Kapitel 27 ~ "Die Beziehung zwischen euch beiden ist sehr kompliziert."

 

27.

"DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN EUCH BEIDEN IST SEHR
KOMPLIZIERT."


'AUCH WENN ES FALSCH IST, SO IST ES DOCH RICHTIG.'

An den Wänden des Korridors, der die Arbeitshalle des Gerichts und den Trainingsbereich verband, stand auf der einen Seite 'Die Interessen der Menschen haben Vorrang vor allem anderen', während auf der anderen Seite dieser Satz geschrieben stand.

Unter dem Satz befanden sich eine Reihe von silbernen Bilderrahmen. Der erste Bilderrahmen war leer, aber der darauffolgende zweite Bilderrahmen enthielt ein Schwarz-Weiß-Foto, das einen etwa dreißigjährigen Offizier mit hübschen und symmetrischen Gesichtszügen zeigte. Er trug die Uniform des Schiedsrichters und die Daten seiner Geburt und seines Todes waren an der Wand unterhalb des Bilderrahmens eingraviert. Er starb vor sieben Jahren im Alter von sechsunddreißig Jahren.

Im nächsten Bilderrahmen befand sich ebenfalls ein Schwarz-Weiß-Foto mit Geburts- und Sterbedaten. An Zhe ging weiter und das nächste Foto und die Geburts- und Todesdaten waren ähnlich. Die Jahre, in denen sie lebten, gingen allmählich in der Zeit zurück. An Zhe wusste also, dass dies Fotos waren, die zum Gedenken an die aufeinanderfolgenden Schiedsrichter waren.

Somit war der Rahmen ganz am Ende zweifellos für Lu Feng gedacht. Bei diesem Gedanken verlangsamte sich An Zhes Tempo leicht, und ein unbeschreibliches Gewicht drückte auf sein Herz. Wenn es möglich war, so hoffte er, dass Lu Fengs Foto nicht so schnell aufgehängt werden würde - so wie er an diesem Abend, in dem Moment, als Lu Feng das Flugzeug bestiegen hatte, gehofft hatte, dass diese Person hier an einem sicheren Ort bleiben würde.

Aber Lu Feng hatte seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Er folgte Seraing und ging weiter vorwärts, und am Ende der Fotogalerie bot sich ihm ein seltsames Schauspiel.

An der hellgrauen Wand befand sich eine rechteckige Fläche, die weißer war und die gleiche Größe wie ein Bilderrahmen hatte. An den vier Ecken waren Nagellöcher in der weißen Fläche. Es sah aus, als ob an dieser Stelle auch einmal ein Bilderrahmen gehangen hätte, aber das dieser dann abgenommen worden war. Und darunter war die Stelle, auf der ursprünglich der Name mit den Geburts- und Sterbedaten eingraviert war, ebenfalls abgekratzt worden, so dass nur ein paar gesprenkelte Spuren zurückgeblieben waren. An Zhe versuchte, sie zu entziffern, aber er konnte nur erkennen, dass es sich um eine Buchstabenfolge handelte, die mit einem großen 'P' begann.

Als Seraing sah, dass er hier stehen geblieben war, erklärte er: „Es heißt, dass dies der erste Schiedsrichter war und derjenige, der den 'Kodex des Schiedsrichters' vorgeschlagen und das Gerichts-System eingeführt hat.“

An Zhe fragte: „Wurde sein Foto abgehängt?“

Mm-hm“, erwiderte Seraing, „Am Ende stellte er die Rationalität des Schiedsrichter-Systems in Frage und verriet die Basis.“

An Zhe nickte. Der menschliche Verstand war schwer zu durchschauen. Er erkundigte sich nicht weiter.

Seraing brachte ihn in einem Pausenraum unter. Das geo-magnetische Feld war verschwunden, und alles war chaotisch geworden.

Die Logistikabteilung und die Abteilung für Notfallmaßnahmen waren vermutlich in großer Aufruhr, und die anderen Bewohner der Basis waren in Panik geraten und konnten nun nur noch schlafen und auf die bevorstehenden Schutzmaßnahmen des Militärs warten.

Im Obergeschoss waren zahlreiche Schritte zu hören. Im Raum nebenan nahm Seraing mit jemandem Kontakt auf, anscheinend, um die Aufgaben des Prozessgerichts neu zu verteilen.

In dem stockdunklen Raum war die Außenwelt nicht zu sehen.

An Zhe konnte nur seinen eigenen Herzschlag hören. Seltsam, als ob er ein Gefühl der Vorhersicht hätte, hob er den Kopf und blickte in die Tiefe der Dunkelheit. Dieses Gefühl war schwer zu beschreiben - er schien eine gewaltige Welle gespürt zu haben. Er, Seraing, jeder, die gesamte menschliche Basis, zusammen mit allen auf dieser Welt waren nur triviale Teile dieser unbeschreiblichen Welle, die bebte und sich in ihrem Sog veränderte und winzige Wellen erzeugte. Im Lehrbuch der Sprösslinge stand ein Spruch, der 'der Strom des Schicksals' genannt wurde, und er fand es sehr treffend. Der einzige Teil, der nicht passte, war, dass die Welle auf der ganzen Welt zu existieren schien und keine leere Metapher oder Einbildung war.

Genau in diesem Moment klingelte sein Kommunikator. Es war ein Anruf des Arztes. Der Arzt fragte ihn: „Lu Feng ist also abgehauen. Und wo steckst du?“

An Zhe sagte es ihm wahrheitsgemäß.

Solange du in Sicherheit bist“, sagte der Arzt, „Ich habe gerade die Notfallsitzung des Leuchtturms beendet, also werde ich jetzt zurück ins Labor gehen, um mich eine Nacht lang auszuruhen. Schlaf du auch gut.“

Okay“, erwiderte An Zhe.

