34.
"DENN DU BIST BEI MIR."
RASCHEL.
Dieses Raschelgeräusch war eine Art Schall und es schien eine Welle in der Luft auszulösen. In nächsten Augenblick erkannte An Zhe, dass sich dieses Wesen nicht auf das Sehen, sondern auf den Klang stützte, um die Standorte möglicher Beute ausmachen zu können.
Unzählige Beine zappelten, während es sich in ihre Richtung bewegte.
Peng!
Ein Schuss ertönte am Nachthimmel und der Wind wehte an An Zhe vorbei. Lu Feng war mit unvorstellbarer Geschwindigkeit hoch auf einen Felsen geklettert und hatte seinen ersten Schuss abgegeben.
Das Rascheln verstummte. Die Augen auf dem Körper des Monsters drehten sich langsam, und er stieß ein leises, dumpfes, unterbrochenes Heulen aus. Seine Luftröhre musste voll von Pusteln sein, dachte An Zhe.
Der zweite Schuss traf ein Auge im oberen rechten Bereich. Das Heulen wurde lauter und An Zhe riss seine Augen weit auf.
Blut.
Schwarzrotes Blut quoll aus dem verwundeten Auge - es quoll nicht, sondern es spritzte stattdessen heraus.
Lu Feng feuerte mehrere Schüsse hintereinander ab. Die Öffnung vereiterte allmählich und vergrößerte sich, und das Blut sprudelte wie eine Fontäne heraus. Das Heulen des Monsters wurde um ein Vielfaches lauter.
An Zhe blickte zu Lu Feng auf und sah, dass sein Blick ruhig war, als ob alles genauso war, wie er es erwartet hatte.
Er blickte zurück auf das Monster. Seine Flügel vibrierten, aber sein Körper war zu schwer, um wirklich fliegen zu können. Es machte einen riesigen Satz nach vorne und schlug direkt vor dem Felsen auf, auf dem Lu Feng stand. Mit einem lauten Geräusch erbebte der gesamte Fels, und Staub und Trümmer rieselten nach unten. Obwohl Lu Feng darauf stand, bewegte er sich keinen Zentimeter - er blickte nach unten und betrachtete den massiven Fleischklumpen.
Der Aufprall auf den Felsen ließ ihn noch schneller ausbluten; er war wie eine offene Wasserleitung. Als An Zhe diesen unvorstellbaren Anblick betrachtete, vermutete er, dass der Körper des Monsters einfach aus unzähligen Flüssigkeiten bestand.
Unentwegt versuchte das Monster weiterhin zu Lu Feng hochzuspringen. Nach dem zehnten Aufprall wurde das Geräusch schwächer, und sein kolossaler Körper kippte langsam um.
Es floss nicht nur Blut, sondern auch Fleischstücke und seltsam geformte Organe aus der Öffnung. Herz und Lunge waren zu einer flüssigen, halbfesten Masse verschmolzen, und ein unbeschreiblicher Gestank durchzog den gesamten Bereich. Nicht einmal die Monster des Abgrunds hatten innere Organe mit solch einer unbeschreiblichen Struktur.
„... Hm?“
In An Zhes Wissen gab es eine Leerstelle. Er schaute zu Lu Feng, und Lu Fengs Augenbrauen hoben sich leicht, bevor er heruntersprang und direkt an An Zhes Seite landete: „War's das jetzt?“
„... ist es tot?“ fragte An Zhe.
„Das war einfach“, sagte Lu Feng.
„Es ist sehr schnell gestorben“, sagte An Zhe.
„Mm-hm“, Lu Feng steckte die Waffe weg. Er ließ seine Pistole sich mehrfach zwischen seinen kalten weißen Fingern drehen, ehe er sie zurück in das Holster an seiner Taille steckte.
An Zhe war sehr verwirrt und begann sich sogar zu fragen, wenn er erschossen werden würde, unter welchen Umständen das geschehen würde. Er fühlte sich ein wenig ängstlich.
Lu Feng sah ihn an, mit einem leichten Lächeln in den Augen, dann drehte er sich um und entfernte sich von ihm.
Die Hässlichkeit des Monsters übertraf An Zhes Vorstellungskraft, und die Geschwindigkeit, mit der es gestorben war, übertraf sie ebenfalls. Es gab keinen Mangel an riesigen und hässlichen Spezies im Abgrund, aber dieser Haufen verdorbenen Fleisches vor ihren Augen entsprach eindeutig nicht der Regel, dass ein Monster im Abgrund umso stärker war, je hässlicher es war.
Einfach so war der Kadaver des Monsters auf den Sanddünen zusammengesackt, und schwarzer und roter Eiter war unter seinem Körper hervor geflossen und hatte den Fleck Erde in einen dunklen Farbton gefärbt. Der gleiche Eiter hatte auch das nahe gelegene Gebüsch befeuchtet. Erst hing er zunächst wie ein Tautropfen darin, doch eine Minute später zog er sich zusammen und verschmolz mit dem Laub des Strauches - er war absorbiert worden.
Lu Feng warf einen Blick auf seine Uhr. Dreißig Minuten nachdem das Monster für tot erklärt worden war, ging er darauf zu, und An Zhe folgte ihm, obwohl er immer noch ein wenig hinkte.
