Lu Feng zugewandt, setzte sich An Zhe hin, die Arme um seine Knie geschlungen. Lu Feng hängte die Gaslampe an das vordere Ende des Wagens. Der kleine Minenwagen rollte langsam vorwärts, und das Rattern der Räder hallte leise in der Mine wider.
Umgeben von Bergwänden war dieser Ort von der Welt abgeschottet, und es gab keine lauernden Gefahren. Das gelbe Licht der Gaslampe erhellte sanft einen kleinen Teil des vorderen Bereichs, und manchmal schimmerten fluoreszierende Flecken in den Erzen auf. Es war wie ein Ort der in menschlichen Märchen beschrieben wurde.
An Zhe schaute nach vorne und lehnte sich an die Rückwand des Wagens, und fühlte sich entspannt. Es war der natürliche Charakter eines Pilzes, sich zu entspannen und sich nicht zu bewegen, also hatte er auch nichts dagegen, geschoben zu werden. Und obwohl er Lu Feng nicht sehen konnte, spürte er irgendwie, dass der Mann im Moment auch sehr glücklich war.
Die Freude eines Pilzes beruhte offensichtlich auf Müßiggang, aber worauf die Freude des Obersts beruhte, verstand er wirklich nicht.
Als er nach vorne blickte, stieß er innerlich ein verächtliches Schnauben aus.
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Unerwarteterweise gab es zum Mittagessen Pilzsuppe.
Xi Bei sagte, dass er die Pilze selbst in der Mine gepflanzt hatte und sie daher sauber wären. Die Austernpilze wuchsen schnell, und der Rest reichte noch für mehrere Tage.
Als An Zhe die Worte von Xi Bei hörte, zog er sich schweigend in eine Ecke zurück. Xi Bei sah so sanft und freundlich aus, dass An Zhe nicht erwartet hatte, dass er auch ein pilzmordender Mörder sein würde.
Aber er hatte keine andere Wahl, als ein pilzfressender Komplize zu werden.
Bevor sie mit dem Essen begannen, bemerkte An Zhe, wie Lu Feng ihm einen Blick zuwarf und er glaubte, der Oberst müsste sich an die Schale Pilzsuppe erinnert haben, die er nicht trinken konnte, bevor er damals den Stützpunkt verlassen musste. Es schien eine Art von Bedauern zu sein, und Menschen bedauerten nicht gern. Sie heute zu essen könnte man daher als Wiedergutmachung für das Vorherige betrachten.
Nach dem Essen zeigte Xi Bei ihnen die Lebensmittelvorräte. Es war nicht viel mehr als ein paar Pilze, ein paar Streifen luftgetrocknetes Fleisch und ein Päckchen mit Salz.
„Das Fleisch wurde in der Vergangenheit gelagert“, sagte Xi Bei, „Die Fallgrubenfallen können einige kleine Monster fangen. Es heißt, wenn man die isst, die zu seltsam aussehen, infiziert man sich. Nur die, die nicht zu seltsam sind, kann man essen, so wie die Tiere in der Vergangenheit.“
Lu Feng sagte: „Monster mit niedrigem Mutationsgrad können gegessen werden sobald vierundzwanzig Stunden seit ihrem Tod vergangen sind.“
„Dann hatten diese Onkel mehr oder weniger recht“, sagte Xi Bei.
Lu Feng fragte ihn: „Was für Monster gibt es hier?“
„Vögel, viele Eidechsen und große Ratten“, sagte Xi Bei, „Manchmal gibt es Käfer,... die spinnenartige Art. Wir essen ziemlich viele Ratten. Aber seit dem letzten Sandsturm habe ich sie nur noch selten gesehen. Ich habe zwei besonders hässliche Dinger gesehen.“
An dieser Stelle wurde Xi Beis Gesichtsfarbe leicht blass: „Sie waren besonders groß. Ich hatte Angst, dass sie mich bemerken würden, also habe ich sie nur durch ein Fernrohr betrachtet. Solche Dinger habe ich noch nie gesehen. Weißt du, was sie sind?“
„Dieser Ort sollte in den Östlichen Hügeln liegen. Der ursprüngliche Grad der Verschmutzung war hier nicht sehr hoch“, sagte Lu Feng, „Aber es gab einen Unfall mit dem Magnetfeld vor fünf Tagen, der zu sekundären Mutationen führte und Monster der Hybrid-Klasse sind deswegen aufgetaucht.“
„... Hm?“, kam von Xi Bei.