Der Arzt schien eine Treppe zu erklimmen. Erst nachdem eine Weile vergangen war, sagte er: „Ich habe über Si Nans Verhalten heute Morgen nachgedacht. Er hat Lily gewarnt, sie solle in den Garten Eden zurückgehen. Könnte es sein, dass er das Verschwinden des Magnetfeldes vorausgesagt hat? Verschiedene Arten haben verschiedene Sinnesorgane, und einige Organismen reagieren empfindlich auf Magnetfelder.“

An Zhe sagte: „Vielleicht“, nach einigem Nachdenken sagte er, „Aber es ist so weit weg.“

Natürlich wusste er, dass jede einzelne Spezies anders war. Im Abgrund hatten einige Monster ein extrem scharfes Gehör, und einige konnten den Geruch von Beute aus wirklich sehr weiter Entfernung wahrnehmen.

Aber wenn man sagen würde, dass Si Nan die Invasion der Unterirdischen Stadtbasis auf der anderen Seite des Globus von der Nördlichen Basis aus vorhersagen konnte, würde das etwas unvernünftig klingen, denn die Xenogenics hatten keine Langwellen-Kommunikationstechnologie.

Der Doktor antwortete ihm nicht. Von der anderen Seite kamen nur unregelmäßige Atemzüge, und An Zhe dachte, dass er vielleicht gerade ging. Aber drei Minuten später reagierte der Arzt immer noch nicht. Man hörte nur das Geräusch seiner sich beschleunigenden Atemzüge. Mit diesem Geräusch im Ohr fühlte An Zhe in der Dunkelheit ein unerklärliches Unbehagen.

Doktor?“, rief An Zhe.

Immer noch keine Antwort.

Er runzelte die Stirn. Genau in diesem Moment hörte er den Arzt am anderen Ende sagen: „Hol Seraing.“

An Zhe verließ schnell den Pausenraum. Seraing nahm den Kommunikator entgegen, und nachdem er: „Doktor“, gerufen hatte, runzelte er die Stirn und sagte schnell, „Ich bin gleich da.“

Dann hob er sofort die Waffe vom Tisch auf, rief ein paar Männer und ging hinaus!

An Zhe warf einen Blick in die Richtung, in die er gelaufen war und beschloss, ihm zu folgen. Aber ihr Tempo war zu schnell und sein eigenes Tempo war zu langsam, um die Treppe zu erklimmen, und so blieb er einen Schritt zurück.

Als er im Korridor ankam, in dem sich das Labor des Arztes befand, hörte er einen Schuss aus der Tiefe des Ganges, unmittelbar gefolgt von dem Geräusch eines zu Boden fallenden Körpers.

Der Arzt stand in der Mitte des Korridors und An Zhe ging zu ihm hinüber.

Ich... ich sah schon von weitem, dass seine Körperhaltung nicht ganz richtig war“, der Arzt schnappte nach Luft, seine Pupillen waren geweitet und sein Gesicht war blass. Es war das Bild von jemandem, der schwer unter Schock stand. An Zhe schaute nach vorne und sah, wie Seraing seine Waffe weglegte. Die Person, die zu Boden gefallen war, war der Assistent des Arztes.

Gerade erst heute Nachmittag hatte er noch mit dem Arzt zusammengearbeitet und ihm geholfen, die Aufnahmen von Si Nan zum wiederholten Male zu überprüfen.

Seraing sagte zu dem Arzt: „Infektion bestätigt. War er einem Experiment ausgesetzt?“

Infektion?

An Zhe dachte sofort an die einzige Infektionsquelle an diesem Ort, Si Nan.

Unmöglich“, sagte der Arzt, „Er hatte nicht die Befugnis, die Glasabdeckung zu öffnen, also konnte er nicht in Kontakt mit dem Xenogenic kommen.“

Seraing erwiderte: „Ich werde hineingehen und nachsehen.“

Tun Sie das nicht“, der Arzt erhob abrupt seine Stimme, „Gehen Sie nicht da rein!“

Seraing blieb stehen und sah den Arzt an.

Wissen Sie noch, wie ich einmal sagte, dass es irgendwann mal einen Tag gäbe, an dem wir nicht mehr mit Xenogenics in Kontakt kommen müssten, um infiziert zu werden?“, die Stimme des Arztes zitterte, „Das ist zu abnormal... Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten.“

Seraing runzelte die Stirn: „Wie wollen Sie Ihre Ansicht beweisen?“

Es gibt keine Möglichkeit, sie zu beweisen“, der Arzt schüttelte den Kopf, „Sie wissen aber auch, dass nach der Injektion der Zellflüssigkeit eines Monsters in den Schwanz eines Versuchstieres gleichzeitig genetische Veränderungen im Kopf des Tieres beobachtet werden können. Diese Zellflüssigkeit hat noch nicht an der Zirkulation der Körperflüssigkeit teilgenommen, doch die Gene im gesamten Körper des Tieres haben sich dann bereits schon verändert. Da selbst so etwas möglich ist, warum kann eine Infektion dann nicht auch ohne Kontakt mit einem Monster passieren?“

Bei diesen Worten durchlief ihn ein Schauer.

Seraing“, sagte er mit völlig heiserer Stimme, „Eine Etage unter uns sind alle lebenden xenogenen Proben, und es sind mindestens
hundert Mitarbeiter dort.“

Seraings Gesichtsausdruck wurde schwer: „Ich gehe sofort runter!“

Schützen Sie sich“, sagte der Arzt, „Innerhalb der effektiven
Reichweite ist es ratsam, je weiter Sie sich von allen Lebewesen dort fernhalten, desto besser.“

Er sagte nicht Xenogenics, auch nicht Menschen, sondern 'Lebewesen'.