Sein grotesker Körper glänzte mit einem seltsamen metallischen Schimmer unter der Aurora. Obwohl alle Teile des Körpers von verschiedenen Kreaturen stammten, waren sie alle fest miteinander verbunden und wuchsen aus dem Inneren des Körpers heraus. Als er sich daran erinnerte, wie er die schwarze Biene verschlungen hatte, erkannte An Zhe, dass dem Monster, wenn es die Gene einer Kreatur verschlungen hatte, sofort ein Organ dieser verspeisten neuen Gene gewachsen war.
Nachdem er das Monster lange beobachtet hatte, sagte Lu Feng zu An Zhe: „Lass uns gehen.“
An Zhe fragte: „Wohin gehen?“
„Es kann sein, dass es hier noch mehr von dieser Art gibt“, erklärte Lu Feng, „Wir müssen einen sicheren Ort suchen.“
An Zhe schaute sich um, aber in seinem Blickfeld war nichts außer einer staubigen Wüste. Er fragte: „Wohin gehen wir?“
„Da vorne sind Ruinen“, Lu Feng wies in eine Richtung.
An Zhe dachte, Warum habe ich keine Ruinen gesehen, als ich vorhin durch den Himmel geflogen bin?
Aber dann dachte er weiter nach. Er war auf einer Biene geritten, während das Transportmittel des Obersts ein Flugzeug gewesen war, also hatte der Obersts ein größeres Sichtfeld gehabt als er.
Er hörte, wie Lu Feng ihn fragte: „Kannst du laufen?“
„Kann ich“, antwortete An Zhe.
Er war tatsächlich kein Pilz, der Schmerzen fürchtete. Obwohl er wirklich ein wenig Schmerzen hatte.
Der Oberst warf ihm einen schiefen Blick zu und sagte: „Komm her.“
Schließlich wurde An Zhe wieder getragen. Er umarmte Lu Fengs Nacken und vergrub seinen Kopf in Lu Fengs Schulter, so dass er Lu Fengs Atem und seine Bewegungen beim Gehen spüren konnte. In der Tat, waren die sandigen Hügel nur für vierbeinige Reptilien geeignet. Wenn man darauf trat, sank der sandige Boden leicht ein; und An Zhe war nicht für die Kraftanstrengung von Knochen und Muskeln geeignet. Für ihn schien es, dass nur fußlose Kreaturen der Schlangenklasse in dieser Art von Umgebung ein zu Hause finden konnten.
Viele Orte in dieser Welt waren für menschliche Aktivitäten ungeeignet. Das Gehen hier erforderte einen größeren Kraftaufwand, und das Huckepack-Tragen einer Person erforderte noch mehr. Aber Lu Feng schien damit keine Probleme zu haben und mit seiner Kraft auch nicht geizen zu müssen. In An Zhes begrenzter Erinnerung war der Oberst, abgesehen davon, dass er nicht gerne redete, mit nichts geizig.
Nach einer Weile der Stille schaute An Zhe hinter sich. Unter dem grenzenlosen schwarzen Himmel sah er eine Reihe von Schritten unterschiedlicher Tiefe im schneeweißen Sand und es wirkte wie eine Art tiefgründiges Symbol.
Plötzlich erinnerte er sich an jenen Tag im Garten Eden. An jenem Tag, als er durch den geräumigen Korridor ging, hatten sich mehrere Offiziere in einem leeren Raum versammelt gehabt und einen schönen Vers rezitiert, und derjenige, der sie angeleitet hatte, hatte ein silbernes Kreuz in der Hand gehalten. Damals war das Magnetfeld verschwunden gewesen, die Stromzufuhr war unterbrochen worden, und alle hatten sich in panischen Angstzuständen befunden, aber ihre Mienen waren sehr friedlich gewesen, als hätten sie eine Art von Kraft erhalten, die sie dazu brachte, sich weiter vorwärts zu bewegen.
„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück“, er wiederholte diesen ruhigen Vers, so dass Lu Feng ihn hören konnte, „denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“
In der Kälte schien die Stimme von Lu Feng einen Hauch von Wärme zu enthalten: „Ist da noch mehr?“
An Zhe bemühte sich, sich zu erinnern: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar... Haben sie an... Gott geglaubt?“, fragte An Zhe.
Er erinnerte sich, dass in den Manuskripten, die An Ze für die Basis geschrieben hatte, Worte wie Gott oder Götter aufgetaucht waren.
Lu Feng antwortete mit einem flachen: „Hmm.“
An Zhe fragte weiter: „Was ist mit dir?“
Lu Feng antwortete nicht.
Er sprach nicht, und in der stillen Nacht gab es nur das nervtötende Geräusch des Windes. An Zhe rezitierte die Gedichte, die er aus den Kinderlehrbüchern und an anderen Orten auswendig gelernt hatte. Eine Zeile nach der anderen, ob einfach oder komplex, bis er zu 'Geh nicht gelassen in diese gute Nacht' kam.
Nachdem er es rezitiert hatte, fing er wieder von vorne an. Weder er noch Lu Feng hatten sonst viel zu sagen oder mochten Smalltalk halten. Er wollte einfach etwas sagen, um diese stille und menschenleere Nacht ein wenig zu beleben, zudem vermochte er gerade nur das zu tun.
Der Wind war so stark, dass die Stimme von An Zhe schnell verweht wurde, aber sie waren so nahe beieinander, dass er wusste, dass Lu Feng ihn hören konnte.
