4.
"LU FENG, ICH HOFFE, DU STIRBST EINEN ELENDEN TOD!"
VANCES' Blut breitete sich in An
Zhes peripherem Blickfeld aus und bildete eine purpurfarbene Lache.
Als die Leute in der Reihe das Geräusch hörten, drehten sie sich
einer nach dem anderen um, um nachzusehen, aber nachdem sie diese
Szene gesehen hatten, kehrten sie gleichgültig wieder zurück, als
wäre nichts geschehen.
Aber Vance war tot. Ein Mensch war an den Toren der Menschenbasis getötet worden und niemand erhob Einspruch.
So wurde An Zhe plötzlich klar, dass
es sich bei dieser Person um den Schiedsrichter handeln musste, die
Person, die Vance ihm gegenüber am Tag zuvor erwähnt hatte.
Er war der Leiter des Gerichts und entschied bei jeder Person, die die Stadt betrat, ob diese ein Mensch oder ein Xenogenic war. Er konnte über das Schicksal eines jeden entscheiden, egal, wer diese Person war und brauchte sich dafür nicht zu rechtfertigen.
Nun war er selbst an der Reihe, vor Gericht zu stehen.
An Zhes Herz pochte zunächst wie wild. In dem Moment, als der Lauf der Waffe auf ihn gerichtet war, wurde ihm klar, dass er wirklich sterben würde. Aber als er in die eisgrünen Augen des Schiedsrichters sah, beruhigte er sich allmählich wieder.
Es war seine unvermeidliche eigene Entscheidung zur Nördlichen Basis zu kommen, also war es sein Schicksal, verurteilt zu werden, egal wie das Ergebnis lautete. Leise zählte er im Geiste die Sekunden. Eins, zwei, drei.
Eine
lange Zeit verging, ohne dass ein Schuss ertönte. Der
Schiedsrichter, der die Waffe auf ihn gerichtet hielt, ging langsam
hinüber.
Die Leute in der Schlange schienen sich stillschweigend darauf zu einigen, schneller zu werden und drängten sich spontan nach vorne. Einen Moment später war der nähere Umkreis um An Zhe menschenleer.
Elf, zwölf, dreizehn.
Nachdem An Zhe bis zur vierzehnten Sekunde gezählt hatte, blieb der Schiedsrichter vor ihm stehen. Sein Ringfinger ruhte auf dem Schaft und er senkte die Mündung. Dann steckte er die Waffe weg.
„Komm mit mir mit“, hörte An Zhe ihn sagen.
Seine Stimme war eiskalt und emotionslos, genau wie seine Augen.
An Zhe stand an Ort und Stelle und wartete darauf, dass er ging, aber er rührte sich nicht, selbst nachdem drei Sekunden vergangen waren. Er hob unsicher den Kopf, dann hörte er, wie die Stimme des Schiedsrichters noch kälter wurde: „Streck deine Hand aus.“
An Zhe streckte gehorsam seine Hand aus.
Klick.
Ein eiskalter Schauer ließ ihn
erschaudern. Das eine Ende einer silbernen Handschelle war um sein
Handgelenk befestigt, während das andere Ende in der Hand des
Offiziers lag. Auf diese Weise wurde An Zhe abgeführt.
Das Seltsame war, dass die Leute in der Schlange überhaupt nicht reagierten, als Vance erschossen worden war. Jetzt, wo er vom Schiedsrichter abgeführt wurde, steckten sie ihre Köpfe zusammen und flüsterten untereinander.
An Zhe hatte nur noch Zeit, einen Blick auf Vances' Körper zu werfen, der flach auf dem Boden lag, bevor er durch das Stadttor gezogen wurde. Drinnen angekommen, stellte er fest, dass der Innenraum nicht ein enger Gang war, sondern ein riesiges Raum, der in mehrere Räume unterteilt worden war. Überall leuchteten helle weiße Lampen, deren grelles Licht von den Stahlwänden abprallte und es erinnerte ihn an Schneefall, der sich auf hellgrauem Schiefer spiegelte.
Im Vergleich zu draußen gab es hier nicht weniger bewaffnete Soldaten und schwere Waffen. Inmitten der Enge der schweren Waffen und Soldaten befand sich ein langer weißer Tisch. Drei Offiziere in schwarzen Uniformen, die denen des Schiedsrichters glichen - An Zhe vermutete, dass es sich um weitere Richter handelte - saßen auf einer Seite dieses Tisches und ein Mann saß ihnen gegenüber. Einer der Richter fragte ihn: „Wie ist die Beziehung zwischen dir und deiner Frau? War sie dieses Mal nicht bei dir, als du die Stadt verlassen hast?“
Aus An Zes Erinnerungen erfuhr An Zhe, dass neben Aussehen, Haltung und Gewohnheiten auch die Intelligenz und das Gedächtnis infizierter Menschen beeinträchtigt werden konnte und daher war das Verhör auch eine Methode zur Identifizierung von Xenogenics.