Seraing nickte. Mit raschen Bewegungen verteilten sie sich
die Treppe hinunter.

In dem stillen Korridor blieben nur An Zhe und der Arzt zurück. Der Arzt schien seine Kräfte verloren zu haben und lehnte sich an die eiskalte Wand, und An Zhe stützte ihn. Nach einer Weile des Schweigens sprach der Arzt plötzlich: „Hast du denn gar keine Angst?“

Er schüttelte den Kopf.

Der Arzt schaute ihn an: „An dir scheint mir eine Art von... etwas zu sein, das Menschen dieser Zeit nicht haben.“

An Zhe sagte nichts und hörte ihm ruhig zu.

Sein Blick verweilte lange auf An Zhe, dann holte er leise Luft, die Lippen zitterten leicht, als hätte er eine außergewöhnliche Eingebung. Dann sagte er: „Du bist so unschuldig... als wärst du nur ein Zuschauer“, er holte erneut tief Luft, „Alle leben in Angst, aber du bist sehr ruhig, und hebst dich von allen anderen ab.“

Bei diesen Worten schien er zu lächeln: „Ich weiß, warum Lu Feng gerne mit dir zusammen ist.“

An Zhe sah den Arzt an. Das jugendliche Gesicht des Arztes zeigte eine leichte Abgebrühtheit. Er schien ein wenig müde zu sein. An Zhe fragte: „Gibt es etwas, womit ich Ihnen helfen kann?“

Danke“, der Arzt schaute ihm in die Augen, und am Ende seines Satzes war ein leichtes Zittern zu hören, „Bleib... einfach... sicher... am Leben, das reicht.“

An Zhe dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich werde mein Bestes tun.“

Mehr sagte er nicht. Im Korridor hallten die Worte des Arztes wider, als er mit sich selbst sprach: „Kein Körperkontakt und keine Übertragung aus der Luft. Kann so etwas wirklich passieren?“

Niemand antwortete ihm.

Doch von unten kam ein deutlicher Schuss.

Dann gab es ein zweites Geräusch.

Ein drittes Geräusch.

Die Geräusche hörten nicht auf und hallten noch lange Zeit in
dem Gebäude nach.

Infolge eines Schusses nach dem anderen wurde der theoretische
Rahmen, mit dem die Menschen sich bislang die Welt erklärten, für nichtig erklärt.

Die Hand des Arztes umklammerte den Arm von An Zhe, und seine Finger zitterten: „... Warum?“





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Die Schüsse hörten auf, und ein paar versprengte Leute gingen die Treppe hinauf, mit Seraing an der Spitze.

Das sind die, die nicht infiziert wurden?“

Seraing antwortete: „Ja.“

An Zhe hörte, wie der Arzt die Überlebenden nach ihrem heutigen Aufenthaltsort befragte. Es gab keine Probleme mit dem Essen, Trinken oder Atmen, denn alles wurde gleichmäßig vom Leuchtturm aus versorgt. Sogar die Luft war für alle gleich und wurde durch das Belüftungssystem in die Räume eingespeist. Wenn es ein Problem mit einem dieser drei Dinge gegeben hätte, dann würde der gesamte Leuchtturm zusammenbrechen.

Aber sie hatten alle eines gemeinsam. Während dieser Zeitspanne seit dem Verschwinden des Magnetfelds hatte keiner von ihnen im engen Kontakt mit den xenogenen Proben gestanden. Einige waren die ganze Zeit über in ihrem Büro gewesen und hatten Akten sortiert, während einige in andere Stockwerke gegangen waren, um dort an Sitzungen teilzunehmen und um anschließend zurückzukehren - wie Doktor Ji selbst.

Und die Mitarbeiter, die infiziert worden waren, hatten auch eines gemeinsam. Sie waren allesamt Personen gewesen, die engen Kontakt mit xenogenen Proben hatten - obwohl diese Art von Kontakt nicht unbedingt ein echter Kontakt war, sondern eher die räumliche Nähe zu Monstern oder Xenogenics. Zum Beispiel hatte eine Assistentin eines Forschers den ganzen Nachmittag in einem kleinen Büro mit dem Schreiben von Codes und der Anpassung eines bestimmten Datenmodells verbracht, aber sie wurde dennoch als genetisch infiziert eingestuft - verdächtig war nur, dass zwei Reptilienmonster im Labor auf der anderen Seite der Wand gezüchtet wurden.

Seraing bat das Militär um Unterstützung. Denn von dem Stockwerk aus, in dem sich das xenogene Forschungszentrum befand, mussten in den drei Stockwerken darüber und darunter geschlossene Kontrollen durchgeführt werden und dem gesamten Personal wurde das Betreten oder das Verlassen dieses Areals zunächst untersagt.

Wasser, Lebensmittel und Luft können Infektionsquellen sein“, im Pausenraum des Gerichts teilten sich An Zhe und der Arzt ein Zimmer. Der Arzt redete immerzu mit sich selbst, während er immer wieder auf die gleiche Schlussfolgerung stieß: „Wenn es nur das wäre, aber das ist es einfach nicht.“

Ist es die Strahlung?“, fragte er sich dann, „Wenn jedes Monster eine Strahlung aussendet, dann war die Strahlung am Anfang sehr sehr schwach, so dass sich nur die Schwerverletzten infizieren konnten. Später trat dann die Infektion auch bei kleineren Wunden auf, weil da auch die Strahlungsstärke allmählich gestiegen war... Und nun... Solange man sich in der Nähe eines Monsters aufhält, werden die eigenen Gene durch die Strahlung in eine sofortige Veränderung gezwungen...“

An Zhe dachte, dass das, was er sagte, viel Sinn machte, aber er sah auch, wie der Arzt sein Gesicht in der Handfläche vergrub und tief einatmete; seine Haltung war die eines Mannes, der kurz vor einem Zusammenbruch stand: „Aber unsere Instrumente können es nicht aufspüren.“

An Zhe dachte, dass der Arzt kurz davor war, verrückt zu werden.