Als er alle Gedichte zweimal wiederholt hatte, waren sie schon eine lange Zeit gegangen.
An Zhe wusste nicht, welche Ausbildung der Oberst beim Militär genossen hatte, aber er wusste, dass dieser Weg und diese Nacht beide zu lang waren. So lang, dass es ihm vorkam, als könnten sie ein ganzes Leben lang und bis an die Grenze dieser Welt oder an das Ende ihres eigenen Lebens gehen.
Dieser Verbrauch an physischer Energie überstieg auch das, was der normale menschliche Körper leisten konnte.
Daher verwandelte er heimlich einen Teil seines Körpers in leichtere Myzelien, aber dann befürchtete er, dass diese geringfügige Gewichtsveränderung unbedeutend war, und er verwandelte heimlich noch mehr.
Schließlich hörte er Lu Feng fragen: „Weißt du, warum dieses Monster so leicht gestorben ist?“
An Zhe wusste nicht, warum Lu Feng dies plötzlich erwähnte. Er hörte auf, den Vers zu rezitieren und sagte: „Nein.“
„Niedriggradige Mutationen entstehen durch genetische Kontamination, und hochgradige mutierte Monster werden in zwei Arten unterteilt“, erklärte Lu Feng, „die Hybridklasse und polymorphe Klasse. Wenn Monster der Hybridklasse Gene konsumieren, behalten sie einen Teil des ursprünglichen Organismus, und die Gene und Eigenschaften vieler Kreaturen können so in ihrem Körper koexistieren. Aber es gibt immer eine Pufferzeit.“
Während Lu Feng weiterging, sprach er weiter: „Es gibt eine Zeitspanne, in der die ursprünglichen Gene und die neu erworbenen Gene miteinander in Konflikt geraten. Innerhalb dieser Zeit verändern sich die DNA-Stränge gewaltsam und geraten in Konflikt mit den Funktionen der ursprünglichen Organe, so dass das Innere des Körpers ein reines Durcheinander ist. Daher sind die Intervalle, in denen intelligente Monster der Hybridklasse sich neue Gene einverleiben, sehr lang, denn sie müssen erst wieder stabile Gene aufbauen. Aber dieses Monster hier war einfach zu gierig.“
An Zhe fragte: „Was ist mit den polymorphen Klassen?“
„Die polymorphen Klassen sind die höchstentwickelten Mutationen, die bisher beobachtet wurden. Es gibt nur wenige von ihnen und sie befinden sich hauptsächlich im Abgrund. Die Art und Weise, wie sie mutieren, besteht nicht in der Koexistenz von Genen, sondern in der freien Veränderung. Zum Beispiel, indem sie sich von einer Biene zu einer Pflanzenart verändern... Manchmal können sie sich auch teilweise verändern. Die Gensequenzen von Mutanten der polymorphen Klasse sind stabiler als die Gensequenzen von Mutanten der Hybridklasse“, sagte Lu Feng, „Aber sie können auch nicht zu viel auf einmal aufnehmen, weil das ihren Verstand beeinträchtigen würde. Das Prozessgericht hatte einmal einen Fall, in dem ein polymorphes Monster aus Tier und Pflanze eine unvollständige Verwandlung durchmachte, wobei sich in allen seinen Organen faseriges Gewebe gebildet hatte und es auf der Stelle starb.“
Leicht ängstlich umarmte An Zhe schweigend Lu Fengs Hals.
Er hatte immer das Gefühl, dass die Worte des Obersts eine tiefere Bedeutung hatten.
_______________
Auf der Straße sahen sie erneut ein Monster der Hybrid-Klasse.
Es war anders als das Monster, das Lu
Fengs Waffe zum Opfer gefallen war. Es war dünn und dunkelgrau, und
es sah aus wie eine Stabheuschrecke, die um das Zehntausendfache
vergrößert worden
war. Auf seinem Rücken hatte es riesige,
dünne Flügel, wie sie nur Schmetterlinge hatten, und von seiner
Stirn ragten zwei schlanke Fühler, aber seine Augen waren nicht zu
sehen. Sein ganzer Körper war etwa fünf Meter lang, und es hatte
sechs dünne Beine. Während sie einen hohen Abhang hinaufkletterten,
verzehrte es gerade eine zwei Meter lange Eidechse. Ihr glänzender,
mit Chitin überzogener Körper reflektierte ursprünglich das Licht
der Aurora, aber als sie fraß, verwandelte sich das Chitin
allmählich in raue Schuppen.
Ihr leichter und wendiger Körper ermöglichte ihr eine schnelle Fortbewegung. Nachdem sie den Kopf der Eidechse gefressen hatte, beugte die Stabheuschrecke ihren Oberkörper nach unten und sprang dann nach vorne, wobei die Überreste des Eidechsenkörpers aus ihrem Maul baumelten, während sie mit flatternden Flügeln davonflog. Sie hatte Lu Feng und An Zhe nicht entdeckt.
Vielleicht war es eines dieser intelligenten Hybridmonster, von denen Lu Feng gesprochen hatte.
Es verstand, dass es nach dem Erhalt neuer Gene erst einmal ein Versteck finden musste, an dem es die chaotische Phase überstehen konnte.