Die Person, die ihn hereingebracht hatte, blickte in diese Richtung und sagte: „Beeilt euch!“
Nachdem der Richter in der Mitte mit einem, „Ja, Sir“ geantwortet hatte, schaute er den Angeklagten an: „Sie können jetzt gehen.“
Als ob er ein Unglück überlebt hätte, erschien sogleich ein Lächeln auf den Lippen des Mannes und er stand auf, um dann zügig durch den Durchgang des Stadttors zu gehen.
So wusste An Zhe, dass der Mann, der ihn hergebracht hatte, in der Tat kein anderer als der Schiedsrichter war, und sein 'Beeilt euch!' war nicht, um die Richter zur Beschleunigung ihres Verhörs zu drängen, sondern vielmehr, um zu zeigen, dass er bereits innerhalb eines kurzen Augenblicks festgestellt hatte, dass der Angeklagte ein Mensch war.
Die nächste zu verhörende Person trat aus der Reihe in Richtung des langen Tischs. Der Abstand zwischen der Reihe und dem Tisch war sehr lang, mit mehreren türförmigen Maschinen dazwischen und einem Abschnitt, der Kurven sowie Steigungen und leichtes Gefälle beinhalteten.
An Zhe erkannte, dass dies dazu diente, die Bewegungsmerkmale der zu prüfenden Person den Richtern so gut wie möglich zu zeigen. Aber er hatte keine Zeit mehr, genauer hinzusehen, denn in der folgenden Sekunde wurde er um eine Ecke und in einen langen Korridor geführt.
Diese Person holte ein schwarzes Kommunikationsgerät heraus und sagte: „Prozessgericht, Lu Feng. Bitte um genetische Untersuchung.“
An Zhe vermutete, dass die beiden Worte in der Mitte sein Name waren.
Prompt schob sich eine mechanische Tür vor ihnen auf und Lu Feng ging geradewegs hinein, wobei die Kraft seines Zuges An Zhe stolpern ließen, bevor er auf diese neue Situation überhaupt reagieren konnte.
Der Raum war silbrig-weiß. Mysteriöse mechanische Geräte waren vom Boden bis zur Decke aufgereiht und sechs Soldaten, die Wache hielten, waren im ganzen Raum verstreut. Hinter einer Werkbank an einem Ende des Raumes saß ein junger Mensch mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen, gekleidet in einem weißen Laborkittel.
„Was für eine seltene Überraschung, dass Oberst Lu hierher kommt.“
Er schob die Brille auf seiner Nase zurecht und der Tonfall seiner Stimme ging am Ende provozierend nach oben: „Lösen Sie nicht immer alle Ihre Probleme mit Kugeln?“
Lu Feng sagte kalt: „Bitte kooperieren Sie, Doktor.“
Der Arzt blickte Lu Feng an, der Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht. Dann stand er auf und sagte zu An Zhe: „Kommen Sie mit mir mit.“
Nachdem er ihm gefolgt war, wurde An Zhe auf eine silberweiße Plattform gelegt und Ringe um seine Hände und Füße fixierten seine Gliedmaßen. Der Arzt sagte: „Bewegen Sie sich nicht.“
Unmittelbar danach spürte An Zhe einen Schmerz in seinem Arm. Er drehte seinen Kopf in diese Richtung und sah, wie der Arzt langsam einen Schlauch mit hellrotem Blut aus seinem Körper zog. Der Arzt sagte: „Die Farbe Ihres Blutes sieht mir sehr gesund aus.“
„Danke für das Kompliment“, erwiderte An Zhe.
Der Arzt war über seine Antwort amüsiert: „Das Blut wird zu einer genetischen Untersuchung geschickt, die in etwa eine Stunde dauern wird. Der erweiterte Ganzkörperscan wird voraussichtlich vierzig Minuten dauern. Bewegen Sie sich nicht.“
Er beendete seine Rede und die silberne Plattform begann in einem blauen Licht zu leuchten. Aus der Umgebung ertönte ein richtungsloses, tiefes Brummen - die Quelle des Geräusches war jedes einzelne Luftteilchen. Das allgegenwärtige Geräusch ließ An Zhe sich an jene fernen Nächte im Abgrund erinnern. Der ferne Ozean gab das dumpfe Plätschern der Wellen von sich und in der dunkelsten Stunde der Nacht kam das Heulen unbekannter Kreaturen aus dieser Richtung. Schwingungen, die die menschliche Sprache unmöglich beschreiben könnte, fegten über das gesamte, vom Regen verwüstete Land.