Als er sich in die Lage des Arztes versetzte, verstand er die Quelle seines Wahnsinns.

Was die Forschung - die Erforschung von Monstern - betraf, so war es nicht die komplizierte Komplexität, oder die Frage wie viele Ressourcen sie brauchten oder wie gefährlich es war, was die Forscher verzweifeln ließ, - sondern vielmehr, dass sie selbst jetzt noch nicht genau wussten, was und womit genau sie es zu tun hatten. Wie ein Mann, der im Dunkeln läuft und sogar seine letzte Krücke verloren hatte, wusste er, dass die Klippe nicht mehr weit entfernt war, aber er wusste nicht genau, wann er den Halt verlieren würde.

Er sah, wie der Arzt langsam den Kopf hob, seine blauen Augen wirkten leicht unscharf und die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Es war eine Art verzweifeltes Entsetzen und Schrecken, als ob er vor einer gewaltigen, beängstigenden und unbeschreiblichen Existenz stünde – doch vor ihm war eine leere weiße Wand. Die furchterregendste Sache der Welt war das Unbekannte.

An Zhe schenkte ihm eine Tasse Wasser ein. Der Arzt trank sie aus und zwang sich zu einem Lächeln.

Danke“, sagte er, „Ich weiß nicht, wie viele Tage die Wasservorräte des Stützpunktes noch reichen werden.“

Die Worte des Arztes waren nicht falsch. Seit der Nacht, in der die Aurora verschwunden war, wurde der gesamte Stützpunkt in den Zustand des Notfallschutzes gesetzt. Draußen waren der Sonnenwind und die Strahlung, so dass niemand die Gebäude verlassen konnte, aber die Hitze draußen drang dennoch durch die dicken Wände nach innen. Die Temperatur in den Innenräumen lag bei mindestens 30 Grad Celsius, und es gab keine Methoden
zur Temperaturkontrolle. Es war beängstigend trocken, und Elektrizität wurde nur verwendet, um die Grundausstattung zu betreiben. Jeden Tag um 8.00 Uhr morgens und um 20.00 Uhr abends verteilte die Basis regelmäßig eine Packung Kräcker oder ein Päckchen mit Nährstofftabletten zusammen mit einer Flasche Trinkwasser.

Drei Tage später wurden die Wasserflaschen nur noch morgens verteilt.

Und das waren die Zwillingstürme, der Ort, an dem sich die militärische Kommandozentrale und die wissenschaftlichen Forscher befanden.

Manchmal dachte An Zhe, wenn der Ressourcenvorrat der Zwillingstürme bereits so weit reduziert wäre, wie würde es dann wohl in den normalen Wohngebäuden draußen aussehen?

Die 1109-Kampfflugzeuge brauchen zwölf Stunden für den Flug von der Nördlichen Basis zur Unterirdischen Stadtbasis, und der Rückflug dauert ebenfalls zwölf Stunden. Einhundertzwanzig Stunden sind vergangen, und wir haben immer noch keine Nachricht erhalten“, sagte der Arzt zu ihm, während er mit Papier und Stift einige komplizierte Formeln berechnete, „Gefühlsmäßig glaube ich an Lu Feng, aber jetzt müssen wir uns auf das Schlimmste vorbereiten.“

Fünf Tage später waren auch die Ernährungstabletten verschwunden. Die Fahrstühle blieben stehen. An Zhe schlich sich leise aus dem Gerichtsgebäude, und als er die Treppe hinaufstieg, begegnete er mindestens drei Paaren, die sich in verschiedenen Ecken küssten - Vielleicht waren sie auch kein Paar, aber zumindest waren sie schwer auseinander zu bringen.



Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,

fürchte ich kein Unglück;

denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.

Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar...“



Im dreizehnten Stock ging er an einem Besprechungsraum vorbei, in dem mehr als ein Dutzend weißgekleideter Militärs und Forscher versammelt waren und laut aus der Bibel lasen.

Mindestens die Hälfte von ihnen hatte Taschentücher in die Nasenlöcher gestopft, denn die hohe Temperatur und die Trockenheit führten dazu, dass Menschen leicht Nasenbluten bekamen.

Eigentlich waren hohe Temperaturen und Trockenheit für das Überleben eines Pilzes sogar noch ungeeigneter. In diesen Tagen hatte An Zhe nicht mehr gut geschlafen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass er im Strom des Schicksals auf und ab taumelte und manchmal fühlte er sich, als würde er in der Sonne liegen, kurz davor zu einem trockenen Pilz gebacken zu werden. Es war schwer, aufzuwachen, und er war auch sehr hungrig.

Aber er konnte warten, denn es machte ihm nichts aus. Erst heute Morgen hatte der Arzt zu ihm gesagt: „Obwohl die Situation immer schlimmer wird, scheinst du immer ruhiger zu werden.“

An Zhe war in der Tat nicht verängstigt. Er war ein ruhiger Pilz. In den letzten fünf Tagen blieb er ruhig in den Zwillingstürmen und ging mit dem Arzt und Seraing ein und aus, so dass sich viele Leute an seinen Anblick gewöhnt hatten.