Als An Zhe seine schneeweißen Flügel betrachtete, sagte er aufrichtig: „Es ist so schön.“
Er selbst war auch weiß, und er mochte die Farbe seiner Hyphen, aber er hatte keine so ausgestreckten und schönen Flügel. Selbst wenn er sich in seine ursprüngliche Form verwandeln würde, wäre er nur noch eine weiche Masse. Seit der Regenzeit in seinem frühen Leben, wo er von den Regenfällen und Stürmen in zwei Hälften gerissen worden war, hatte er die Form verloren, die ein Pilz normalerweise haben sollte und war daher sogar ein 'Xenogenic, der von der Grundform seiner eigenen Art abgewichen war', was ihn beschämte.
Er hörte die kalte Stimme von Lu Feng: „Willst du es essen?“
An Zhe sagte nichts.
„Das ist es nicht“, sagte er schließlich.
Lu Feng sagte: „Iss nicht einfach irgendetwas dahergelaufenes.“
An Zhe antwortete mit leiser Stimme: „Es ist nicht so, dass ich es besiegen könnte.“
Die Mundwinkel von Lu Feng zuckten leicht nach oben.
Der Xenogenic in An Zhe wurde wütend, weil ihm ein Mensch verbot, 'irgendetwas dahergelaufenes' zu essen. Er sollte das Recht haben, frei essen zu dürfen was er wollte!
Da gluckerte plötzlich sein Magen.
Lu Feng fragte: „Hast du Proviant?“
An Zhe dachte an die Menge des Essens in seiner Tasche, die nicht einmal für eine einzige Mahlzeit reichen würde. Er sagte: „Moment.“
Nach einigem Nachdenken fragte er Lu Feng: „Hast du Hunger?“
Lu Feng antwortete: „Mir geht es gut.“
An Zhe dachte, dass dieser Mensch wirklich stur war. Er wühlte in seinem Rucksack und fand mit Leichtigkeit die restliche halbe Packung Zwieback, brach ein Stück davon ab und fütterte Lu Feng damit.
Der Oberst lehnte es nicht ab.
An Zhe fütterte ihn weiter. Beim dritten Stück dachte er daran, dass der Zwieback viel zu trocken war und mit Wasser gegessen werden sollte.
Es war auch nur noch eine halbe Flasche Wasser übrig. Er nahm sie heraus, aber er wusste nicht, wie er sie dem Oberst geben sollte. Er konnte nur sagen: „Halt bitte eine Weile an.“
So teilten er und Lu Feng bei Tagesanbruch die Hälfte der verbliebenen halben Flasche Wasser hinter einem großen Felsen. Wasser war etwas, dass die Pilze glücklich machte. An Zhe leckte sich über die Lippen, woraufhin Lu Feng sofort ein Stück Zwieback in seinen Mund steckte.
Die kühlen Finger berührten versehentlich seine Lippen. Während er dieses Stück Zwieback langsam kaute und hinunterschluckte, fühlte sich An Zhe unerwartet sehr wohl. Doch sie hatten offensichtlich kaum noch Nahrung und Wasser, und er wusste nicht, wie sie den kommenden Tag überleben würden.
Er sagte zu Lu Feng: „Du solltest den Rest essen. Ich bin nicht derjenige, der sich anstrengen muss.“
Deshalb brauchte er auch nicht viel zu essen.
Ohne etwas zu sagen, streichelte Lu Feng über An Zhes Kopf, und An Zhe sah auf und begegnete seinem Blick. Er spürte, dass die immer kalten Augen des Oberst im fahlen Licht des frühen Morgens einen Hauch von Wärme hatten.
In diesem Moment hatte An Zhe plötzlich das Gefühl, dass, obwohl er und Lu Feng zwar völlig verschieden waren, und sie beide keine gemeinsame Sprache hatten – und angenommen, der Kommunikator würde es nie wieder tun, und es käme der Tag, an dem entweder Lu Feng und er beide Xenogenics wären oder er und Lu Feng beide Menschen wären, und sie würden beide noch leben - er und Lu Feng an einem solchen Tag vielleicht sehr gute Freunde sein könnten.
Unter den Menschen war er selbst kein besonders herausragendes Individuum, und man hätte ihn sogar als wertloses Individuum betrachten können, aber der Oberst war trotzdem immer sehr gut zu ihm gewesen. Wenn Lu Feng sich also in ein Xenogenic verwandeln würde, - und solange er nicht zu hässlich war - dann würde An Zhe ihn nicht ablehnen.
Eine solche Möglichkeit bestand jedoch
überhaupt nicht. Lu Feng war ein Mensch, und er war leider ein Pilz.
Aber angenommen, er wäre immer ein Mensch gewesen, dann... wäre er
vielleicht nur ein gewöhnlicher Mensch der Äußeren Stadt
gewesen
und hätte Lu Feng gar nicht gekannt.
Also... war er nun doch froh, dass er ein Pilz war.
Sie gingen weiter. An Zhe spürte, dass, nachdem die Nacht vergangen war, sein Bein nicht mehr so sehr schmerzte, und er wollte lieber allein gehen statt sich von Lu Feng tragen zu lassen. Als er abgesetzt wurde, sah er wie Lu Feng leicht stirnrunzelnd zur Seite blickte.
Neben einem massiven Felsen in der Nähe lagen die Fragmente von zwei menschlichen Skeletten verstreut. Die Schädel ruhten weit von den gebrochenen Wirbeln entfernt, die Handknochen fehlten, und ein aschfahler Beinknochen steckte schräg im Sand, als wäre er ein Fahnenmast oder ein Grabstein.