Der elektrische Strom war wie unzählige
Ameisen, die über seinen Körper krabbelten und in seinen Körper
bissen. Für einen Pilz waren vierzig Minuten keineswegs eine lange
Zeit. Aber An Zhe dachte, dass dies vielleicht die letzten vierzig
Minuten seines Lebens sein könnten. Während er sie genoss,
studierte er
die mechanischen Leitungen an der Decke.
Er war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, als er draußen Lu Feng sagen hörte: „Seraing sagte mir, dass Ihre Prüfungsmethoden verbessert worden sind.“
„Sie sind wie immer sehr gut informiert“, sagte der Arzt, „Wir haben entdeckt, dass wenn der menschliche Körper mutiert, einige spezielle Fragmente der DNA aktiviert werden und wir haben sie 'biologische Ziele' genannt. Die biologischen Ziele von tierischen Mutationen und pflanzlichen Mutationen sind die zwei Hauptkategorien. Der verbesserte Gennachweis umfasst zwei Prozesse, die gleichzeitig ablaufen. Der eine ist der Tier-Typ und der andere die Erkennung von pflanzlichen Zielen. Die Gesamtzeit, die für beide benötigt wird, beträgt eine Stunde.“
„Glückwunsch“, sagte Lu Feng.
Der Arzt lachte: „Oberst, wenn die Zeit für genetische Untersuchungen stark verkürzt und die Kosten reduziert werden, wird dann nicht auch Ihr Prozessgericht arbeitslos?“
„Ich freue mich schon darauf.“
„Sie sind wirklich langweilig.“
Ihr Gespräch verstummte. Währenddessen blickte An Zhe zur silbrig-weißen Decke hinauf und begann darüber nachzudenken, welcher Spezies er angehörte.
Er war ein Pilz.
Der Arzt hatte gesagt, dass Mutationen unterteilt wurden in tierische Mutationen und pflanzliche Mutationen. Er dachte, dass Pilze erstens keine Tierart waren und zweitens schienen Pilze auch keine Pflanzen zu sein. Er hatte keine Blätter.
An Zhe geriet in einen Zustand der Verwirrung. Er bemühte sich, sich selbst als Pflanze zu klassifizieren, fand aber keine ausreichenden Beweise. Er verbrachte zu viel Zeit mit dem Grübeln über diese Frage. Bevor er zu einem Ergebnis kam, verschwand das blaue Licht von seiner Seite wie eine ablaufende Flut.
„Also gut.“ Die Stimme des Arztes ertönte, und die mechanischen Ringe lösten sich automatisch. Dann hörte er, wie der Arzt weiter sprach: „Herr Oberst, darf ich fragen, warum Sie ihn für eine genetische Untersuchung hergebracht haben?“
„Nein.“
Der Arzt war sichtlich sprachlos. Er half An Zhe auf und wies ihn an auf einem Drehstuhl Platz nehmen, während er ihm den Kopf tätschelte: „Guter Junge. Ruh dich hier ein wenig aus, während ich mir die Ergebnisse der Blutuntersuchung ansehe.“
An Zhe setzte sich auf seinen Platz. Der Oberst, - der Schiedsrichter - , saß auf der anderen Seite und beobachtete ihn mit eisgrünen Augen. Es war ein junges Gesicht mit klaren Konturen und unterhalb der Hutkrempe hingen ihm ein paar schwarze Haarsträhnen über die Stirn und an den Enden seiner schrägen Augenbrauen. Sein Gesichtsausdruck, der durch die kühle Beleuchtung im Raum noch eisiger wirkte, schnitt wie ein Messer in An Zhe's Augen.
Der Blick dieses Augenpaares ließ An
Zhe sehr frösteln. Pilze fürchteten sich vor der Kälte.
Infolgedessen drehte er den Drehstuhl und wandte dem Oberst den
Rücken zu. Doch nun fröstelte er noch mehr.
Nach einer sehr langen Zeit
erklangen endlich die wiederkehrenden Schritte des Arztes und
brachten somit den Raum zum Auftauen: „Der genetische Bericht
enthält keine Abnormalitäten. Sie beide können gehen.“
Nach ein paar Sekunden des Schweigens sagte Lu Feng: „Sie sind sich hundertprozentig sicher, dass er ein Mensch ist?“
Der Arzt antwortete: „Auch wenn es Sie enttäuschen mag, aber wir haben wirklich keine biologischen Ziele gefunden. Andere Infizierte und Xenogenic haben mindestens zehn oder mehr.“
Dann sagte er: „Sehen Sie nur,... unser kleiner Freund hier will Ihnen noch nicht einmal mehr Beachtung schenken.“
Dann hörte An Zhe, wie der Oberst sagte: „Dreh dich zu mir herum.“
An Zhe drehte sich schweigend um. Dem Blick von Lu Feng wich er ein wenig aus, denn er war ja nun wirklich kein Mensch. Aber selbst dieses kleine Ausweichen irritierte den Oberst irgendwie; seine Stimme war wie Eiswasser, als er wieder sprach: „Wovor hast du Angst?“
An Zhe sagte kein Wort. Er wusste, dass je
mehr er in der Gegenwart dieses Mannes sprach, desto mehr Fehler
könnte er dann machen und dann würde dieser vielleicht seine
Schwäche aufdecken können.