Er beobachtete das schwache rote Licht, das den Betriebsstatus der Überwachungskameras anzeigte und spitzte die Ohren, um jede Durchsage zu hören.

Erst gestern war dieses Licht erloschen.

Und gerade heute Morgen wurde der Doktor informiert, dass wegen unzureichender Energie alle Forschungsaktivitäten abgebrochen wurden.

An Zhe holte leise tief Luft, als er vor der Tür zum Labor D1344 stand. Es war still auf der anderen Seite der Tür, selbst die Pieptöne der Maschinen waren verstummt. Er hatte schließlich gewartet bis die Forscher gegangen waren.

Die Labortür war fest verschlossen, und auf dem Sensor am Eingang blinkte ein schwaches Licht. Er nahm Lu Fengs Ausweis heraus.



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Die Unterirdische Stadtbasis.

Oberhalb auf einem riesigen offenen Freigelände stand die obere Hälfte des künstlichen Magnetpols. Auf einem Fleck sandiger gelber Erde ähnelte er einem großen Grabstein.

Die geografische Lage dieses Ortes war ausgezeichnet, denn es gab hohe Berge auf allen Seiten, die Stürme und Überflutungen ausschlossen. In der Mitte befand sich eine flache Ebene, und die geologische Struktur war stabil und solide, ausreichend, um den Bau von unvorstellbaren unterirdischen Befestigungsanlagen zu verwirklichen. Die Fläche und das Volumen der Unterirdischen Stadtbasis waren vergleichbar mit den Metropolen aus der Zeit als die Menschheit ihren Zenit erreicht hatte.

In den Anfängen, als die vier Basen der Menschheit Gestalt annahmen, sagten einige Leute voraus, dass, wenn der Tag käme, in dem die Menschen sich nicht mehr halten könnten, dann würde die Unterirdische Stadtbasis definitiv als letzte fallen.

Aber im Moment war diese offene Ebene mit Blut bedeckt.

Blut von Monstern, von Xenogenics und von Menschen.

Auf den Blutflecken lagen abgetrennte Gliedmaßen, abgetrennte
Hände und die Überreste schwerer Waffen.

Ein schwarzes Kampfflugzeug flog über den Boden und warf mehrere riesige Bomben ab. Dumpfe Explosionen ertönten und die Monster heulten ohrenbetäubend auf, wurden aber bald von den weiteren Rauchbomben übertönt.

Das Kampfflugzeug erhöhte seine Flughöhe und kreiste stetig in der Luft. Lu Feng, der ein Walkie-Talkie in der Hand hielt, sagte: „Die Monster am Boden sind eliminiert.“

Neben ihm stand Hubbard. Der Kapitän des legendären Söldnerteams aus der Äußeren Stadt blickte auf den nahen Eingang zum Durchgang in die Unterirdische Stadtbasis und sagte: „Das da drin wird kein leichtes Unterfangen werden.“

Lu Feng schaute ebenfalls dorthin. Er sagte nichts, stimmte aber stillschweigend mit Hubbards Ansicht überein. In diesen letzten Tagen hatten er und der Kapitän das Kommando über die Luftoperationen koordiniert und ein ausreichendes still-schweigendes Einvernehmen unter ihnen beiden hergestellt - außerdem waren sie ursprünglich die Art von Leute, die am tiefsten in den Abgrund eingedrungen waren. Niemand verstand also besser als sie die Gewohnheiten und die Tödlichkeit dieser Dinger da unten.

Die Unterirdische Stadtbasis war leicht zu verteidigen und schwer anzugreifen. Sie war ein ausreichend sicheres und starkes Bollwerk und sie hatte auch den natürlichen Vorteil, dass sie gegen die Strahlung schützte.

Aber ihre Struktur hatte dadurch nicht nur Vorteile, sondern war auch für eines bestimmt: Sobald es Xenogenics gelingen würde, hier einzudringen, würde das Innere unweigerlich ein Feld des Chaos werden.

Und nun war es durchbrochen worden.

Woran es ihnen am meisten mangelt, ist Feuerkraft. Ihre Geburtenrate kann mit der unsrigen nicht mithalten und so fehlt es ihnen an Soldaten. Daher konnten sie nur ihre Ausgaben für die Rüstungsindustrie erhöhen. Aber da haben sie sich im Voraus übernommen und nun haben sie keine Möglichkeit, sich wirksam zu verteidigen“, Hubbards falkenartige Augen verengten sich leicht, „Wir haben genug mitgebracht und sind pünktlich angekommen, also sollten wir eine gute Chance haben, zu gewinnen.“

Genau in diesem Moment ertönte eine Stimme aus dem Walkie-Talkie: „Die Unterirdische Stadtbasis dankt Ihnen für Ihre großzügige Unterstützung“, die Stimme des Sprechers zitterte, „Allerdings müssen wir unsere Mitmenschen von der Nördlichen Basis darüber informieren, dass bei uns zurzeit eine kontakt- und berührungslose Infektion innerhalb der Basis beobachtet wurde, und das dadurch eine unvorhersehbare Infektion jederzeit und überall auftreten kann...“

Die Nördliche Basis hat die Info erhalten“, sagte Lu Feng trocken und unterbrach den Sprecher, „Bitte bereiten Sie sich auf Bodenunterstützung vor.“

Hubbard runzelte besorgt die Stirn.