Nachdem sie näher herangekommen waren,
bückte sich Lu Feng und wischte mit seiner Hand eine dünne
Schicht
Asche von den Knochen.
„Frisch, innerhalb der letzten zwei Tage“, murmelte er.
Bei diesen Worten wurde An Zhes Blick unsicher und er betrachtete die Menschenknochen genauer. Unter diesen Umständen sollte es hier keine Menschen geben, die sich frei in der Wildnis bewegen konnten, also sollte es demnach auch keine frischen Menschenknochen geben.
Er fragte: „Ist das einer von eurer Piloten?“
Lu Feng sah sich um: „Es gibt hier keine Wrackteile.“
Sie untersuchten die Knochen noch einmal sorgfältig. Es gab Spuren von Monsterbissen und unter dem Sand in der Nähe lag ein zerlumptes Kleidungsstück, das dunkelgrau war und nicht zur Standardkleidung der Basis gehörte.
Lu Feng hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, denn das war absolut nicht normal.
Da sie jedoch keine weiteren Hinweise hatten, konnten sie nur weitergehen.
Nach einer weiteren halben Stunde tauchte im Morgennebel etwas in der Ferne auf. Ein grauer Faden erstreckte sich über den Horizont und wirkte wie der Rand einer riesigen Stadt.
„Ich glaube, ich sehe es“, sagte An Zhe.
Das mussten die Ruinen der Stadt sein, von denen Lu Feng gesprochen hatte.
Lu Feng sagte: „Ich sehe sie auch.“
An Zhe fragte: „Ist es möglich, in den Ruinen Wasser und Nahrung zu finden?“
„Ja.“
„Wirklich?“
Lu Feng sagte teilnahmslos: „Ich halte mich oft in Ruinen auf.“
„... Oh.“
Oberst Lu war ein Mann, der selbst im Abgrund frei kommen und gehen konnte. Aber nicht verhungern zu müssen, war dennoch etwas, worüber man sich freuen dürfte. Sogar seine Schritte wurden federnder, und er ging einen Schritt vor Lu Feng.
Genau in diesem Moment wurde der Boden unter seinen Füßen plötzlich weich!
Dann sackte er ab.
Er begann zu fallen.
„Ah!!!“
Sein Herz pochte heftig. Er war kurz davor, sich vor Angst in seine Hyphenform zu verwandeln, doch blitzartig durchfuhr eine schwere Kraft seinen linken Arm - Lu Feng hielt seine Hand fest umklammert. In der Luft hängend, stieß An Zhe einen Seufzer der Erleichterung aus, woraufhin Lu Feng ihn wieder hochzog. Gerade als sich sein Bein erholt hatte, begann nun sein Arm heftig zu schmerzen, und er atmete seufzend ein.
Lu Feng streckte An Zhes Arm aus und fuhr mit seiner eigenen Hand von An Zhes Schulter bis zu seinem Handgelenk hinunter, dann sagte er: „Es ist nicht gebrochen.“
An Zhe blickte nach unten.
Es war eine gefährliche, drei Meter tiefe Grube, die mit einigen brüchigen, dünnen Brettern, die mit Sand bedeckt waren, abgedeckt worden war. Man hatte es zuvor nicht sehen können, da es nicht von der Umgebung zu unterscheiden gewesen war, aber wenn man darauf trat, würde man in die Grube fallen.
An Zhe fand das merkwürdig.
Er sah, dass auch Lu Feng leicht die Stirn runzelte.
„Eine Fallgrube, und dazu noch eine recht neue, wie es aussieht. Hier gibt es bestimmt noch weitere. Wir sollten uns vorsichtig bewegen“, grübelte Lu Feng.
An diesem Ort tauchten zuerst menschliche Knochen auf und dann eine Fallgrube – beides Dinge, die mit Menschen zu tun hatten. Konnte es sein, dass hier draußen in der Wildnis Menschen lebten?
Genau in diesem Moment riss Lu Feng den Kopf hoch und schaute in eine bestimmte Richtung: „Wer ist da?“
Ein Erdhügel ragte aus dem Boden und sah in dem hügeligen Land völlig normal aus. Nachdem Lu Feng gesprochen hatte, gab es keinerlei Reaktion.
Dennoch zog Lu Feng seine Pistole und sagte grimmig: „Komm heraus.“
Es gab immer noch keinerlei Bewegung.
Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, eine halbe Minute.
Plötzlich kam ein Rascheln aus dieser Richtung, gefolgt von einem dumpfen Quietschen, und An Zhe blickte zur Quelle der Geräusche. Der Sand auf der Oberfläche des Hügels rieselte hinunter, als sich so etwas wie ein Deckel öffnete und eine Gestalt herauskletterte. Zuerst dachte er, es sei ein Murmeltier, aber auf den zweiten Blick stellte sich heraus, dass es ein Mensch war, - ein lebendiger und scheinbar nicht mutierter Mensch - , gekleidet in eine zerlumpte Jeans, ähnlich der Kleidung, die sie neben den Knochen von vorhin gefunden hatten.
Nachdem er sich zu voller Größe erhoben hatte, sahen sie, dass es sich um einen schmächtigen Jungen handelte. Sein Teint schien aufgrund des fehlenden Sonnenlichts besonders blass zu sein, aber ein paar Sommersprossen waren über seine Wangen verstreut.
Er starrte sie an und schien völlig schockiert zu sein.
