29.
"ABER ER WIRD NIEMALS BEKOMMEN,
WAS ER
WILL."
LILY SAGTE kleinlaut: „Es tut mir
leid, gnädige Frau, ich bin nur ein bisschen besorgt wegen Si Nan.“
„Was gibt es denn, worüber du nicht mit mir reden könntest?“, Frau Lu reichte Lily die Hand und Lilys Hand löste sich gehorsam von An Zhes und legte sich in die ihr angebotene.
Als sie sich das letzte Mal im Leuchtturm getroffen hatten, hatte Frau Lu eine Maske getragen, so dass An Zhe nur ihre Augen hatte sehen können. Dieses Mal sah er endlich alle Gesichtszüge der Frau mit all ihren weichen Linien. Ihre Augenbrauen waren geschwungen, aber wenn sie nicht lächelte, waren ihre etwas schmalen Lippen ein wenig geschürzt, was dieser sanften Erscheinung eine Spur von unerschütterlichem Heldentum verlieh.
Lu Feng sah nicht so aus wie sie.
Aber unerklärlicherweise hatte An Zhe das Gefühl, dass ihre Gesichtszüge einige Ähnlichkeiten mit Lily aufwiesen. Wenn alle Menschen in der Basis aus den Embryonen des Garten Eden entstanden sind und alle Embryonen von Frauen aus dem Garten Eden stammten, dann könnte Lily tatsächlich Frau Lus wirkliche Tochter sein.
Unter diesem Gesichtspunkt war es verständlich, dass Lily ihn verließ, nachdem sie Frau Lu gesehen und sie ihr ihre Hand hingehalten hatte - schließlich war sie Frau Lus und nicht seine Tochter. In dieser Welt würde ihn nur seine Spore niemals freiwillig verlassen.
An Zhe sah Frau Lu an. Er wusste nicht, welche Maßnahmen Frau Lu ihm gegenüber ergreifen würde. Er hörte nur, wie Frau Lu fragte: „Ist er dein Freund? Bist du durch den Durchgang hierher gekommen, um ihn zu finden?“
Lily und An Zhe sahen sich an. Ihr durchtriebener Blick veränderte sich, und sie sagte zu Frau Lu: „Er will nicht zurückgehen. Kann ich ihn einladen, mein Gast zu sein? Wir könnten An Zhe zum Essen einladen. Was sie unten essen müssen, ist sehr eklig.“
An Zhe verstand, dass dieses kleine Mädchen ihm helfen wollte, sich vor den Leuten, die unten nach ihm suchten, zu verstecken, aber er glaubte nicht, dass Frau Lu damit einverstanden sein würde. Schließlich war sein plötzliches Auftauchen hier zu seltsam.
Aber zu seiner Überraschung sagte Frau Lu: „In Ordnung.“
„Wow, gnädige Frau, du bist heute so nett“, sagte Lily.
Frau Lu senkte den Kopf und streichelte über Lilys Haar: „Ich habe dich nun einmal sehr lieb.“
Lily rieb sich liebevoll an ihrer Handfläche: „Ich mag dich auch.“
Auf diese Weise wurde An Zhe in den zweiundzwanzigsten Stock des Garten Eden gebracht, wo eine friedliche Atmosphäre herrschte. Aus den Lautsprechern in den Fluren klang sanfte Musik, und die schneeweißen Wände waren mit Bildern von Blumen, Schmetterlingen, Bienen, Wolken oder der Jungfrau Maria dekoriert. Im Vergleich zur Außenwelt wirkte dieser Ort wie eine andere Welt.
In dem geräumigen Korridor und der
Haupthalle begegnete An Zhe anderen Frauen. Sie waren alle in
reinweiße lange Kleider gekleidet, trugen ihr tiefschwarzes oder
kastanienbraunes Haar offen und hatten einen ruhigen Ausdruck auf
ihren Gesichter. Als sie Frau Lu sahen, nickten sie ihr freundlich
zu und
begrüßten sie.