Schließlich hob Lu Feng die Augenbrauen: „Du willst immer noch nicht gehen?“
Da sprang An Zhe gehorsam vom Stuhl herunter und ging wieder mit ihm - aber diesmal war er frei, ohne in Handschellen geführt zu werden.
In dem verlassenen Korridor erreichten sie die Hälfte der Strecke als Lu Feng plötzlich das Wort ergriff: „Auf den ersten Blick habe ich instinktiv gespürt, dass du kein Mensch bist.“
An Zhe bekam fast einen Herzinfarkt.
Ganze drei Sekunden vergingen, bevor er fragte: „Und ... was ist mit dem zweiten Blick?“
„Das ist das erste Mal, dass ich eine genetische Untersuchung angeordnet habe“, der Oberst hielt ihm den genetischen Untersuchungsbericht entgegen, „Du solltest auch das einzigste Mal bleiben.“
An Zhe konnte den Bericht nur
schweigend entgegennehmen, der besagte, dass alles an ihm normal war.
Eine kurze Zeit lang waren nur die monotonen Geräusche ihrer
Schritte in dem silbrig-weißen Korridor zu hören.
In der
Nähe des Ausgangs gab es eine Ecke, an der sie auf eine Gruppe von
Menschen stießen. An der Spitze stand ein Richter in einer schwarzen
Uniform und hinter dem Richter waren zwei schwer bewaffnete Soldaten,
die einen gefesselten Mann festhielten während sie auf die Gruppe
zugingen. Daneben stand noch eine hochgewachsene Frau mit kurzen
Haaren und einem besorgten Gesichtsausdruck.
Als der Richter Lu Feng entdeckte, sagte er: „Oberst.“
Lu Feng sah den gefesselten Mann an und dieser erwiderte seinen Blick. Der Adamsapfel des Mannes zuckte ein paar Mal, bevor er ausrief: „Ich bin nicht infiziert worden!“
Der Richter reagierte daraufhin auf der Stelle und sagte zu Lu Feng: „Eine Infektion wird stark vermutet, aber es gibt keine schlüssigen Beweise. Die nächste Angehörige verlangt eine genetische Untersuchung.“
Lu Feng gab einen leisen verstehenden Laut von sich und die Soldaten setzten ihren Weg mit dem Mann in ihrer Obhut fort. Gerade als sie an Lu Feng vorbei schritten …
PENG!
Lu Feng steckte seine Waffe weg und
ging davon, ohne sich umzudrehen: „Die Untersuchung ist nicht
nötig.“
Der Körper des Mannes kippte augenblicklich nach vorne und wurde dabei nur von den Soldaten gehalten. Die Frau, die ihnen nachgefolgt war, kreischte auf und brach auf den Boden zusammen.
An Zhe drehte sich um und betrachtete Lu Fengs Gesichtsausdruck. Sein Blick war so kalt - so einen Blick hatte der Pilz noch nie gesehen. Er wusste, dass An Ze immer sanft war, Vance war unbekümmert und großzügig, Hosen war voller Gier und Anthony war übervorsichtig. Aber Lu Feng war anders. In seinen Augen war überhaupt nichts zu sehen.
An Zhe dachte, dass das Töten von Menschen für den Schiedsrichter vielleicht normaler war als das Atmen. Er würde keine Gefühlsveränderung wahrnehmen, weil er sich schon längst an den Anblick gewöhnt hatte. Bald erreichten sie den Ausgang.
In der Nähe des Ausgangs warteten
zwei einfach gekleidete Soldaten mit einem in ein weißes Tuch
gehüllten Körper auf ihn. An Zhe wusste, dass es Vance war.
Sein Blick wurde
unscharf. Er machte einen Schritt nach vorn und wünschte sich, dass
er das weiße Tuch wegnehmen und noch einmal Vances Gesicht sehen
könnte, aber einer der Soldaten hielt ihn auf.
Der Soldat hielt ihm einen blauen Chip hin und sagte mit fester Stimme: „Söldnerteam AR1147 hat keine Überlebenden und die Ausrüstung und das Material wurden von der Basis zurückbeordert. Die Beute wurde in Währung umgewandelt und zusammen mit der Trostprämie zur Auszahlung an die nächsten Angehörigen freigegeben. Bitte fordern Sie die Überreste an.“
„Wo bringen Sie ihn hin?“ fragte An Zhe.