An Zhe erwiderte schweigend den Blick.
Zwei volle Minuten vergingen, bevor der Junge stammelte: „Ihr... ihr zwei... seid... Menschen?“
Die Art, wie er sprach, war sehr ungeschickt und seine Aussprache sehr seltsam, ganz anders als der übliche Akzent der Menschen in der Basis.
Lu Feng sagte: „Hol uns zuerst hier raus!“, und verwies dabei auf ihr Umfeld.
Der Junge starrte sie an, und seine Hände, die an seinen Seiten hingen, zitterten, bevor er abrupt auf sie zu lief: „Einen Moment!“
Er näherte sich ihnen nicht auf direktem Wege, sondern auf einem Umweg, drehte sich bei ihnen dann um, um sie zu führen, wobei er sie um viele Windungen und Kurven führte. Als sie weitergingen, stammelte er: „Es... es tut mir leid. Wir hatten Angst... Angst vor Monstern, also haben wir viele... viele Fallgruben gegraben. Damit sie nicht kommen können und wir... wir konnten Wache halten... Ich... ich dachte nicht, dass jemand zurückkommen würde. Bist... bist du okay?“
Er sah ihn den Kopf hängen lassen, ein Bild der Reue und der Selbstvorwürfe, daher sagte An Zhe: „Es geht mir gut.“
Neben dem Erdhügel drückte der Junge auf eine Art Gerät, und mit einem Knarren öffnete sich ein schweres Eisentor und gab den Blick auf einen pechschwarzen Höhlenschlund frei.
„Ihr seid... ihr seid Leute von draußen?“, als schien er plötzlich etwas begriffen zu haben, drehte sich der Junge mit wirklich weit aufgerissenen Augen zu ihnen herum. Er schaute zuerst auf Lu Feng, aber Lu Fengs ausdrucksloses Gesicht schien ihn zu erschrecken, also wandte er sich steif an An Zhe und wartete auf die Antwort seiner Frage.
„Sind wir“, sagte An Zhe.
„Ich...“, der Junge holte ein paar Mal tief Luft, und die Erregung stieg ihm in die Wangen. Wäre der Abstand von einem halben Meter nicht gewesen, hätte An Zhe vermutet, dass er den Herzschlag des Jungen hören konnte.
Er fragte: „Geht es dir gut?“
„Ich...“, der Junge schien endlich begriffen zu haben, was gerade passiert war, und es sah so aus, als könnte er nicht mehr zu Atem kommen.
Doch dann sprach Lu Feng.
„Hallo“, sagte er ruhig, „Nördliche Basis, Prozessgericht. Braucht ihr Hilfe?“
„Wir ... wir brauchen Hilfe“, die Augen des Jungen leuchteten wie das Licht der aufgehenden Sonne, und er drehte sich um und stürzte in den Tunnel in die Tiefe, wobei er unnachlässig, „Großvater!“, rief.
Lu Feng und An Zhe folgten ihm und liefen ebenfalls in den stillen und gewundenen Tunnel. Nachdem das Eisentor geschlossen war, war es kühl und dunkel an diesem Ort, aber ein schwaches, blinkendes Licht leuchtete vor ihnen auf. Der Weg unter ihren Füßen war nicht deutlich zu erkennen, daher legte An Zhe vorsichtig eine Hand an die Wand. Lu Feng ergriff sein Handgelenk und zog ihn vorwärts.
Es war eine steile Treppe, die nach unten führte und auf der man sehr leicht fallen konnte. Erst nach einem weiteren, etwa hundert Meter langen Stück bergab und einer weiteren Biegung weitete sich der Raum etwas.
Gaslampen warfen ihren schwachen weißen Schein an die Wände und beleuchteten den beengten Innenraum der Höhle. Der Blick in die Tiefe der Höhle schien endlos, und das Geräusch ihrer Schritte hallte unablässig nach.
Lu Feng fragte: „Habt ihr das gegraben?“
„Nein“, sagte der Junge, „Es ist eine Mine von vor sehr langer Zeit. Viele von uns haben sich hier versteckt.“
„Wie viele Leute?“, fragte Lu Feng, „Wie lange habt ihr hier gelebt?“
„Ich weiß es nicht“, der Junge ließ den Kopf leicht hängen, „Ich wurde hier geboren, und danach sind viele Leute... gestorben. Mein letzter Onkel hat uns verlassen, und jetzt gibt es nur noch meinen Großvater und mich.“
Bevor sie den Ort erreichten, an dem der 'Großvater', von dem der Junge sprach, war, hörte An Zhe zuerst ein raues Schnappen nach Luft, wie das Geräusch aus der Brust eines sterbenden Tieres.
In einer zehn Quadratmeter großen Nische war ein Bett aus Eisendraht mit einer Breite von weniger als einem Meter, und auf dem Bett lag ein ergrauter alter Mann. An Zhe ging näher heran und sah, dass er mit einer grau-gelben Decke zugedeckt war, seine Wangen waren hager, seine Augen trüb, und er zitterte am ganzen Körper, als ob er große Schmerzen hätte. Obwohl sie an sein Bett getreten waren, reagierte er überhaupt nicht.
„Er ist krank“, sagte der Junge.