Lu Fengs Stimme klang leicht düster: „Durch die Nahrungskette haben sich die ursprünglichen kleinen Monster zu großen Hybridmonstern vereinigt.“
Xi Beis Gesichtsfarbe verblasste noch ein wenig mehr.
Als An Zhe Lu Feng sprechen hörte, konnte er sich vorstellen, wie die Monster gegeneinander kämpften, wobei ihre Zahl abnahm, aber ihre Mutationsstufen in die Höhe schossen. Was vielleicht noch erschreckender war, war dass überall auf der Welt das Gleiche geschah und jeder Tag noch chaotischer wurde als der vorherige.
Lu Feng sah Xi Bei an. Die Kombination aus Augenform und -farbe bildete einen scharfen und eiskalten Umriss. Xi Bei, der es offensichtlich noch nicht gewohnt war, den Augen des Oberst zu begegnen, kratzte ein weiteres Stück Farbe vom Tisch ab.
Lu Feng fragte: „Ist in den Höhlen jemals jemand mutiert?“
„Ja. Ein Onkel wurde von einem Monster gebissen, und dann hat er andere gebissen.“
„Wie wurde damit umgegangen?“
„Sie wurden freigelassen.“
Die Kommunikation war immer noch blockiert, aber der Oberst erfüllte seine Aufgaben. Am Nachmittag lieh sich Lu Feng Papier und Stift von Xi Bei und schrieb einfache Notizen über ihre Situation. Die Nacht war die Zeit der Ruhe. In der gesamten Mine gab es nur einen brauchbaren Generator, und die Wege waren feucht und veraltet. In der gesamten Mine gab es nur noch einen leeren Raum mit Strom, also wohnten die beiden dort.
Nach dem Bad rubbelte An Zhe sein Haar trocken und spielte mit Magnetitstückchen. In dieser Mine war Magnetit überall zu finden.
Mit einem Stück in jeder Hand richtete er die gleichen Pole der Magnetitstücke einander zu und wollte sie zusammenschieben. Es war eindeutig nur Luft zwischen diesen beiden schwarzen Magnetitstücken, aber egal, wie viel Kraft er auch aufwenden mochte, er konnte sie nicht zusammenschieben. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft in der Mitte sie nach außen drückte.
Er runzelte die Stirn, weil er nicht wusste, warum das so war. Er konnte nicht viel menschliches Wissen verstehen, genau wie die Menschen viel Wissen dieser Welt nicht verstehen konnten. Aber er wollte trotzdem weiterhin hartnäckig versuchen, sie zusammenzufügen. Er spürte, dass wenn man nur genug Kraft in etwas investierte, es auch gelingen müsste.
Mit dem Geräusch von Schritten betrat Lu Feng den Raum. Sein Mantel, den An Zhe gewaschen hatte, trocknete nun an einem belüfteten Ort. Als er aufblickte, sah An Zhe, dass der Oberkörper des Oberst nur mit dem schwarzen Standardunterhemd des Militärs bekleidet war und die grazilen und schlanken Linien seiner Schulter- und Armmuskeln fielen ihm ins Auge. Die Hosenbeine steckten in seinen schwarzen Stiefeln, was seine Figur noch imposanter und schöner erscheinen ließ. Sein Haar war leicht zerzaust, und kristalline Wassertropfen hingen von den verirrten Strähnen über seiner Stirn herunter.
An Zhe sah ihn an. Ohne die Uniform des Schiedsrichters und ohne das Abzeichen schien Lu Feng nur ein vielversprechender und kräftiger junger Offizier zu sein.
Obwohl sein Gesicht so kalt war wie immer und die Temperatur seiner kühlen grünen Augen auch nicht wesentlich angestiegen war, so hatte An Zhe das Gefühl, dass er viel entspannter war. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass wenn man nach dem menschlichen Alter zählte, die Zwanziger eindeutig die Zeit waren, in der bei einem Menschen alles gerade erst beginnen würde.
Eine gewisse Person in den Zwanzigern fummelte am Kommunikator herum, aber der Kommunikator wiederholte nur immer wieder:„Es tut mir leid, aber aufgrund der Auswirkungen des Sonnenwindes oder der Ionosphäre ...“
Er schaltete den Kommunikator aus und legte ihn auf den Tisch neben An Zhe. Egal, was An Zhe auch tat, er konnte die Pole der beiden Magnetitstücke nicht zusammenbringen. Er schaute Lu Feng an.