Der Soldat antwortete: „In die Verbrennungsanlage.“
Sein Körper zitterte leicht und lange Zeit nahm er die ID-Karte nicht entgegen. Dann ertönte Lu Fengs Stimme: „Willst du sie nicht?“
An Zhe sagte nichts. Nach einer langen Weile hob er den Kopf und sah Lu Feng an: „Er war wirklich... nicht verwundet.“
In diesem Paar eisgrüner Augen sah er
seine eigenen Augen, die leicht geweitet waren und in denen sich
stille Trauer widerspiegelte. Lu Feng war immer noch ausdruckslos,
als hätte das alles nichts mit ihm zu tun gehabt. Doch gerade als An
Zhe dachte, er würde sich umdrehen und gehen wollen, machte er
stattdessen einen Schritt nach vorn. Der schwarze Pistolenschaft hob
den Rand des weißen Stoffes an und der Teil, der zum Vorschein kam,
war Vances rechte Hand. An Zhe kniete nieder und sah, dass an der
Spitze seines Ringfingers ein winziger roter Punkt war. Es schien
eine ganz triviale Einstichstelle zu sein, aber an den Rändern
dieses roten Punktes war ein Tropfen unheilvolle dunkelgraue
Flüssigkeit zu erkennen, die langsam heraustrat.
Er war
fassungslos. In diesem Augenblick kamen ihm Bilder in den Sinn: Da
war menschliches Blut auf dem Monsterpanzer gewesen - genau an dem
Tag erzählte Vance ihm, dass manche Menschen die Tatsache verbergen
würden, dass sie verwundet worden waren, weil an Orten mit niedrigem
Verschmutzungsgrad noch eine Chance bestand, dass sie nicht infiziert
werden würden, nachdem sie verwundet wurden und das diese Personen
dann nur noch nach Hause gehen wollten.
Deshalb war die Person, die von dem
Stück Panzer gestochen worden war, nicht Anthony, sondern Vance
gewesen. An Zhe fiel es schwer zu atmen. Mit zitternden Fingern nahm
er Vances Ausweis entgegen und steckte ihn in die Tasche an seiner
Seite. Dann drehte er sich zu Lu Feng um, aber der Platz
neben ihm
war leer.
Er stand auf und schaute hinaus, um eine scharf umrissene schwarze Gestalt unter dem grauen Himmel am Stadttor zu erkennen, die sich immer weiter Stück für Stück entfernte.
Einen Moment später gab es hinter
ihm ein Geräusch. Er drehte sich um und sah die Frau, deren
Begleiter gerade getötet worden war, nach vorne stolpern, bevor die
Soldaten sie zurückhielten.
„Lu Feng! Schiedsrichter - !“ Sie wehrte sich verzweifelt, warf sich nach vorne und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Sie kreischte: „Ich hoffe, du stirbst einen elenden Tod!“
Die heisere, schrille Stimme brach aus ihrer Brust und hallte im Gebäude wider, aber der Schiedsrichter warf nicht einmal einen Blick zurück.
Die Umgebung wurde allmählich ruhiger und die beiden Leichen wurden eine nach der anderen abtransportiert. In dem geräumigen Korridor war nur noch das unterbrochene Schluchzen der Frau zu hören.
_______________
Es verging eine lange Zeit, bis die Frau an der Wand aufhörte zu weinen. Mit geröteten Augen und zerzaustem Haar lehnte sie an der Wand und schaute in den fernen Himmel, ohne ein Wort zu sagen. Sie war wie ein Wassertropfen auf einem Blatt, der bei der kleinsten Berührung zu zerspringen drohte.
An
Zhe fragte vorsichtig: „Gehst du nicht weg?“
Sie schüttelte den Kopf und ihre Stimme klang rau, als sie sagte: „Derjenige, der gestorben ist,... in welcher Beziehung stand er zu dir?“
An Zhe brauchte sehr lange, um das passende Wort aus seinen Erinnerungen zu finden: „Mein... Freund. Er hat mich gerettet.“
„Mein Mann hat mich auch schon mal gerettet.“
Nachdem sie das gesagt hatte, senkte
sich ihr Kopf und ihre Schultern und ihr Rücken zitterten, während
sie gelegentlich ein oder zwei weinerliche Laute von sich gab. Sie
sagte nichts mehr weiter.
An Zhe hielt den Ausweis von Vance
fest in der Hand. Aus seinem Herzen - dem Ort, wo eigentlich das
menschliche Herz zu finden war - , kam ein erstickendes Gefühl. Als
er noch ein reiner Pilz war, hatte er diese Art von Gefühl noch nie
erlebt.
Erst als sich das Gefühl endlich ein wenig verflüchtigt hatte fand er seine Kraft wieder. Er ging in die Richtung der entfernten Menschenansammlung zum Ausgang des Korridors.