Während er sprach, setzte er sich an das Bett, nahm die Hand seines Großvaters und sagte laut: „Großvater, Leute von draußen sind gekommen, um uns zu suchen! Sie sagten, sie kämen von der Basis! Die Basis gibt es wirklich!“
Der alte Mann war nicht mehr bei klarem Verstand. Anstatt sich von der Freude und Aufregung in den Worten des Jungen anstecken zu lassen, runzelte er die Stirn und drehte den Kopf, als würde er vor dem Geschrei des Jungen fliehen wollen.
„Wir können jetzt an einen Ort gehen, an dem viele Leute sind!“
Scheinbar daran gewöhnt ließ sich der Junge auch nicht von der ablehnenden Haltung des alten Mannes beeindrucken. Stattdessen wurde sein Tonfall immer aufgeregter. Genau in diesem Moment bewegte sich der schrumpelige Mund des alten Mannes und er sprach ein paar zusammenhanglose Silben.
Sein Enkel fragte: „Was?“
Auch An Zhe hörte aufmerksam zu. Die Lippen des alten Mannes bewegten sich und wiederholten diese Silben: „Es ist...“, seine Kehle war rau und aus seinem Mund entwich Luft, so dass jedes Wort wie ein klappriger Windhauch klang, „Es ist... fast Zeit.“
Der Junge wandte sich entschuldigend an Lu Feng und An Zhe: „Großvater sagt das immer. Er denkt, er sei sehr krank und dem Tode nahe.“
Nachdem er das gesagt hatte, sagte er zu dem alten Mann: „Wir gehen zu dem Ort, wo alle Menschen sind. Dort wird es bestimmt Medizin geben.“
Aber der alte Mann wälzte sich hin und her und sagte immer noch das Gleiche, so dass sie es aufgaben, weiter auf ihn einzureden. Bis sie weitergingen, murmelte der alte Mann immer noch: „Es ist fast Zeit.“
An Zhe kam dieser Satz sehr bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, wo er ihn schon einmal gehört hatte. Dann führte der Junge sie in einen etwas geräumigeren, rechteckigen Raum.
Der Raum, der mit drei pechschwarzen Tunneln verbunden war, die sich verzweigten, war wie das Herzstück des gesamten Tunnelsystems, von wo aus sich die Gänge in alle Richtungen ausbreiteten. Ein vergilbtes Papier mit einer Karte des Bergwerks sowie den Betriebsvorkehrungen darauf war an die schroffe Wand geklebt worden und in der Mitte des Raumes stand ein kleiner quadratischer Tisch, neben dem zwei alte Sofas platziert worden waren. Die übermäßige Feuchtigkeit hatte das das Lackleder der Sofas völlig zerfressen.
Lu Feng unterhielt sich mit dem Jungen.
Der Name des Jungen war Xi Bei, und er sagte, als damals das Wüstenzeitalter im Jahre 2030 herangerückt war, sei die Mine eingestürzt. Aber weil die Strahlung nicht durch den Boden dringen konnte, hätten einige der Menschen im Inneren überlebt und seien bis heute geblieben. Sie waren zu den Ruinen der Kleinstädte in der Nähe gegangen, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen, und manche wurden auch von den Monstern draußen verschlungen. Seine Mutter brachte nur ihn zur Welt, und langsam, ganz allmählich, waren von den ursprünglich Dutzenden von Menschen nur noch er und sein Großvater sowie ein paar ältere Onkel übriggeblieben.
„Ich wusste einfach, dass da draußen auf keinen Fall alle gestorben sind. Ich habe daran geglaubt, dass sie irgendwo neue Häuser gebaut haben müssen, aber wir konnten euch nicht finden. Mein Großvater hat mir einmal gesagt, dass sie damals einmal einen anderen Ausgang aus dieser Mine gefunden hatten, sie dann rausgegangen seien und keine einzige lebende Person gefunden hätten, weil sich das Wetter so verändert hätte. Mit dem Funkgerät konnten keine Signale empfangen werden, draußen waren überall Monster und wir konnten deswegen nicht hinausgehen. Wir konnten nur hier bleiben, aber wir wussten, dass es noch andere Menschen geben musste.“
In Xi Beis Stimme schwang ein Hauch von Aufregung mit, und aus einem Fach in der Wand holte er ein paar dünne und abgegriffene Bücher heraus.
„Vor zwei Jahren haben wir draußen ein Auto gefunden. Neben einer toten Person, waren diese hier drin, also wusste ich, dass da draußen noch Leute waren. Ich habe... immer darauf gewartet, dass ihr kommt. Unsere... unsere Mitmenschen haben wohl immer nach uns gesucht, um uns zu retten“, er sah Lu Feng mit leuchtenden Augen an, voller Hoffnung.
Mit leiser Stimme sagte Lu Feng: „Die Basis heißt dich willkommen.“
Auf der anderen Seite streckte An Zhe die Hand aus. In diesem Stapel schlanker Buchbände wurde der Deckel des obersten von der schummrigen Gaslampe beleuchtet. Sein Titel lautete 'Monatliches Basismagazin'. Die Worte rüttelten an den Erinnerungsfetzen, die in seinem Kopf waren. Es handelte sich um eine Broschüre, die von der Kulturabteilung der Basis an die Bevölkerung verteilt worden war.
Diese Broschüren wurden in der weit entfernten menschlichen Basis produziert, und dann zusammen mit pornografischen Romanen und Waffenhandbüchern von Söldnern oder Soldaten in einem gepanzerten Fahrzeug von der Basis weggefahren. Nach einer langen Reise wurden sie für immer in der Wildnis zurückgelassen.