In einem kleinen Anbau des gemeinsamen Speisesaals aß An Zhe das Abendessen des zweiundzwanzigsten Stocks. Es bestand aus gesüßter Milch, einem halben Brathähnchen und einer Schüssel mit Gemüse- und Maissuppe. Nach dem Essen sagte Frau Lu: „Du solltest deinen Freund jetzt wegschicken.“
Lily flehte: „Lass ihn bitte noch eine Weile bleiben.“
Die gnädige Frau gab ihrer Bitte nach und sagte: „Dann lass uns gemeinsam die Blumen gießen.“
So ging Lily, An Zhe an der Hand haltend, durch die schneeweiße Haupthalle und sie kamen in einen runden Raum an einem anderen Ort. An Zhe sah mit einem Blick das üppige Rot und Grün des Raumes. In die Mitte des Raumes war ein mehrere Quadratmeter großes Blumenbeet gebaut worden, in dem tiefrote Rosen üppig blühten.
„Mein Geliebter brachte mir immer Samen aus der Wildnis mit“, sagte Frau Lu zu An Zhe, „Später tat das auch Lu Feng. Ich erinnere mich, dass du an diesem Tag mit ihm zusammen warst.“
An Zhe nickte.
„Er ist sehr selten bereit, sich anderen zu nähern“, Frau Lu hob die silberne Gießkanne, die auf einem Blumenständer stand, hoch. Genau in diesem Moment blitzte plötzlich etwas in An Zhes Blickfeld auf, und er drehte unbewusst den Kopf - es war der Fernsehbildschirm in diesem Zimmer.
Niemand hatte auf die Fernbedienung gedrückt; er hatte sich automatisch eingeschaltet.
„Es folgen wichtige Nachrichten von der Katastrophen- schutzbehörde“, das Tempo, in dem der Ansager sprach, war viel schneller als sonst. Zur gleichen Zeit erschien ein Foto von An Zhe auf dem Bildschirm: „Es ist wichtig, dass dieser Verdächtige verhaftet wird. Wenn es irgendwelche Zeugen gibt, geben Sie bitte sofort Auskunft über seinen Aufenthaltsort.“
An Zhes Körper spannte sich leicht an. Die einstündige Ruhe von vorhin schien nun nur noch wie eine Illusion gewesen zu sein; für ihn war diese Welt immer noch auf Schritt und Tritt voller Gefahren. Er schaute Frau Lu an. Aber er hörte, wie Frau Lu leise sagte: „Hab keine Angst.“
Die Handlungen von Frau Lu lagen immer außerhalb der Erwartungen von An Zhe. Bislang hatte er gedacht, die Dame sei eine entschiedene Verfechterin der Regeln der Basis, aber jetzt sah es so aus, als wäre das nicht der Fall.
„Sie...“
„Ich werde dir nicht zur Flucht verhelfen, aber ich werde dich vorerst auch nicht ausliefern“, Frau Lu lächelte.
An Zhe fragte sie: „Warum?“
„Sie haben immer viele Gründe, eine Person zu verhaften“, der Blick von Frau Lu wandte sich von dem Bildschirm ab. Sie neigte den Kopf und bewässerte ihre Rosensträucher. Ein kristalliner Wassertropfen kullerte am Rande eines purpurroten Blütenblattes entlang, ehe er von den dunkelgrünen Blättern herabfiel und in die Erde versickerte.
„Zum Beispiel: Vor vierzig Jahren haben sie meine Mutter verhaftet.“
An Zhe wusste nicht, was sie sagen wollte, aber sie schien unbedingt eine Geschichte erzählen zu wollen. Er war schon vielen Menschen begegnet, die ihm alle eine Geschichte erzählen wollten, als läge im Herzen jedes Einzelnen eine Vergangenheit verborgen, auf die sie in seiner Gegenwart zurückblickten.