Am Ende des Stadttordurchgangs befand sich eine Reihe von mechanischen Toren und An Zhe wählte das äußerste Linke. Als er hinüberging, sagte eine sanfte weibliche Roboterstimme: „Bitte zeigen Sie Ihren Ausweis und schauen Sie in die Kamera.“
An Zhe legte die Karte, die An Ze gehört hatte, auf eine kleine Plattform rechts vom Tor, die in einem weißen Licht leuchtete, hob dann den Blick und sah in die schwarze Kamera vor sich.
„ID 3261170514. Name: An Ze.
Wohnort: Äußere Stadt, Distrikt 6. Zeit außerhalb der Stadt:
siebenundzwanzig Tage.“
Die Kamera machte ein leises
Geräusch und das weiße Licht wurde grün.
„Gesichtserkennung bestanden. Willkommen zu Hause.“
Mit einem Klingeln hob sich das Tor und An Zhe ging hinaus. Die blendende Morgensonne ließ ihn blinzeln, aber er erholte sich nur dreißig Sekunden später. Nachdem die verschwommene Welt wieder klar geworden war, erschien eine riesige graue Stadt vor seinen Augen.
Um ihn herum war eine große Freifläche und das Wort 'Pufferzone' war in grellgrüner Farbe auf den Boden geschrieben. Vor ihm schossen menschliche Kreationen aus dem Boden. Hohe Betongebäude waren überall, sogar noch massiver als die höchsten Pflanzen, die An Zhe je gesehen hatte, und es schien, dass sie jederzeit umkippen könnten. Sie standen aufrecht, überlappten aneinander und versperrten ihm seine Sicht. Er blickte nach oben. Die Hälfte der orangefarbenen Sonne war hinter dem höchsten Gebäude verborgen, während die andere Hälfte aussah wie ein Tropfen verdünnten Blutes, der an der Wand hinunter zu tropfen drohte.
An Zhe drehte sich um. Die Leute,
die mit ihm aus dem Stadttor gekommen waren, wurden durch die
mechanischen Tore getrennt, aber nachdem sie hindurchgegangen waren,
schloßen sie sich wieder zusammen und gingen in dieselbe Richtung.
An Zhe ging mit ihnen vorwärts und bog nach ein paar hundert
Schritten um eine Ecke. Auf einem Schild standen die Worte
'Schienenverkehr' und ein Zug stand auf den Gleisen. Auf den
einzelnen Wagons des Zuges stand: Eingang - Distrikt 1 -
Versorgungsdepot 3 - Distrikt 5 - Distrikt 8 - Büro für
Stadtangelegenheiten – Ausgang.
Er folgte dem Strom von Menschen in
den Zug und suchte sich eine Ecke in dem noch leeren Waggon, um sich
dort hinzusetzen. Auf den Sitzen vor ihm saßen zwei stämmige
Männer, die sich mit leiser Stimme unterhielten.
„Zurück aus Becken 3? Ihr habt da
draußen wirklich mit eurem Leben gespielt!“
„Wir haben sechs Leute verloren.“
„Nicht schlecht. Seid ihr nun raus?“
„Das
Militär ist noch dabei, die Lage zu beurteilen. Aber ich denke, dass
ich nie wieder mein Leben in der Wildnis riskieren muss.“
„Wow.“
„Wir betraten eine Schule in der
Geisterstadt 441. Sie war voll von
mutierten Pflanzen, also traute
sich bislang niemand dort hinein“, der Mann lachte auf, „Wir
gingen rein und stahlen drei Festplatten aus dem Referenzraum der
Bibliothek. Das sind unbezahlbare Schätze. Wir werden mal sehen, wie
wertvoll die darauf gespeicherten Dinge sind.“
An Zhe hörte schweigend zu. Obwohl er nicht alles verstand, so wusste er, dass der Mann vor ihm sehr glücklich war und so fühlte er sich auch ein wenig glücklicher. Er wusste, dass glückliche Menschen oft gerne anderen helfen, daher rief er: „Guter Mann!“
Ohne sich umzudrehen, sagte der Mann: „Was gibt es?“
„Wie komme ich nach Distrikt 6?“
„Steigen Sie am Versorgungsdepot in die Linie 2 um.“
„Danke.“
Fünf Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung und eine Roboterstimme verkündete die Namen der einzelnen Bahnsteige. An Zhe war mit all dem nicht vertraut. Nach mehreren Rückschlägen und Anfragen nach dem Weg stieg er schließlich am Versorgungsdepot in den Zug der Linie 2 und später dann korrekt aus, um in den Distrikt 6 zu kommen.