Danach wurden sie von den überlebenden Nachkommen der Minenarbeiter des Wüstenzeitalters aus dem Fahrzeugwrack geholt und diese reichten die Bücher Tag für Tag in der Mine herum. Sie wussten, dass es eine ferne menschliche Heimat darstellte.
Auf der bereits vergilbten Titelseite standen in kleiner Schrift die Worte 'Mögen wir in eine helle Zukunft gehen' geschrieben. Nach dem Umblättern der Seite erschien das Inhaltsverzeichnis. Die Hand, mit der An Zhe die Seiten umblätterte, zitterte plötzlich, und sein Blick blieb an einer bestimmten Zeile des Inhaltsverzeichnisses hängen, das aus einem Wort bestand, das einfacher nicht hätte sein können.
'Wintertag'.
Er folgte den nachfolgenden Punkten bis zum rechten Rand des Papiers, und am Ende standen zwei weitere Wörter, die den Namen des Autors darstellten.
An Ze.
An Zhes Atem stockte für einen kurzen Moment. Dann erblickte er die Zeile unter 'Wintertag'.
Ein Aufsatz mit dem Titel 'Ein Tag im Jahr 2059'.
Das Jahr 2059 war eine weit entfernte Zeit in der Geschichte, also deutete dieser Titel darauf hin, dass es sich um einen anspruchsvollen historischen Bericht handelte.
Der Autor hieß Poet.
Diese beiden Namen lagen schweigend übereinander auf der Seite.
Die Finger von An Zhe berührten sanft das Papier. Seine Finger hatten einst die Schulter von An Ze gehalten und einmal waren sie von Poet in einem pechschwarzen Auto fast zerquetscht worden. Jetzt strichen sie über die Namen der beiden Männer, und ihre Gestalten wurden in An Zhes Kopf wieder lebendig. Er blätterte zu diesen Seiten – diesen zwei nebeneinander liegenden Seiten.
'Wintertag' war ein kurzes Gedicht über die Schneeflocken, die in jenem Winter auf den Platz des Versorgungsdepots fielen. An Ze hatte gesagt, dass der gefallene Schnee so weich sei wie die Flügel schneeweißer Tauben.
An Zhe konnte sich an alle Details in An Zes Stimme erinnern, und es war, als würde er An Ze gerade persönlich hören, wie er ihm den Schnee beschrieb. In diesem flüchtigen Moment schien An Ze wieder zum Leben zu erwachen, und auch Poet stand lächelnd vor ihm und bestand darauf, An Zhe die Geschichte der Basis zu erzählen.
Diese Welt enthielt noch immer die Aufzeichnungen, die sie zurückgelassen hatten.
An Zhes Sicht wurde unscharf.
Offensichtlich hatte er schon lange nicht mehr an die beiden gedacht, aber ihre Gestalten erschienen trotzdem lebhaft vor ihm, als wären sie sich erst gestern begegnet.
Auf diese Weise sah er sich wieder mit ihnen vereint, so wie dieser Junge namens Xi Bei plötzlich den Besuchern aus der Menschenbasis begegnet war.
„Ursprünglich waren auch noch zwei Onkel hier, aber sie sind ausgegangen, um etwas zu essen zu finden. Es ist mehr als ein Tag vergangen, und sie sind noch nicht zurückgekommen. Ich glaube...“, Xi Bei ließ den Kopf hängen, „Ich glaube... sie können vielleicht nicht mehr zurückkommen.“
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Lu Feng, „dass ich nicht rechtzeitig hier gewesen bin.“
„Keineswegs!“, Xi Bei schüttelte energisch den Kopf, dann schenkte er Lu Feng ein unbeholfenes, schmallippiges Lächeln.
Seine Stimme klang ein wenig rau, als er sagte: „Draußen wimmelt es von Monstern, also muss es auch für dich sehr schwierig gewesen sein. Allein die Tatsache, dass du gekommen bist, macht mich schon sehr... sehr dankbar. In dieser Welt gibt es noch andere Menschen, und wir haben noch ein Zuhause. Das ist... das ist großartig.“
Der Schein der Gaslampe spiegelte sich in seinen schwarzen Pupillen, in denen helle Funken vor Aufregung tanzten. Die Funken in Kombination mit dem subtilen Ausdruck auf Xi Beis Gesicht vermittelten pure Freude, vermischt mit Trauer.
An Zhe betrachtete schweigend das Gesicht von Xi Bei und wusste, dass er diese Emotionen nie verstehen würde. Er senkte den Kopf. Auf den vergilbten Seiten der Zeitschrift erschienen An Zes Stimme und sein Gesicht wieder vor ihm.
Seine Augen trübten sich. Noch vor ein paar Stunden hatte er innerlich die hartnäckigen Bemühungen der Menschen kritisiert, ihren Willen zu bewahren, und hatte sich vorgestellt, dass er an dem Tag, an dem Lu Feng sich ebenfalls in ein Xenogenic verwandeln würde, er ihn nicht ablehnen würde.
Aber in diesem Moment geriet der Gedanke leicht ins Wanken.
Menschen waren nun einmal Menschen, dachte er.
Er wusste, dass die Basis keine Medizin hatte, und er wusste, dass die Menschheit ihr Ende erreicht hatte.
Aber er wusste auch, dass sie unvergänglich waren.
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