Also sagte er nichts und hörte nur schweigend zu. Der Duft der Rosen umgab sie, und Lily pflückte eine. Sie schälte die Blütenblätter vom Kelch ab, hielt sie in ihrer Handfläche und warf sie dann in die Luft. Genau wie ein Regenschauer fielen die Blütenblätter herab und landeten auf ihrem Haar und ihrem Körper. Ein Blütenblatt landete auf den Haarspitzen von Frau Lu. „Die 23.371 Frauen der vier menschlichen Basen haben das folgende Manifest mit null Ablehnungsstimmen angenommen: Ich bin bereit, mich dem Schicksal der Menschheit zu widmen, indem ich genetische Experimente und alle Formen der assistierten Reproduktion akzeptiere, um mein ganzes Leben lang für den Fortbestand der menschlichen Rasse zu sorgen.“
Mit sehr sanfter Stimme wiederholte Frau Lu das Rosenmanifest, das An Zhe einst aus Lilys Mund gehört hatte, aber im Vergleich zur klaren und lebhaften Stimme des kleinen Mädchens, wirkte ihr Ton um einiges düsterer.
„Aus diesem Manifest wurde ein Satz gestrichen, eine Voraussetzung“, sprach Frau Lu weiter, „Unter der Voraussetzung, dass ich grundlegende Menschenrechte habe, akzeptiere ich genetische Experimente und alle Formen der assistierten Reproduktion. Außerdem haben diejenigen, die das Manifest initiiert haben, auch eine Vereinbarung mit der Basis getroffen, dass die Frauen die Frauen verwalten.“
Ihr Finger berührten die weichen Ränder der Rosen: „Aber das war etwas von vor fast siebzig Jahren. Damals schien es, als gäbe es noch Hoffnung, um alles für alles zu geben. Das Schicksal der Menschheit lag in unserer Hand. Solange wir durchhielten, würde es besser werden... Wäre ich eine der dreiundzwanzigtausend Frauen von damals, dann hätte ich ohne das geringste Zögern auch zugestimmt. Alle bringen Opfer, also bin ich bereit, mein Bestes für die Interessen der Menschen zu geben.“
Sie holte kurz Luft und berichtete dann weiter: „Damals war die Technik der In-vitro-Züchtung von Embryonen noch nicht ausgereift, so dass die Kinder mindestens sieben Monate im Körper der Mutter bleiben mussten. Doch die Basis hoffte, dass die Ruhezeit im Mutterleib zur Vermehrung der Bevölkerung fünfzehn Tage nicht überschreiten würde“, Frau Lu neigte ihren Kopf zurück und blickte an die stahlfarbene Decke, „Die Aufgabe der Geburt war übermäßig schwer. Ihr ganzer Lebensstil wurde zerstört, und ihr Leben ebbte auch ab. Sie hatten gehofft, dass die Basis die Auflagen lockern würde, aber niemand stimmte zu. Für die Frauen, die das Rosenmanifest freiwillig unterschrieben hatten, und alle Mädchen, die seither geboren wurden, war es eine Selbstverständlichkeit, sich diesem Manifest zu widmen - außerdem war unser Bedarf an Menschen zu groß. Der Leuchtturm und das Militär dachten so, die meisten Menschen in der Hauptstadt und der Äußeren Stadt dachten so, und sogar die Frauen dachten so.“
In ihrem Tonfall lag eine Sanftheit, die in der Lage zu sein schien emotionale Resonanz hervorzurufen. Während An Zhe schweigend zuhörte, sah er auch Lily ruhig am Rande des Blumenbeetes sitzen.
„Um für den Schutz der grundlegenden
Menschenrechte zu kämpfen, gründeten sie eine Protestbewegung. Das
war vor vierzig Jahren und meine Mutter war Teil
dieser
Protestbewegung - sie war wohl auch eine der ersten
Initiatorinnen des Rosenmanifests“, Frau Lu lächelte, „Aber all
die Bilder und schriftlichen Unterlagen wurden vernichtet. Damals
war ich noch zu jung, deshalb kann ich mich nicht an viel erinnern.
