24.
"WAS HABEN SIE DAMIT GEMACHT?"
AN ZHE hatte einen Traum.
Es schien, als stünde er über einem
Abgrund aus fließendem schwarzen Wasser und vor ihm lag eine
grenzenlos leere Welt. Das
Gefühl der Gefahr packte ihn wie eine
Hand. Es musste etwas in der fernen Dunkelheit sein, das ihn
beobachtete; er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zum
Atmen zu bekommen.
Da er spürte, dass es gefährlich war, sah er sich unbewusst um und trat zwei Schritte zurück. Innerhalb des gefährlichen Blicks, wollte er jemanden finden oder sich jemandem nähern, um ein Gefühl der Sicherheit zu bekommen.
So bewegte sich seine Hand unruhig und griff sanft nach der Ecke des Ärmels von Lu Feng.
Sein Atem beschleunigte sich leicht, als ob er Angst hätte.
Lu Feng schloss die silberne Kühlbox, warf die leere Einwegspritze in den Mülleimer und legte die Pistole zurück ans Kopf- ende des Bettes, wo sie für ihn griffbereit war.
Nachdem er all das getan hatte, beruhigte sich An Zhes beschleunigter Atem etwas, aber seine schönen Augenbrauen waren immer noch leicht gerunzelt.
Eine winzige Perle hellroten Blutes quoll an einer Seite seines Halses herunter, aber keine drei Minuten später war das Blut zu einem roten Fleck geronnen. Es hatte nur die Größe eines Nadelöhrs, aber die Substanz, die ihm injiziert worden war, würde seinem Körper außer diesem Blutfleck keinen Schaden zufügen.
Er war wie ein kleines Tier mit weichem Fell, das ihm eine Art von zerbrechlichen Komfort bot, der sehr leicht zu zerstören, aber auch sehr leicht vollständig zu beschützen war.
Lu Feng sah ihn ausdruckslos an. Nach einer langen Zeit streckte er eine Hand aus und legte seine Fingerspitzen auf die Haut in der Mitte von An Zhes Augenbrauen; wie eine Libelle, die sich auf der Wasseroberfläche ausruht – die Augenbrauen entspannten sich langsam, und keine drei Minuten später schlief er wieder so friedlich wie am Anfang.
______________
Als An Zhe aufwachte, hatte sich der ganze Raum aufgehellt. Es war die Helligkeit von acht oder neun Uhr morgens. Die Angst, zu spät zu kommen, ließ ihn vollständig wach werden.
Dann entdeckte er, dass das Handtuch,
in das er sich letzte Nacht eingewickelt hatte, aufgegangen und ein
Stück heruntergerutscht
war, so dass sein oberer Rücken nackt
war.
Und seine Hand hatte sich um den Saum der Kleidung eines bestimmten Menschen gekrallt, während er sich mit dem ganzen Körper an diesen Menschen klammerte und sein Gesicht an die Schulter des anderen drückte.
Wäre es Seraing gewesen, hätte An Zhe sich bei ihm entschuldigt, wie es die menschliche Etikette verlangte.
Wäre es Colin gewesen, wäre An Zhe sofort mit Höchst-geschwindigkeit abgehauen.
Aber es war ein gewisser Oberst namens Lu, der oft wütend auf ihn wurde.
An Zhe lockerte vorsichtig seinen Griff, dann hob er den Kopf, um ihn anzusehen. Aber zu seiner Überraschung war Lu Feng diesmal nicht wütend auf ihn.
Er zog die Bettdecke hoch, um An Zhes entblößte Arme und Schultern zu bedecken, und sagte dann: „Es ist 8.30 Uhr.“
Heute war An Zhes Arbeitsplatz immer noch der Leuchtturm, aber die Aufgaben waren furchtbar trocken und langweilig. Und dieser Lu Feng schien heute auch keine richtige Arbeit zu haben, und blieb die ganze Zeit mit ihm zusammen. Die Szene im Laboratorium konnte man so zusammenfassen: Si Nan sah Lily an, Lily sah Si Nan an, er sah Lily an, und Lu Feng sah ihn an.