An Zhes ID-Nummer lautete
3261170514. Diese Zahlenkombination war nicht nur der Beweis für
seine menschliche Identität, sie stand auch für seine Adresse:
Diese befand sich in der Außenstadt Distrikt 6, Gebäude 117,
Türschild Nummer 0514. Aber kurz nach dem Aussteigen aus dem Zug,
als er gerade versuchte, jemanden zu finden, den er nach dem Weg
fragen konnte, packte ihn plötzlich ein kleiner Junge: „Hallo,
mein Freund. Herzlich willkommen. Möchtest du uns nicht
kennenlernen?“
Bevor An Zhe etwas sagen konnte, wurde ihm ein Stück weißes Papier in seine Hand gestopft. In großen, blutroten Worten stand darauf: WIDERSETZE DICH DER TYRANNEI DES SCHIEDSRICHTERS.
Er verstand den Grund dafür nicht, aber er fragte auch nicht weiter. Er sagte nur: „Entschuldigen Sie, wissen Sie, wie man zu Gebäude 117 kommt?“
Der Junge sagte: „Es macht dir doch nichts aus, mit uns zu kommen,oder?“
„... eigentlich nicht.“
„Dann sind wir ab sofort Kameraden.“ Der Junge hob das weiße Papier in seinen Händen hoch, auf dem in großen, roten Worten stand: ABSCHAFFUNG DES 'SCHIEDSRICHTERKODEXES'.
Sie waren nicht die einzigen, die
Papiere bei sich hatten. Bald wurde An Zhe in eine Menschenmenge
hineingezogen. Es waren etwa vierzig Menschen, alle mit sehr jungen
Gesichtern. Jede Person hielt entweder einzeln ein ähnliches Stück
weißes Papier hoch oder arbeitete mit einem Partner zusammen, um ein
langes Banner hochzuhalten. Die Sätze auf den Papieren und Bannern
waren in etwa die gleichen.
'Wir übernehmen freiwillig die Kosten
für genetische Untersuchungen'.
'Richter sind Sünder gegen die
Menschheit'.
'Löst das Gericht auf und
bringt Gerechtigkeit für die Unschuldigen.'
Zur gleichen Zeit bewegte sich die
Menge langsam vorwärts, so dass auch An Zhe sich nur mit ihr bewegen
konnte. Die Straßen der Stadt waren sehr schmal. Das Sonnenlicht
schien auf die Gebäude und die Gebäude warfen unregelmäßige
Schatten auf den Boden. Auf der Straße gab es außer ihnen
auch
einige Erwachsene, die mit gesenktem Kopf gingen. Sie hoben
gelegentlich den Blick und sahen in die Richtung der Menge, aber dann
auch sehr schnell wieder weg.
An Zhe fragte: „Was machen wir hier?“
„Das ist eine stille Demonstration“, sagte der Junge, „Wir werden marschieren bis zu dem Tag, an dem das Tribunal aufgelöst wird.“
„... Oh.“
Nachdem er etwa eine halbe Stunde mitgelaufen war, fragte er wieder den Jungen neben sich: „Wo ist Gebäude 117?“
„Da vorne, wir sind gleich da.“
Eine weitere halbe Stunde verging, und An Zhe fragte erneut: „Wo ist Gebäude 117?“
„Tut mir leid!“ Der Junge kratzte sich am Kopf: „Ich habe dich vergessen. Wir sind daran vorbeigelaufen, es ist dort hinten.“
Während er sprach, drehte er sich um und zeigte darauf: „Da drüben, es ist nicht weit weg. Die Hausnummer steht an der Seite. Du wirst es direkt sehen können.“
„Danke“, sagte An Zhe.
„Gern geschehen.“
An Zhe reichte dem Jungen den Zettel: „Den gebe ich zurück.“
„Nicht nötig!“ Der Junge stopfte den Zettel zurück in seine Arme: „Denk daran, nächste Woche wiederzukommen! Wir versammeln uns in Gebäude 1!“
So konnte An Zhe nur noch das blutige WIDERSETZE DICH DER TYRANNEI DES SCHIEDSRICHTERS zusammen mit dem Gen-Bericht, den er von eben diesem Schiedsrichter zugesteckt bekommen hatte, festhalten. Er behielt beides in der Hand, während er diese Gruppe von seltsamen jungen Menschen verließ und in die Richtung ging, die man ihm gezeigt hatte.
Während er ging, spürte er, dass die Umgebung allmählich vertraut wurde, als die Erinnerungen in seinem Kopf, die ursprünglich zu An Ze gehört hatten, wachgerufen wurden.
Intuitiv bog er ein paar Mal ab und erreichte das Gebäude mit der Aufschrift '117' ohne Probleme. Es war ein rechteckiges Gebäude, nur zehn Stockwerke hoch, aber sehr breit. Er ging hinein und nachdem er leise die steile Treppe in den fünften Stock hinaufgestiegen war, betrat er einen schummrigen Korridor und fand die Nr. 14.