Ich kann mich nur daran erinnern, dass eines Nachts die Soldaten
des Zentrums der Vereinigten Front in unser Haus einbrachen. Sie
sperrte mich in meinem Zimmer ein und dann fiel ein Schuss... Ich sah
Blut unter der Tür in mein Zimmer fließen. Und danach wurde ich
in den Garten Eden geschickt.“
Erneute Stille, dann... „Sie hatten schließlich entdeckt, dass die Kontrolle über die reproduktiven Ressourcen selbst die effektivste Methode war, also strichen sie diesen Satz aus dem Manifest. Als eine neue Generation von Mädchen herangewachsen war, wuchsen sie mit den Lehren aus dem Garten Eden auf und lernten ihre Pflicht von klein auf auswendig und erhielten keine andere Erziehung. Auf diese Weise brauchte sich die Basis keine Sorgen über den Rückgang der Geburtenrate zu machen, und kein Mädchen würde den Schmerz empfinden, seine Menschenrechte zu verlieren wegen der unaufhörlichen Geburten.“
Sie blickte auf die umliegenden Mauern, aber es war, als würde sie durch die Mauern hindurch auf die gesamte menschliche Basis sehen: „Ich fühle Schmerz deswegen, aber ich weiß auch, dass mein Schmerz nur ein unbedeutender Teil davon ist. An diesem Ort sterben Menschen in jeder einzelnen Sekunde. In diesem Zeitalter ist der einzige Weg für die Menschen zu überleben sich selbst in eine aggregierte Kreatur zu verwandeln. Menschen mit unterschiedlichen Aufgaben sind die verschiedenen Organe dieser Kreatur. Der Leuchtturm ist das Gehirn, das Militär sind die Klauen und Reißzähne, die Menschen in der Äußeren Stadt sind das Fleisch und Blut, die Gebäude und Stadtmauern sind die Haut, und der Garten Eden ist die Gebärmutter.“
An Zhe sah sie an. Sie schien seinen Blick zu verstehen und sagte: „Ich habe mich nie über diesen Ort geärgert.“
Sie beugte sich vor und hob Lily hoch, die ihren Kopf an ihrer Schulter vergrub.
„Ich bin nur oft über eine Sache verwirrt“, sagte sie, während sie sanft über Lilys Haar mit ihren Fingern streichelte, „Wir widerstehen Monstern und Xenogenics und der Verunreinigung menschlicher Gene durch fremde Gene, um den Willen zu bewahren, der den Menschen eigen ist, und um zu vermeiden, dass wir von der tierischen Natur beherrscht werden... Aber um dieses Ziel zu erreichen, laufen alle unsere Handlungen gegen die Normen der menschlichen Natur. Und die Gemeinschaft, die wir kollektiv bilden - alles, was sie tut, wie zum Beispiel Ressourcen beschaffen, sich stärken und Nachkommen zu produzieren - kann nur die Natur der Tiere verkörpern. In der Tat, unterscheiden sich die Menschen nicht von den Monstern der Außenwelt. Es ist nur so, dass Aufgrund der Flexibilität des Gehirns sie ihren verschiedenen Handlungen selbsttäuschende Bedeutungen geben. Der Mensch ist nur eine Art von gewöhnlichem Tier. Sie werden geboren wie alle anderen Lebewesen, und sie stehen auch an der Schwelle zum Aussterben wie alles andere Leben.“
Die Augen von Frau Lu hatten einen toten Blick: „Die Kultur und Technologie der Menschheit sind beide nahezu wertlos.“
Ohne etwas weiteres zu sagen, hob sie
den Kopf und starrte lange an die Decke. An Zhe sah, dass ihre
Handfläche auf einem dunkelfarbigen Knopf ruhte - und dann drehte
sie ihn vorsichtig.
Die Metallplatten an der Decke, die vor
Strahlung schützten, öffneten sich geräuschvoll. Dies war das
oberste Stockwerk des Gartens Eden und außerhalb des Glases war nur
das grenzenlose Licht des Himmels. Die Nacht war die Zeit, in der die
Sonnenwinde vorübergehend aufhörten, so dass die stille Dämmerung
und die Milchstraße zusammen sichtbar wurden. An Zhe murmelte:
„Es wird ein Tag kommen, an dem es besser wird.“
Vielleicht würde wirklich ein Tag kommen, an dem die Schiedsrichter ihre Mitbürger nicht mehr töten mussten, Soldaten sich nicht in der Wildnis zu opfern brauchten und die Mädchen aus dem Garten Eden ihre Freiheit wiedererlangten.