„Es ist gegenseitige Abstoßung“, sagte Lu Feng.
An Zhe runzelte die Stirn.
Lu Feng nahm ihm die beiden Stückchen aus der Hand. Weil entgegengesetzte Pole sich anzogen, schnappten die beiden Magnetitstückchen bei einer Änderung der Ausrichtung perfekt zusammen. Dann warf Lu Feng sie zur Seite.
An Zhe hob sie wieder auf und spielte noch einmal mit ihnen, aber egal, wie oft er es versuchte, das Ergebnis war immer dasselbe.
Zwischen zwei gleichen Stäben lag ein unüberwindlicher Widerstand, und sie ließen sich nie zusammenführen. Auf der anderen Seite hatten die beiden entgegengesetzten Pole eine unvorstellbare anziehende Kraft aufeinander. Solange sie sich auch nur ein wenig annäherten, würden sie sich automatisch von seinen Fingern lösen und aufeinander zu fliegen.
An Zhe fragte: „Was ist dazwischen?“
Er war ein Pilz, und An Zhe hatte noch nie einen Physikkurs besucht, also konnte er sich dieses Phänomen nicht erklären.
Lu Feng sagte: „Magnetische Felder.“
An Zhe fragte: „Ist es dasselbe wie das künstliche Magnetfeld?“
„Mm-hm“, bestätigte Lu Feng.
An Zhe fragte: „Kann man es nicht sehen?“
„Nein, kann man nicht.“
„Warum nicht?“
Lu Feng stopfte ihn unter die Bettdecke: „Viele Dinge kann man nicht sehen.“
„Oh“, sagte An Zhe. Unter der Bettdecke war es ein wenig warm, also bedeckte er seine Arme und Schultern.
Lu Feng betrachtete den Kragen von An Zhes weichen weißen T-Shirt, wo ein blauer Bluterguss zu sehen war. Dann griff er danach und zog den Kragen herunter.
Unter dem Kragen, auf der Haut, die ursprünglich glatt und makellos Milchweiß war, befanden sich überall blau-violette Blutergüsse, die gleichmäßig verteilt waren. So gleichmäßig, dass man nicht erkennen konnte, welcher einzelne Bluterguss die Quelle war. Ohne etwas zu sagen, stieß An Zhe Lu Fengs Hand weg und zog leise seinen Kragen wieder an seinen Platz. Lu Fengs Blick verweilte noch immer dort. Natürlich erkannte er diese Art von Zeichen. Wenn sich die Basis an Schwerverbrecher wandte, die sie durch Folter zu Geständnissen erpressen wollten, verwendeten sie hochintensive Elektroschocks. Niemand konnte das überstehen, ohne zu gestehen. Die Folgen der Elektroschocks waren vielfältig und reichten von physischen bis psychischen Schäden. Markierungen auf der Haut waren nur eine davon, und noch mehr Menschen würden diesen schmerzhaften Albtraum ihr Leben lang nicht abschütteln können.
Doch nachdem An Zhe sich fest in die Bettdecke gewickelt hatte, ließ er nur seine Wimpern ein wenig klimpern und er sagte leise: „Es tut nicht mehr weh.“
Beim Anblick seines friedlichen Gesichtsausdrucks wünschte sich Lu Feng manchmal wirklich zu sehr, ihn zu schikanieren, und manchmal wollte er ihn einfach nur gut behandeln.
Dann sah er, wie An Zhe sich zur Innenseite des Bettes bewegte um ihm Platz zu machen, damit er sich auch hinlegen konnte.
Das Bett war nicht groß. Nachdem Lu Feng sich auf seine Seite gelegt hatte, waren sie sehr nahe beieinander. An Zhe entdeckte auch eine Wunde an seinem Arm, die von einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herrührte, aber das war noch nicht alles, denn auch an seiner Schulter waren blaue Flecken und Kratzer.
Er streckte die Hand aus, um den längsten Kratzer zu berühren, aber auf halbem Weg, aus Angst, den Oberst zu verletzen, zog er seine Hand zurück und wieder unter die Steppdecke.
Der Ausdruck in den Augen des Obersts wirkte sanft: „Schlaf.“
„Mm“, sagte An Zhe und schloss die Augen.