Lu Feng sagte: „Lass unsere Leute erst einmal in Flugformation schweben. Ich werde mit einigen Männer nach unten gehen.“

Ich werde gehen“, sagte Hubbard, „Nach dem, was sie sagen, ist das Innere gefährlicher, als wir es uns vorgestellt haben, und es gibt vielleicht keinen Weg zurück, wenn wir erst mal unten sind.“

Du bist nicht verpflichtet, da runter zu gehen.“

Aber ich mache mir um mich wirklich keine Sorgen.“

Lu Fengs Tonfall wurde flach: „Das gilt auch für mich.“

Aber Hubbard lächelte und fragte zurück: „Ganz sicher?“

Lu Feng begegnete seinem Blick. In seinen kalten grünen Augen war keinerlei Gefühlsregung zu erkennen, aber diesmal sagte er nichts.

Manchmal schaust du aus dem Bullauge, und wenn du das tust, dann schaust du für eine verdammt lange Zeit raus“, sagte Hubbard.

Ich habe eine Person in der Basis zurückgelassen“, Lu Feng lehnte sich mit verschränkten Armen gegen das Bullauge, „Eine Kugel, mit der ich jemanden getötet habe, hängt um seinen Hals.“

Wen hast du getötet?“

Lu Feng antwortete nicht.

Wenn man es so ausdrückt, hegt er Feindschaft gegen dich“, sagte Hubbard, aber er schien sich an etwas zu erinnern, „Ich traf vor einer Weile einen Jungen, der eine von deinen Patronenhülsen bei sich hatte und der mich fragte, ob ich wüsste, woher sie stammt.“

Lu Fengs Mundwinkel zogen sich nach oben.

Hubbard sagte: „Dann ist die Beziehung zwischen euch beiden sehr kompliziert.“

Vielleicht“, Lu Feng ging auf den Ausgang zu, „Meine Beziehung zu allem ist sehr kompliziert.“

Seine Stimme war kalt, als er zu dem Piloten sagte: „Bereiten Sie unsere Landung vor!“

Hubbard hielt ihn dieses Mal nicht auf. Er schaute auf Lu Fengs
Rücken, tief in Gedanken versunken.

Unter dem gewaltigen, blutroten Sonnenuntergang am westlichen Himmel, landete die Flugformation und die Kabinentüren
öffneten sich. Lu Feng verließ die PL1109 und ging auf den Eingang der blutgetränkten Stadt unter der Erde zu.



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Die Nördliche Basis.

Gerade als An Zhe die ID-Karte an den Sensor halten wollte, hörte er Schritte hinter sich und drehte sich um. Es waren Soldaten auf einer Routinepatrouille, angeführt von einem ihm bekannt vorkommenden gut aussehenden Richter.

Der Richter sah ihn an und fragte: „Warum bist du hier?“

Er senkte seinen Blick leicht: „Ich besorge etwas für den Herrn Doktor.“

Der Doktor forscht noch?“, fragte der Richter.

An Zhe machte ein leises bejahendes Geräusch und sagte sonst nichts. Der Richter fragte nicht weiter nach. Stattdessen sagte er: „Geh aber bald zurück, denn das Militär hat heute viel zu tun.“

Er sagte: „Danke.“

Sie gingen vorbei, und An Zhe holte tief Luft und drückte die ID-Karte an den Sensor. Zum Glück war das Zugangskontrollsystem noch nicht abgeschaltet worden. Mit einem Klicken entriegelte sich die Tür.

An Zhe trat ein. Das Türscharnier quietschte durch die Reibung, und nachdem er hineingegangen war, schloss er die Tür sofort wieder. In der schummrigen Beleuchtung flackerten die Schatten der massiven Instrumente und in der Mitte des Raumes stand der zylindrische Tank ganz ruhig da. Ein schwaches Licht unter dem Tank beleuchtete ihn, und eine Ansammlung kleiner Blasen war gerade von unten aufgetaucht und schwebte nach oben.

An Zhe hielt den Atem an. Bevor er die Tür geöffnet hatte, hatte er sich auf das Schlimmste vorbereitet: erwischt zu werden, das seine Spore bereits fortgeschafft worden war, das andere Personen im Labor anwesend waren... Jetzt hörte sein Herz fast ganz auf zu schlagen.

Bis sein Blick auf den Glastank und in die blassgrüne Nährlösung fiel und er die kleine weiße Masse, die ganz allein in der Mitte schwebte, sah.

An Zhes Atem zitterte, seine Lippenwinkel kräuselten sich und sein Herz pochte heftig. Er wollte sich sofort auf den Tank werfen, aber wegen seiner übermäßigen Stimmungsschwankungen war er praktisch unfähig, sich zu bewegen.

In der Flüssigkeit unter dem schummrigen Licht wirkte das schneeweiße kleine Ding, als würde es auf dem Boden der Tiefsee umherwandern. An Zhe sah es an, ohne zu blinzeln.

In diesem Moment sah er, wie die Spore, die bisher ruhig schwebte, innehielt. Dann streckten sich die Hyphen abrupt aus, oder vielleicht wäre 'explodierten' eine passendere Bezeichnung gewesen.

Danach schwebte es mit einer Geschwindigkeit auf ihn zu, die man definitiv nicht als langsam bezeichnen würde und hielt plötzlich an der Glaswand inne, als wäre es gegen sie gestoßen.

An Zhe ging mit großen Schritten auf den Glastank zu und drückte seine Hände und dann seinen ganzen Körper dagegen. Auch seine Spore presste sich fest gegen die Glaswand, und die Hyphen berührten ihn unruhig durch die Glasschicht, wobei die Bewegung deutlich zeigte, dass sie ihm noch viel näher kommen wollte.