„Nein, das wird es nicht“, sagte Frau Lu, „Die Zeit, in der diese Welt völlig ruiniert werden wird, steht vor der Tür.“
Sie wandte sich an das kleine Mädchen in ihren Armen: „Lily, möchtest du fliegen?“
Als An Zhe ihr sanftes Profil betrachtete und diesen Satz hörte, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er hörte, wie Lily mit klarer Stimme fragte, während sie den Hals von Frau Lu umarmte: „Darf ich? So wie Si Nan?“
„Ja, du darfst.“
In diesem Moment verstand An Zhe endlich Si Nans Absicht, Lily in den Garten Eden zurückkehren zu lassen. Es war das genaue Gegenteil von dem, was sie vorher vermutet hatten. Die Rückkehr in den Garten Eden geschah keineswegs, weil der Ort sicher war.
Lily hob ihren Kopf von Frau Lus Schulter und schaute An Zhe mit diesen tiefschwarzen Augen an. In ihren Augen war schon immer ein eigenartiger trüber Glanz gewesen, der An Zhe an die Kreaturen im Abgrund erinnerte.
Tatsächlich hatte jede einzelne Frau und jedes Mädchen im zweiundzwanzigsten Stockwerk diese Art von unschuldigem Auftreten. Wenn ein Richter hier wäre, würde er vielleicht schlussfolgern, dass sie keine echten Menschen waren. Wenn ein Mensch von Geburt an im Garten Eden bleiben und ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr verlassen könnte, würde sich diese Person definitiv von den Menschen draußen unterscheiden. An Zhe spürte einen plötzlichen leichten Schmerz in seinem Kopf, denn wieder tauchte diese Welle in seinen Gedanken auf, aber sie war weit entfernt von der Unermesslichkeit und dem Schrecken, den er in dieser späten Nacht verspürte. Sie war viel konkreter und viel näher, als wäre die Quelle direkt an seiner Seite.
Als er Frau Lu beobachtete, änderte sich das Licht, und er sah in den Augen der Frau die Andeutung eines illusorischen Regenbogens.
„Du...“, An Zhe trat ein paar Schritte zurück.
Hinter ihm ertönte die rote Alarmglocke, mit der jedes Zimmer ausgestattet war.
„Du willst kein Mensch mehr sein?“
Frau Lu sah ihn ausdruckslos an, und eine einzelne Träne kullerte von den Rändern ihrer Augen.
„Es gibt keine Hoffnung mehr für die Menschheit“, sagte sie.
An Zhe erwiderte: „Wenn Lu Feng zurückkehrt...“
Bevor er zu Ende gesprochen hatte, begann Frau Lu plötzlich zu lachen. Zur gleichen Zeit liefen ihr unaufhörlich die Tränen und ihr ganzer Körper zitterte wie ein Blatt im Herbstwind. Sie bedeckte ihren Mund mit ihrer rechten Hand und stieß nur ein paar gebrochene Wörter aus: „Die Menschheit... hat meinen Kindern und mir zu viel Leid zugefügt.“
An Zhe hörte sie endlich unter dem Lachen sprechen. Vielleicht empfand sie zärtliche Zuneigung zu Lu Feng, aber im nächsten Moment wurde Frau Lus Stimme erschreckend heiser: „Lu Feng... Er ist beständiger als ich. Er ist genau wie diese Basis, fähig, alles für die Interessen der Menschheit zu opfern, aber er wird niemals bekommen, was er will.“
Die Frau streckte die Hand aus und zerdrückte eine leuchtend rote Rose. Der Dorn stach sie in die Hand, aber der Schmerz ließ ihre Stimme ruhiger werden: „Alles, was er schützen will, wird zerstört werden. Seine Überzeugungen sind wie Luftschlösser und er wird einen jämmerlichen Tod sterben. Ich bedaure nur, dass ich nicht in der Lage sein werde, den Tag, an dem er wahnsinnig wird, und den Tag, an dem diese Basis dem Untergang geweiht sein wird, persönlich miterleben zu können.“
Die verzweifelten und traurigen Gefühle, die sich in dieser Stimme verbargen ließen An Zhe seine Augen weit aufreißen. Er hatte keine Ahnung, was geschehen war, und daher schaute er sie ungläubig an. Die Rosenblätter glitten aus Frau Lus Hand, und ihre Stimme wurde leiser: „Was ich möchte, ist, diesen Ort zu verlassen. Zu welchem Zweck bist du zur menschlichen Basis gekommen und hast dich an seine Seite gestellt, kleiner Xenogenic?“
An Zhe sah sie an, unfähig, etwas zu sagen.