Nachdem der halbe Tag vergangen war, hatte Si Nans Zustand unerwartet eine stetige Verbesserung gezeigt. Die Zeitspanne, in der seine Gehirnströme stabil waren, erhöhte sich von einer oder zwei Sekunden auf anhaltend vier Sekunden am Stück.
Während der Zeiten, wo sein menschliches Bewusstsein die Oberhand hatte, klopfte er in regelmäßigen Abständen an die Glaswand, als wolle er Lily mit einem Klopfmuster mitteilen, dass er da war.
Der Arzt war sehr froh, als er die Ergebnisse hörte, sagte aber auch, dass er seinen derzeitigen Posten nicht verlassen könne und ließ sie daher mit den Untersuchungen alleine weitermachen.
In den Zeiten, in denen Si Nan völlig den Verstand verloren hatte, sprach Lily mit An Zhe.
„Ich will immer noch rausfliegen“, sagte sie, „Die Welt ist so groß.“
„Könnt ihr denn nicht alle rausgehen?“, fragte An Zhe.
„Nein, sie sagen, draußen ist es zu gefährlich“, antwortete Lily, „Als ich klein war, habe ich sie angefleht, mich für fünf Minuten rauszulassen, aber sie haben nicht zugestimmt. Ich bin jeden Tag wütend auf sie. Frau Lu sagt mir dann immer, dass ich mich nicht mit ihnen streiten soll. Sie sagte auch, dass die gesamte Basis aus den Kindern des Gartens Eden besteht. Die Kinder sind manchmal launisch und verletzen auch manchmal ihre Mutter, aber das ist alles verständlich. Auch die Dinge, die wir essen, die Orte, an denen wir leben, und die Elektrizität, die wir benutzen, sind alles Dinge der Basis.“
Lily seufzte, aber für ein Mädchen, das sich noch im Alter eines Sprösslings befand, war diese Art von Seufzen ziemlich unpassend. An Zhe tätschelte ihr den Kopf.
„Nur Frau Lu darf nach draußen gehen. Sie ist eine Wissen-schaftlerin“, fuhr Lily weiter fort, „Ich will auch Wissenschaftlerin werden. Ich habe gehört, dass die Embryos früher mindestens fünf Monate im Körper wachsen mussten, bevor sie entfernt werden konnten, was sehr schmerzhaft war. Aber Frau Lu und das Forschungsteam des Leuchtturms haben diese Zeit ständig verkürzt, so dass es jetzt nur noch einen Monat dauert.“
An Zhe hörte ihr schweigend zu.
In diesem Moment läutete Lu Fengs Kommunikator. Er nahm das Gespräch entgegen und An Zhe hörte leise ein paar Worte wie 'Probe', 'Wachstum' und 'überprüfen' von der anderen Seite.
Nachdem er aufgelegt hatte, sagte Lu Feng zu ihm: „Ich gehe mir ein wenig die Beine vertreten.“
„Okay“, erwiderte An Zhe.
Als Lu Fengs Schritte im Korridor verschwunden waren, trat Lily plötzlich näher an An Zhe heran und sagte in einem sehr geheimnisvollen Ton: „Oberst Lu ist das Kind von Frau Lu, wusstest du das?“
An Zhe sah das Mädchen an. Nach zwei Tagen des Umgangs miteinander war sie viel lebhafter geworden.