An Zhe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wenn Lu Feng in der Nähe war, schien es so, als hätte diese Spore An Zhe nicht gesehen, aber jetzt erkannte sie ihn. Ohne auch nur zu blinzeln, beobachtete er, wie die Spore ihre schlanken und zerbrechlichen Hyphen nach ihm ausstreckte, doch wegen des Glases, das sie behinderte, konnte sie nur noch stärker versuchen sich in seine Richtung zu drücken, und verwandelte sich praktisch in einen kleinen weißen Pfannkuchen an der Innenseite des Tanks.

Jede einzelne Hyphe betonte, wie sehr sie An Zhe nahe sein wollte. An Zhe lehnte sich an sie. Ein lang vermisster Trost umgab sie, aber sie waren auch durch eine Schicht aus unzerstörbarem Glas getrennt.

Er musste sie aus diesem Tank befreien. An Zhe riss sich mühsam von dem Tank los und ging zur Seite, wo sich eine Konsole befand. Nach den üblichen Regeln für menschliche Maschinen, entschloss er sich, den größten runden Knopf zu drücken. Der Bildschirm der Konsole leuchtete wie erwartet auf, und die Kontrollleuchte des Kartensteckplatzes an einer Seite blinkte ebenfalls auf. Er zog die Karte von Lu Feng durch, und die Anzeige leuchtete grün auf. In der gesamten Basis war die Autorität dieses Mannes praktisch unangefochten.

Aber schon fast augenblicklich sah er sich mit einer Unmenge an gleich geformten Knöpfe konfrontiert und nur einige wenige wiesen komplexe Symbole auf, so dass An Zhe nur wie betäubt dastehen konnte.

Wie konnte er den Tank öffnen?

Seine Finger schwebten über der Konsole. Schließlich fasste er sich ein Herz und drückte den Knopf in der Mitte. Drei Sekunden später begann das Wasser im Tank zu schwappen und die Spore wurde hilflos von der Strömung hin und her geschleudert, bevor sie sich schließlich in der Mitte des Tanks drehte.

Beim Anblick dieser sich hilflos drehenden kleinen Masse spürte An Zhe, wie auch sein eigener Kopf hin und her taumelte. Er klammerte sich an sein Herz und drückte den ersten Knopf in einer Reihe.

Ein roter Laser leuchtete an der Spitze des Tanks auf. Selbst An Zhe, der in der Nähe stand, spürte die Hitze. Die Hyphen der Spore explodierten förmlich und dann sank sie kraftlos nach unten, als wäre sie ausgetrocknet, um dann nach einer Weile erneut zu explodieren.

Er vermutete, dass sie leise schrie. Er runzelte die Stirn - war es diese Art von Quälerei, die die Spore im menschlichen Labor jeden Tag hatte erleiden müssen? Aber er hatte keine Zeit, über etwas anderes nachzudenken, und er drückte einen weiteren
Knopf.

Das rote Glühen verwandelte sich in Lichtimpulse, und die Spore explodierte hilflos wieder und wieder. An Zhe drückte schnell einen weit entfernten Knopf. Diesmal verschwand das rote Licht, und er seufzte erleichtert auf. Doch im nächsten Moment ertönte ein surrendes Geräusch und blaue Funken flammten im Tank auf. Dann begann die Oberfläche des Wassers leicht zu zittern - und auch die Spore zitterte im Wasser, als wäre sie verrückt geworden.

Er war schockiert.

Er hatte das Wasser unter Strom gesetzt.

Erschrocken drückte er einen Knopf nach dem anderen und schließlich floss mit einem lauten Geräusch die blassgrüne Nähr-lösung langsam aus dem Behälter ab. An Zhe drückte einen Knopf daneben, und mit einem Klicken öffnete sich der Deckel auf dem Behälter.

Der Behälter war zu hoch, also schob er einen Stuhl heran und stellte sich darauf und erreichte somit schließlich das obere Ende des Behälters.

Aber mehr als die Hälfte der Nährlösung war bereits ausgelaufen und die Spore hatte keine Möglichkeit mehr, in diese Höhe zu schwimmen.

Dann sah er, wie sich die Spore gegen die Glaswand drückte und langsam an ihr entlang nach oben kroch. Beim Klettern rutschte sie immer wieder nach unten und nachdem sie ein Stück nach unten gerutscht war, kletterte sie weiter nach oben.

Das kleine Ding war noch nicht ganz erwachsen, aber es hatte seine Fähigkeit geerbt, sich selbständig zu bewegen. An Zhe streckte seinen Arm aus und seine Finger verwandelten sich in flatternde schneeweiße Hyphen, die sich an der Innenwand des Glastanks entlang nach unten bewegten und mit der Spore in Berührung kamen.

Genau in diesem Moment war es, als ob ein elektrischer Strom durch seinen Körper fuhr und er sich wie wiedergeboren fühlte. Er hatte einen Teil von sich selbst zurückbekommen und es war, als würde ihn eine seltsame Welle umhüllen.

Er hielt die kleine Masse und fischte sie vorsichtig heraus und alle Sporenhyphen, die nach draußen gelangt waren, zogen sich langsam zurück und die Spore wälzte sich nun inmitten seiner eigenen Hyphen um.

An Zhes Augen strahlten förmlich, während er sie anlächelte. Seine Hyphen verbanden sich mit den Hyphen der Spore und er fügte sie vorsichtig in seinen eigenen Körper. Auch der Körper der Spore entspannte sich vollständig und verschmolz mit seinem Körper. Ein euphorisches Gefühl übertrug sich in An Zhes Geist, denn seine Spore war endlich wieder an dem Ort, wo sie eigentlich sein sollte. Die Kulturflüssigkeit der Menschen war nutzlos; nur mit der Nahrung des Erwachsenen würde sie weiter bis zur Reife heranwachsen können.