Aber es schien, dass Frau Lu nicht unbedingt seine Antwort hören wollte. Ihr Hals verlängerte sich und ihr ganzer Körper veränderte sich, streckte und krümmte sich in einem seltsamen Bogen, dann schwoll er an und dehnte sich aus. Braune und tiefschwarze Linien erschienen auf ihr. Ihr Körper wurde zu einer ovalen Puppe, ihre Arme wurden zu den schlanken Gliedern eines Gliederfüßlers und zwei Paar durchsichtige Flügel zerrissen das reinweiße Kleid, als sie aus ihrem Rücken hervortraten.
Innerhalb einer knappen Minute hatte sie sich in ein Monster verwandelt, das halb Mensch und halb Biene war. Diese seltsame Welle wurde noch heftiger, aber sie umhüllte einfach Lily. Innerhalb dieser Welle machte Lilys Körper die gleichen Veränderungen durch.
„Es ist fast so weit. Die Gene der Menschen sind zu schwach, so dass sie nicht in der Lage sind, die aktuellen Veränderungen in der Welt wahrzunehmen, und sie sind auch nicht in der Lage, Mutation und Selektion zu ertragen. Aber andere Organismen sind auch nicht unbedingt stark“, murmelte sie, „Wir werden alle sterben. Ich hasse nicht die Menschen. Ich arbeite seit fünfunddreißig Jahren für die Basis, habe viele Schmerzen von Frauen gelindert und die Zahl der Neugeborenen auf der Basis jedes Jahr gesteigert“, sie lächelte, „Aber angesichts dieses Unglücks war alle Arbeit umsonst. Es beweist nur die Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht der Menschheit. Ich möchte lediglich Dinge erleben, die ich in diesem letzten friedlichen Zeitalter noch nie erfahren habe.“
Ihre Vorderflügel schimmerten im Mondlicht. Der Körper der Bienenkönigin war riesig, schlank und wunderschön.
Lilys Verwandlung war vor der ihren abgeschlossen. Sie hatte sich bereits in eine kleinere Biene verwandelt und flitzte um Frau Lu herum. Die Art, wie sie flog war so geschickt, dass sie angeboren zu sein schien. An Zhe konnte bei dieser Biene nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Menschen finden. Als An Zhe Frau Lu ansah, sah er, wie sie die Stirn leicht runzelte und auf ihrem ruhigen Gesicht lag ein etwas schmerzlicher Ausdruck, aber dann veränderte sich ihr Kopf in unbeschreiblicher Weise.
Schillernde Facettenaugen wölbten sich, Fühler schossen hervor, und die menschlichen Knochen verdrehten sich und verwandelten sich in hartes, honigfarbenes Chitin. Die Größe und Schönheit dieses Wesens übertraf bei weitem alle anderen Monster der Insektenklasse, die An Zhe bisher gesehen hatte.
In diesem sechseckigen Bienenstock war sie wie eine wahre Bienenkönigin.
Ein Rascheln ertönte, das Geräusch von vibrierenden Flügeln. Wie fließende weiße Gaze, schüttelten sich die durchsichtigen Insektenflügel ein paar Mal, dann begannen sie zu vibrieren. Ihr Körper setzte sich in Bewegung und stieg langsam in Richtung der Kuppel, um dann abrupt zu beschleunigen, als sie diese fast erreicht hatte!