Er fragte: „Du weißt sogar das?“
„Weil ich schlau bin“, Lily hob ihr Kinn leicht an, „Andere Kinder wissen nur, wie man schläft, aber ich weiß alles.“
Bei den Worten, die sie zuvor gesagt hatte, war An Zhe nicht sehr interessiert gewesen, aber als sie Lu Feng erwähnte, wurde seine Neugierde wieder geweckt. Er fragte: „Was weißt du?“
„Auf dem Kommunikator von Frau Lu waren immer Bilder von dem Oberst. Ich habe sie schon einmal gesehen“, Lily schwang ihre kleinen Beine auf dem Stuhl, „Sie sagten, dass nur der Oberst das echte Kind von Frau Lu ist, weil man keine Maschine benutzt hat, um seine Entwicklung zu unterstützen.“
An Zhe dachte, dass die Beziehung von Lu Feng und Frau Lu in der Tat sehr besonders war. Die Kinder aus dem Garten Eden wussten nicht genau, wer ihre eigenen Eltern waren. Das einzige, was sie seit ihrer Geburt begleitete, war ihre Ausweisnummer.
Lily fuhr fort: „Es scheint, dass es zwei Gründe gab. Der erste ist, dass der Zustand des Obersts zu dieser Zeit nicht stabil genug war und sich daher nicht für eine In-Vitro-Kultur eignete. Über den anderen können alle nur raten.“
„Worüber raten sie?“, fragte An Zhe.
„Die gnädige Frau hielt sich zuvor außerhalb des Garten Eden auf. Danach wollte sie auch zum Leuchtturm gehen und dort eine Versammlung abhalten, um mit den Leuten da draußen zu verhandeln, damit sie häufiger rausgehen konnte. Ich vermute, Frau Lu hatte sich in jemanden von draußen verliebt. Ich wette, Oberst Lu ist das Kind von Frau Lu und ihrem Liebhaber.“
Als Lily dies sagte, schaute sie An Zhe an und stützte ihr Kinn in ihren Händen ab: „Bist du der Geliebte von Oberst Lu?“
An Zhe überlegte eine Weile, was dieses Wort zu bedeuten hatte, dann schüttelte er den Kopf.
„Hast du dann jemals Sperma gespendet? Du scheinst bereits volljährig zu sein“, sagte Lily, „Obwohl du keinen Liebhaber hast, hast du wahrscheinlich schon Kinder.“
„Habe ich nicht“, sagte An Zhe mit einem Stirnrunzeln, „Aber...“
„Aber was?“
An Zhe schüttelte langsam den Kopf und sagte nichts mehr.
Er hatte kein Kind im menschlichen Sinne, aber er hatte seine Spore. Seine Spore, von der er nicht wusste, wo sie war.
Wenn er Lu Feng voreilig fragte, befürchtete er, dass er seine Identität als Xenogenic verraten könnte.
Doch wenn er weiter in die Lüftungsrohre eindrang, um nach ihr zu suchen, bestand immer die Gefahr, dass er sich verirrte oder enttarnt werden würde.
Das Einzige, was er wusste, war, dass sich seine Spore laut Lu Fengs Notizbuch höchstwahrscheinlich im Leuchtturm befand - und jetzt war er im Leuchtturm, aber angesichts dieser komplizierten Zugangstüren und geheimnisvollen Laboratorien hatte er keine Ahnung, wie er sie hier suchen sollte.
Offensichtlich war er seiner Spore vielleicht schon sehr nahe gekommen.
In diesen zwei Tagen im Leuchtturm hatte An Zhe jedes Mal, wenn er diesen Gedanken hatte, ein beunruhigendes Gefühl.
Lily fragte: „Bist du unglücklich?“
„Mm-hm“, nickte An Zhe.
Er war kein vollständiger Pilz. Ein unvollständiger Pilz konnte nicht glücklich sein, egal wie.
Genau in diesem Moment ertönten wieder leise Klopfgeräusche. Si Nan hatte seinen Verstand wiedererlangt - Lily verließ ihn sofort und ging zu Si Nan hinüber.
An Zhe wurde noch niedergeschlagener.
Das Geräusch von Schritten kam aus dem Korridor. Es waren Lu Feng und der Arzt, die gemeinsam zurückkehrten.