Durch das gedämmte Lampenlicht warfen seine Wimpern schwache Schatten auf sein Gesicht und verliehen ihm dadurch einen noch weicheren und ruhigeren Ausdruck. Er war auch völlig entspannt, was Lu Feng sehr leicht erkennen konnte. Dieser kleine Xenogenic schien sich sicher zu sein, dass Lu Feng ihn nicht verletzen würde - selbst nachdem sein Körper von Menschen mit Stromschlagspuren bedeckt worden war.
Es war nicht das erste Mal, dass Lu Feng über sein Verhalten verwirrt war. Als sie sich gerade kennengelernt hatten, in jener chaotischen Nacht, als er die Stadttore verlassen hatte und nirgendwo hin konnte, hatte An Zhe auch ohne Vorsicht walten zu lassen zu ihm gesagt: „Sie können hier bei mir bleiben.“
Damals hatte er gedacht, dass dieser Junge entweder versteckte Motive gehabt hätte oder dass er so rein war wie sein Äußeres, als wüsste er nicht, dass die Menschen nicht oft Xenogenics zum Übernachten einluden. Da er diese Gedanken hatte, äußerte er sie auch: „... Hast du gar keine Angst vor mir?“
Auf diese Frage hin öffnete An Zhe langsam seine Augen. Unter dem schwachen Schein der Gaslampe schienen seine Augen mit einer Schicht aus weichem, schönen Nebel belegt zu sein. In dieser kurzen Zeitspanne schien er fast eingeschlafen zu sein.
Er fragte mit gedämpfter Stimme: „Warum sollte ich denn Angst haben?“
Lu Feng sagte nichts. Er hob seinen Oberkörper an und sah mit schwerem Blick auf An Zhe hinunter, während er mit der anderen Hand nach der Pistole griff, die neben dem Kissen lag. Ihre eiskalte Mündung berührte kurz An Zhes Wange.
An Zhe warf ihm einen klaren Blick zu und runzelte leicht die Stirn. Scheinbar verärgert schob er den Lauf der Pistole beiseite, drehte sich dann auf die andere Seite und riss mit dieser Bewegung die Bettdecke weg.
Lu Feng betrachtete seinen schlanken Hals, die dünnen Schultern und den Rücken, die sich im Rhythmus seines Atems leicht hoben und senkten. Ein Mensch wie er schien sowohl sehr leicht zu verletzen als auch sehr leicht zu beschützen zu sein. Nach einer langen Weile schaltete er das Licht aus und legte sich wieder hin. Ein leichtes Gewicht legte sich über Lu Feng, als An Zhe den Teil der Bettdecke, den er ihm vorhin weggerissen hatte, über ihn legte.
Wie der Schwanz einer Libelle, der in einer Sommernacht auf die ruhige Oberfläche eines Sees trifft. Was die Wellen erzeugte, war nicht nur das Antippen des zuvor ruhigen Wassers.
In der Stille war es unklar, ob Lu Feng von einer Emotion getrieben war oder ob es nur eine unbewusste Handlung war, als er An Zhe von hinten umarmte. Lu Fengs Arm drückte gegen den von An Zhe, und An Zhe regte sich. Er wollte seinen Arm nach unten bewegen, aber er konnte ihn dort nirgends hinlegen, also bewegte er ihn wieder ein wenig nach oben und legte seine Finger auf Lu Fengs Unterarm, so wie er seine Hyphen um nahe gelegene Felsen oder Baumstämme zu schlingen pflegte.
Lu Feng spürte seine Bewegung. Ganz leise fragte An Zhe: „Und hast du keine Angst, dass ich dich infiziere?“
Lu Feng antwortete An Zhe nicht, so wie An Zhe ihm auch nicht geantwortet hatte.
Ob ein Schiedsrichter einem Xenogenic vertraut oder ein Xenogenic einem Schiedsrichter vertraut, - es war schwer zu sagen, was absurder war - ganz gleich, aus welchem Grund heraus sie das taten. Vielleicht war der Tag, an dem sie sich trafen, der Beginn der absurdesten Geschichte der Welt gewesen.
Aber in der Dunkelheit konnte keiner von ihnen das Gesicht des anderen klar erkennen. An diesem Ort, der von der Welt abgeschnitten war, in diesem Moment, von dem niemand anderes wusste, schien es, als ob alles egal wäre, ungeachtet alldem, was geschehen war. Alles würde vergessen und allem würde stillschweigend zugestimmt werden.
Während er dem leisen Atmen von An Zhe lauschte, schloss Lu Feng seine Augen.
Gilt es eigentlich als Kannibalismus wenn ein Pilz eine Pilzsuppe isst?
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