Mit einem dramatischen Schaudern erschienen spinnwebenartige Risse in der massiven Glaskuppel. An Zhe spürte, dass das Material der Kuppel sehr stabil sein musste, aber beim zweiten und dritten Aufprall gab es einen Knall und unzählige winzige Glassplitter flogen herunter. Sie landeten auf dem Boden und in den Rosenblättern, wo sie wie Tautropfen aussahen. Der Alarm wurde ausgelöst. Der ganze Raum leuchtete rot auf, und das Geräusch des Alarms war ohrenbetäubend. Zahlreiche Schritte waren zu hören, als Mitarbeiter in weißen Hemden eintraten, aber als sie die Szene vor sich sahen waren sie alle fassungslos.
Ein riesiges Loch war durch die Einschläge entstanden. Die Biene, in die sich Lily verwandelt hatte, flog heraus, schwebte nach oben und ihre Gestalt verschwand schnell in der grenzenlosen Nacht. Die Bienenkönigin war etwas langsamer. Als sie oben auf der Kuppel stand, drehte sich ihr Kopf und sie blickte nach unten. Vielleicht hegte sie immer noch eine Vorliebe für diesen Ort. Dann drehte sie sich langsam um, und ihre Flügel zuckten, als hätte sie beschlossen, nach oben zu fliegen.
Doch genau im nächsten Moment hörte das Vibrieren ihrer Flügel auf und es herrschte eine tödliche Stille. Die stillen Flügel waren wie eine unheilvolle Ruhe in einem Musikstück. In das Mondlicht getaucht, machte die massige Bienenkönigin unerwartet eine langsame Drehung, und ein Paar goldener Facettenaugen blickten direkt nach unten, auf An Zhe - und den gesamten Garten Eden.
Das rechte Vorderbein der Bienenkönigin stieß vor - die Spitze ihrer Klaue war von einem kalten und scharfen silbernen Licht. Diese Krallenspitze wurde allmählich immer größer, und ein ganzes Paar Vorderbeine trat wieder durch das Loch in der Kuppel zurück in den Raum ein, gefolgt von dem massiven Kopf.
In An Zhes Herz stellte sich plötzlich ein Gefühl der Fremdheit ein. Diese Bewegung war zu seltsam. Frau Lu, die beschlossen hatte, diesen Ort zu verlassen, um die Freiheit zu erlangen, würde nicht wiederkommen, es sei denn, diejenige, die diese Bienenkönigin kontrollierte, war nicht mehr länger Frau Lu. Und es sei denn, das instinktive Bewusstsein des Monsters hatte den menschlichen Verstand vorhersehbar und leicht übernommen. Was würde ein perfektes Xenogenic tun, wenn es im Garten Eden einer Gruppe von Menschen gegenüberstand?
All dies geschah in nur wenigen Sekunden. Als An Zhe auf die wie angewurzelt dastehenden Mitarbeiter blickte, sagte er mit heiserer Stimme: „Beeilt euch und verschwindet!“
Doch schon in der nächsten Sekunde, nachdem er zu Ende gesprochen hatte, hob die Bienenkönigin ihren Kopf. Eine Welle, die an Kraft kaum zu überbieten und schwer zu beschreiben war, mit der Bienenkönigin als Zentrum, rollte auf alle Anwesenden zu!
Ein heftiger Schmerz schoss durch An Zhes Kopf, und einige verschwommene Bilder entfalteten sich vor seinem inneren Auge. Vor An Zes Tod, als An Zhe das gesamte Blut und Gewebe seines Körpers absorbierte hatte, erschienen An Zes Erinnerungen wie eine Reihe von Bildern in seinem Kopf.
In der Äußeren Stadt, am Tag der Ankunft der Insektenschwärme, hatte ein Käfer in seinen Finger gebissen. Als er in jener Nacht träumte, hatte er auch gesehen, was das Insekt gesehen hatte, als es durch die Wildnis geflogen war.
In diesem Moment, während er all die Bruchstücke der chaotischen Erinnerungen einer Biene vor seinen Augen sah, erkannte An Zhe, was vor sich ging:
Die Bienenkönigin führte eine kontaktlose Infektion durch!
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