Der Arzt sprach mit Lu Feng: „Was haben Sie damit gemacht?“
„Was soll ich schon damit gemacht haben?“, fragte Lu Feng.
„Es war immer völlig bewegungslos, als ob es tot wäre, aber in den letzten beiden Tagen, seit dem Sie hier im Leuchtturm sind, beginnt es plötzlich zu wachsen. Ich denke, das ist kein Zufall. Außerdem ist es, während es in der Nährlösung getränkt war, immer unregelmäßig geschwommen. Wie kommt es dann so plötzlich, dass es nun, wenn man Sie neben die Kulturkammer stellt, ganz schnell zu Ihnen schwimmt, um in Ihrer Nähe sein zu können?“
Lu Feng erwiderte kalt: „Ist es nicht eigentlich Ihre Aufgabe, dass mit Ihren Leuten zu erforschen?“
„Sie müssen uns erst genügend Informationen liefern. Welche besondere Beziehung haben Sie zu ihm?“
„Ich habe es genommen, versiegelt und zum Leuchtturm gebracht“, Lu Fengs Tonfall wurde allmählich kälter, was ein Zeichen dafür war, dass er dieses Gespräch nicht fortsetzen wollte, „Das war's.“
„Dieses Projekt ist äußerst wichtig! Sie müssen bei der Erforschung kooperativ sein.“
„Wie Sie meinen.“
Die Stimmen kamen immer näher, als die beiden ins Labor zurückkehrten. Der Doktor ging zurück zum Instrument und Lu Feng nahm das illustrierte Handbuch über die Basisbewaffnung aus An Zhes Rucksack und blätterte es durch, um sich die Zeit zu vertreiben.
Als er sich an ihr Gespräch von vorhin
erinnerte, verspürte An Zhe
allmählich eine Spur von Misstrauen.
Langsam wandte er Lu Feng seinen Blick zu.
Lu Feng, der das Gewicht seines Blickes spürte, hob den Kopf von den Buchseiten, um An Zhe in die Augen zu sehen.
An Zhe sah ihn an: „Wohin sind Sie gegangen?“
Lu Feng warf ihm einen flachen Blick zu, antwortete aber nicht direkt auf seine Frage. Stattdessen antwortete er: „Hm?“
An Zhe sah, dass er nicht bereit war zu antworten, aber als er an die Hinweise dachte, die er bekommen könnte, fasste er trotzdem seinen Mut zusammen und sagte: „Etwas ist Ihnen nahe gekommen...“
Lu Feng hob die Augenbrauen: „Nichts ist mir nahe gekommen.“
„Gerade eben sagte der Arzt...“
„Ich bin gegangen, um mir ein Projekt anzuschauen“, der Tonfall von Lu Feng war nonchalant, „Sonst ist nichts passiert.“
An Zhe war dank dieser Person kurz
davor, vor Wut zu sterben. Er wollte Lu Feng fragen, welches
Projekt er sich angesehen hatte,
aber diese Person bestand darauf,
dass sie nichts getan hätte.
„Eines unserer Labore hat nach ihm gerufen“, der Arzt kehrte zu dem Instrument zurück, „Es war eine normale Arbeit, und er kam zurück, nachdem er kooperiert hatte. Aber es kann sein, dass er noch ein paar Mal kooperieren muss.“
Damit begann der Arzt, sich auf das Studium der früheren Aufnahmen von Si Nan zu konzentrieren.
Die Denkweise von Lu Feng war schwer zu durchschauen.
Da An Zhe das Wesentliche nicht begriffen hatte, hätte er es dabei belassen können, aber der Arzt hatte ihm unerwartet auch eine Antwort gegeben, auch wenn diese ihm seine Frage nicht beantwortet hatte. Da er somit keine brauchbaren Informationen erhalten hatte, saß An Zhe nun neben Lily und war unruhig.