Diesmal gab es keine Bastarde, die sie wieder ausgraben würde, obwohl er immer noch nicht wusste, warum die Spore von sich aus die Nähe dieses Kerls suchte.

In Wahrheit war es gut gewesen, dass die Spore an diesem Tag nicht An Zhes Nähe gesucht hatte, denn sobald sie die Neigung gezeigt hätte, sich ihm zu nähern, wäre das sofort von den Forschern beobachtet worden, und dann wäre seine Identität unweigerlich in Verdacht geraten.

An Zhe war also einseitig davon überzeugt, dass seine Spore über ungewöhnliche Intelligenz besaß.

Mit der Rückkehr der Spore war die Leere in seinem Körper endlich gefüllt, und alles Unbehagen legte sich augenblicklich wie Staub.

Das war ein unbeschreibliches Gefühl, wie eine Wiedergeburt. An Zhe ging zum Fenster hinüber, drückte den Knopf und hob die Metallplatte an.

Blendendes Licht schien herein und er blinzelte.

Draußen, am Ende des windgepeitschten Sandes am Horizont, inmitten der ersten goldenen Strahlen der Morgendämmerung, erhob sich eine strahlend rote Sonne empor.

An Zhe drehte langsam den Kopf und blickte zurück auf das silberweiße Laboratorium. Die Maschinen waren nebeneinander angeordnet, einzelne elektrische Kabel waren deutlich von-einander zu unterscheiden und die Reagenzglasständer oben auf dem Warenschrank waren besonders ordentlich angeordnet.

Anhand dieses Labors konnte er sich vorstellen, wie die gesamte Basis aussah. Dies war die Basis der Menschen. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatten alle nichts mit ihm zu tun.

Seine Hand klammerte sich um die Fensterbank, seine Knöchel wurden weiß und er stieß das durchsichtige dreischichtige Glasfenster mit einem Kraftausbruch auf.

Ein fingerbreiter Spalt öffnete sich, und glühend heißer Wind wehte herein, gefolgt von einem stechenden Schmerz in seinen Fingern. In dem Wind und der Atmosphäre draußen war die allgegenwärtige intensive Strahlung aus dem Kosmos zu spüren. Diese kolossale Welle enthielt unzählige winzige Kräuselungen. Er schien zu hören, wie der Abgrund ihn zurückrief.

Er könnte jetzt gehen, diesen Ort verlassen, nach draußen gehen, und in den Abgrund zurückkehren. Das 'Draußen' war ebenfalls grausam.

Er wusste nicht, ob er überleben würde, aber er hatte seine Spore zurück, also hatte er vor nichts mehr Angst.

... Er hatte vor nichts mehr Angst.

An Zhe drückte seine linke Hand sanft auf seinen Bauch, lehnte seine Stirn gegen die Fensterbank und schloss die Augen. Ein leichter Schauer durchlief seinen ganzen Körper.

Er nahm seine rechte Hand, die um das Fensterbrett geschlungen war, zurück und wandte seine Kraft in die entgegengesetzte Richtung. Mit einem leisen 'Plopp' schloss sich das Fenster wieder, und gleich darauf schloss sich die strahlensichere Metallschicht. Er holte ein paar Mal tief Luft, presste die Stirn gegen das Blech, und seine Finger schlossen sich langsam zu einer Faust an seiner Seite zusammen, als ob er eine schwierige Entscheidung getroffen hätte.

Als die Strahlung abgeblockt wurde, ließ auch der stechende Schmerz in seinem Körper allmählich nach, genau wie in jener Nacht, als Lu Feng ihn festhielt und seinen eigenen Körper als Schutzschild für ihn benutzte, bevor er sie aus dem Gebiet mit der Strahlung wegrollte. In Wahrheit, wenn er jemand anderes gewesen wäre, dann hätte Lu Feng ganz sicher dasselbe getan, aber gerade weil das der Fall war, hatte sich dieses Bild tief in seinem Gedächtnis verankert und war dort so lebendig wie jede Erinnerung an Lu Fengs von ihm weggehender Gestalt.

Er ging durch die Labortür hinaus, und in diesem Moment schritten zwei Soldaten auf dem Korridor an ihm vorbei. Die patrouillierenden Soldaten von vorhin waren weggegangen, und nun waren es andere Leute.

An Zhe begegnete ihren Blicken und schenkte ihnen zur Begrüßung ein Lächeln, dann drehte er sich um und ging auf die Treppe zu.

Auf der schummrigen Treppe konnte er nur seinen eigenen Herzschlag hören, ein Pochen nach dem anderen, schneller als sonst. Wenn Menschen Angst verspürten, schlug ihr Herz schneller, aber wovor genau er sich fürchtete, das wusste er auch nicht.

Er würde es nicht lange verbergen können, das wusste er. Sobald die Ordnung wiederhergestellt war und die Forschung von neuem begann, würde es bestimmt möglich sein, herauszufinden, wie es dazu kam, dass das für die Menschen so wichtige Labor etwas verloren hatte. Er musste gehen – je früher, desto besser.

Aber er konnte sich nicht davon abhalten, einen scharfen, kühlen Gegenstand aus seiner Hemdtasche zu holen. Es war das Abzeichen, das Lu Feng an seinen Mantel geheftet und das An Zhe abgenommen hatte.

Er hielt es in der Hand und dachte, dass er, sobald die Aurora wieder aufleuchtete und er die Nachricht von der Rückkehr der PL1109 hörte, er dann gehen würde.

Falls so ein Tag kommen sollte. In dieser Stadt gab es nichts Gutes. Nur die Kartoffelsuppe war ganz gut.

Und wäre da nicht seine Spore, die Lu Feng nahe sein wollte, dann wäre er schon längst gegangen.


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