An der Tür klebte ein weißes Siegel.
An Zhe riss es vorsichtig ab und legte einen Sensorbereich darunter
frei. Als er die ID Karte daran hielt, öffnete sich das Schloss und
er trat ein.
Es war ein sehr kleiner Raum. Er war sogar kleiner
als die Höhle, in der er früher gelebt hatte, aber er war viel
heller und geräumiger als der Ruhebereich im gepanzerten Wagen. An
der Wand stand ein hölzerner Schreibtisch, auf dem sich mehr als
zehn alte Bücher auf einer Seite stapelten und auf der anderen Seite
lagen Loseblattwerke und Notizbücher. Der Schreibtisch stand vor
einem Ein-Personen-Bett. Am Kopfende des Bettes befand sich ein
Nachttisch, auf dem ein Wasserbecher, ein Spiegel und einige
Kleinigkeiten standen und ein Kleiderschrank, der etwas größer war
als die Höhe eines Menschen, war an das Fußende des Bettes
geschoben worden.
Das Fenster befand sich auf der anderen
Seite des Bettes. Seine grauen Vorhänge waren halb geöffnet, das
Sonnenlicht schien herein und erhellte die gleichfarbige Bettdecke,
und es war ein trockener Duft zu vernehmen, der ihn an den Geruch von
An Ze erinnerte.
Er ging zum Bett hinüber, streckte die Hand aus
und nahm
den handtellergroßen Spiegel. Der Spiegel reflektierte
sein Gesicht. Er sah aus wie An Ze, mit weichen schwarzen Haaren und
Augen in der gleichen Farbe. Sie waren sich an vielen Stellen
ähnlich, aber es gab auch einige Details, die nicht gleich waren.
Wenn man es genauer betrachtete, so
hatte er nicht den sanften und ruhigen Ausdruck von An Ze.
Damals hatte An Ze zu ihm
gesagt: „Es ist, als hätte ich einen
jüngeren Bruder. Wie wäre
es, wenn ich dir einen Namen gebe, kleiner Pilz?“
„Gibt es etwas, an das du dich besonders gut
erinnerst,
kleiner Pilz?“
Nur zwei Dinge
waren tief in seinem begrenzten Gedächtnis eingebrannt: zum einen
der Verlust seiner Spore und zum anderen
etwas, das geschah, als
er noch sehr klein war - etwa
als er nur etwa so lang war wie der
kleine Finger eines Menschen.
In der Regenzeit, als die Pilze wuchsen, hatte ein schräg fallender Regentropfen seinen schlanken Stiel getroffen und ihn in Höhe seiner Taille gebrochen.
Wie jedes andere verletzte Lebewesen
bemühte er sich dann
wieder zu wachsen, um weiterzuleben.
Danach erlangte er allmählich ein vages Bewusstsein. Er war geheilt.
Von da an schien er anders zu sein als
seine Artgenossen. Er konnte seine eigenen Hyphen kontrollieren,
sich
zwischen dem Dschungel und den offenen Feldern bewegen und
die Geräusche und Bewegungen draußen wahrnehmen. Er war ein freier
Pilz.
„Armes kleines Ding“, damals hatte An Ze sein Haar zerzaust, „Hat es sehr weh getan, als du in der Mitte gebrochen bist?“
„Das habe ich vergessen“, hatte An Ze da gesagt.
„Dann werde ich dich An Zhe nennen, geschrieben mit dem chinesischen Schriftzeichen für 'schnappen'.“
Er hatte daraufhin nur gesagt: „Okay.“
An
diesem Punkt seiner Erinnerung lächelte An Zhe in den
Spiegel.
Als die Person im Spiegel lächelte, schien es ihm, als würde er
einen Schatten von An Ze in dem Spiegelbild wiedererkennen können.
„Danke“, sagte er zu dem Spiegel.
Nachdem er den Spiegel abgestellt hatte, setzte sich
An Zhe an den Schreibtisch. Was sollte er als nächstes tun? Nach
einigem Nachdenken streckte An Zhe seine linke Hand aus und
starrte
auf seine eigenen Fingerspitzen im Licht.
Schneeweiße Hyphen
breiteten sich leise aus seinen Fingerspitzen aus und verdichteten
sich dann. Er nahm den Dolch in die Hand und schnitt ein kleines,
dünnes Stück davon ab.
Dann nahm
er dieses Stück mit der rechten Hand, führte es an seinen Mund,
schob es vorsichtig hinein und biss zu, denn er hatte beschlossen,
die Sache mit seiner Giftigkeit zu untersuchen.
Ein weicher, süßer und sehr wohlschmeckender Geschmack - das war sein erster Eindruck.
In
der nächsten Sekunde begann die ganze Welt vor seinen Augen zu
schwanken.
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