Er fühlte sowohl Niedergeschlagenheit, weil er keine Antwort erhalten hatte, als auch Selbsthass, weil er nicht zu offensichtlich fragen konnte, um seine Identität nicht zu verraten; er hatte sogar den Gedanken, Lu Feng heimlich zu folgen, wenn er das nächste Mal gehen würde.
Er hörte Lu Feng neben sich sagen: „Konzentriere dich auf deine Arbeit.“
An Zhe war sprachlos.
Um 17 Uhr war es für Lily an der Zeit, zurückzugehen. Als sie zurückging, klopfte Si Nan nicht mehr deutlich und regelmäßig an die Wand und begann, wie wild in seiner Zelle umherzuhüpfen. An Zhe machte einige einfache Notizen über die Situation des Tages und der Arzt sagte ihm, dass er zurückgehen konnte.
An Zhe sah Lu Feng an.
Lu Feng sagte: „Ich bleibe hier.“
Der Arzt erklärte: „Er hat heute Nacht Dienst.“
„... Oh“, erwiderte An Zhe.
Im Leuchtturm fanden verschiedene Experimente statt, die meisten davon hatten mit der Erforschung von Xenogenics zu tun. Manchmal kam es bei unsachgemäßem Betrieb oder bei Unfällen dazu, dass Mitarbeiter infiziert wurden, und deshalb hatte das Gericht auch ständiges Personal im Leuchtturm.
Bei diesem Gedanken hatte er plötzlich das Gefühl, dass die Dinge etwas schwierig zu handhaben waren.
Da er seinen Ausweis nicht hatte, konnte er nicht nach Hause zurückkehren und wenn Lu Feng nicht nach Hause ging, dann gab es für ihn noch weniger Orte, an die er gehen konnte.
Mit diesem Gedanken sah er, wie Lu Feng seinen Ausweis aus der Brusttasche seiner Uniform nahm und ihm diesen gab: „Geh du schon einmal zurück.“
An Zhe nahm ihn entgegen und sagte: „Danke.“
Der Arzt schnalzte mit der Zunge.
An Zhe fragte: „Essen Sie hier zu Abend?“
Lu Feng betrachtete weiter das illustrierte Waffenhandbuch und sagte knapp: „Mm.“
An Zhe fragte: „Was essen Sie dann?“
„Die komprimierten Nährstofftabletten, die das benachbarte Labor und der Garten Eden vor kurzem gemeinsam entwickelt haben“, antwortete der Arzt und tippte auf der Tastatur, „Sie sind noch in der Versuchsphase und daher vorerst nur für den Gebrauch innerhalb des Leuchtturm vorgesehen.“
Mit diesen Worten erhöhte sich die
Kraft um ein paar Grad, mit der er auf die Tastatur tippte: „Sie
sind das Ekligste, was ich je
in meinem ganzen Leben gegessen
habe.“
An Zhe blieb stehen und dachte einen Moment lang nach. Er stellte fest, dass die Lüftungsrohre leer waren und dass der Leuchtturm ebenfalls leer war. Der Einzige, der wirklich eine Verbindung zu seiner Spore hatte und bei der Suche weiterhelfen konnte, war Lu Feng.
Er sagte zu Lu Feng: „Möchten Sie, dass ich Ihnen Essen bringe?“
Lu Feng hob den Kopf und sah ihn an. In diesen kalten Augen konnte man seine Gefühle nicht klar erkennen.
An Zhe sah, dass er zufällig auch auf der Seite mit dem 'PL1109'-Kampfflugzeug war.
Lu Feng antwortete nicht. An Zhe sagte mit leiser Stimme: „Dann bringe ich Ihnen etwas.“
Der Arzt schnalzte wieder mit der Zunge.
Dann sagte er: „Ich möchte auch etwas.“
Lu Feng sagte: „Für Sie bleibt nichts übrig.“
Der Arzt drehte sich um und sah An Zhe an: „Ich hätte gerne eine Tomatensuppe.“
„Vielleicht gibt es keine“, antwortete An Zhe.
Er hatte keineswegs gelogen. Abgesehen von Kartoffeln waren die täglichen Lebensmittelrationen in den einzelnen Wohngebieten von den jeweiligen Produktionsbedingungen im Garten Eden abhängig.
…..
Aber heute gab es tatsächlich Tomaten unter den Zutaten. An Zhe stand vor dem Behälter, in dem die Tomaten auslagen, und zögerte eine Weile.
Dann drehte er sich um und blickte auf die Kühltruhe, in der die Champignons lagen.
Er erinnerte sich, dass Lu Feng gestern beim Abendessen im Speisesaal aus den identisch wässrigen Speisen: Kartoffelsuppe, Tomatensuppe und Pilzsuppe die Pilzsuppe gewählt hatte. Bei seiner Wahl fühlte sich An Zhe etwas unwohl, aber...
Er debattierte zwei Minuten lang mit sich selbst, aber schließlich nahm er zwei Portionen Pilze. Die Pilze, die die Basis züchtete, waren gräulich-weiß und hatten runde Stiele und weiche Kappen. Er kam oft hierher, um einzukaufen, so dass die Mitarbeiter des Lebensmittelbereiches ihn bereits kannten.
„Kochen Sie heute Abend Pilze?“
„Mm-hm“, bestätigte An Zhe, „Brauche ich da noch andere Zutaten?“
Unter der Anleitung des Mitarbeiters nahm An Zhe frisches Fleisch und eine Packung Gewürze. Er zog die Karte von Lu Feng durch den Kartenleser. Ursprünglich hätte er gedacht, dass die Kosten für diese Zutaten doch sehr hoch seien, aber im Vergleich zum Restbetrag schien es unerwartet trivial zu sein.
An Zhe nahm das Messer in die Hand, holte ganz tief Luft und begann damit, die Pilze zu schneiden, die so weich waren, dass sie mit einem sanften Schnitt in zwei Hälften geteilt wurden. Pilzsuppe brauchte auch viel weniger Zeit als andere Suppen – nachdem die kleinen Stücke des Hühnerfleischs im kochenden Wasser durchgekocht waren, gab er das Päckchen mit den Gewürzen hinein und fügte dann die Pilze hinzu.
Schon bald wehte ein leichtes und duftendes Aroma durch die Küche. An Zhe schloss den Deckel des Schnellkochtopfs, und nachdem er den Timer eingestellt hatte, verließ er die Küche.
Da er nichts zu tun hatte, goss er die Rosen im Zimmer des Obersts und nachdem er das Zimmer aufgeräumt hatte, schaltete er den Fernseher im Wohnzimmer ein.
Es war genau die Zeit für die Nachrichtensendung. Das Bild erschien, und An Zhe war überrascht, eine bekannte Gestalt zu sehen.
Hubbard, der Kapitän des Söldnerteams, der einst eine Schau-fensterpuppe bei Herrn Shaw bestellt hatte und Herrn Shaw auch geholfen hatte, Lu Fengs Informationen zu bekommen.
Wenn er damals nicht wieder mit seinem Team auf eine Mission gegangen wäre, dann wäre er vielleicht auch unter den Angeklagten gewesen.
„Zurzeit geht die Rückberufung der Söldner reibungslos voran. Heute Morgen sind alle Mitglieder des Söldnerteams AR137 in den Stützpunkt zurückgekehrt. Dies ist das einzige Team, das neben dem Militär des Stützpunkts Missionen der Sechs-Sterne-Stufe durchführen kann, und sie haben wertvolle Proben und die neuesten Informationen über die Außenwelt mitgebracht. Unser Reporter hat den Kapitän von AR137, Herrn Hubbard, interviewt.“
Im Bild war Hubbard, in Feldausrüstung gekleidet, gerade aus einem gepanzerten Fahrzeug ausgestiegen.
Ein Reporter näherte sich: „Willkommen zurück, Herr Hubbard.“
„Danke“, sagte Hubbard.
„Die Hauptstadt heißt Sie willkommen“, sagte ein Mitarbeiter, der auf seiner anderen Seite stand und sie zum Bluttest führte.
„Vielen Dank“, sagte Hubbard, „Die Situation der Basis hat mich sehr überrascht.“
Der Reporter fragte: „Ihr Rückrufdatum ist etwas später als bei anderen Söldnerteams. Hatten Sie Schwierigkeiten auf dem Weg?“
„Nein“, Hubbards Antwort war sehr knapp, „Das Signal war schlecht. Wir haben gerade erst die Rückrufnachricht erhalten.“
Der Reporter lächelte: „Darf ich fragen, aus welcher Region Sie zurückgekehrt sind?“
„Aus den Randgebieten des Abgrunds.“
„Wie ist die Situation dort jetzt?“
„Die Formen der Monster sind noch vielfältiger geworden.“
„Der Abgrund ist in der Tat ein sehr furchterregender Ort. Was haben Sie von dort mitgebracht?“
„Proben.“
„Ich danke Ihnen für Ihren Beitrag zum Stützpunkt“, sagte der Reporter.
„Nichts zu danken.“
An Zhe hatte das Gefühl, dass Hubbard in Bezug auf seine Kürze mit Lu Feng mithalten konnte, aber seine Augen waren nicht so gut aussehend wie die von Lu Feng.
Das Bild wechselte zurück zur Nachrichtensprecherin: „Soweit wir wissen, werden die zurückkehrenden Söldnerteams in das militärische System eingegliedert und sie erhalten entsprechende Positionen, die nach ihren Verdiensten errechnet werden. So können sie auch weiterhin der Basis dienen.“
Nachdem diese Nachricht beendet war, folgten noch einige unwichtige Informationen. Von den Dingen, die jeden Tag in der Hauptstadt passierten, gab es nicht viele, die es wert waren, darüber mehr zu berichten. Die meiste Zeit berichteten die Moderatoren über die neuen Fortschritte in der wissenschaftlichen Forschung des Leuchtturms, und es gab viele Fachwörter, die An Zhe schläfrig machten.
Der Schnellkochtopf in der Küche gab einen langen Pfiff von sich und rettete An Zhe. Nachdem er den Deckel geöffnet hatte, wehte ihm ein reichhaltiger Duft in sein Gesicht. Die Suppe war sehr dickflüssig geworden und hatte eine samtige Konsistenz, und die schneeweißen Pilze wippten darin auf und ab.
Er kostete einen Schluck. Er fühlte sich zufrieden und füllte genug für drei Personen in eine Thermoskanne, um sie zum Leuchtturm zu bringen.
Aber gerade als er aus der Küchentür trat, hielt er verblüfft inne. In den Nachrichten war ein silbernes Labor mit komplizierten Maschinen rundherum zu sehen, und in der Mitte des Labors war ein zylindrischer Glastank, in dem sich eine klare, blassgrüne Flüssigkeit befand.
Und in diesem mannshohen Behälter befand sich ein winziges weißes Ding, dass fast unmerklich in der Mitte schwamm.
An Zhes Augen weiteten sich, und er schritt näher an den Fernseh-bildschirm heran.
Genau in diesem Moment kam die Kamera näher und zeigte eine Nahaufnahme von dem kleinen weißen Ding. Weiß wie Schnee, eine weiche Masse, sein Hauptkörper war wie eine Wolke, die im Wasser schwebte, so groß wie die Pilze, die An Zhe heute in seiner Küche verwendet hatte.
Außerdem hatten sich auch die feinen schneeweißen Hyphen ausgebreitet, die das Wasser aufsaugten und sich sanft in der Bahn des Wassers hin- und herwiegten.
An Zhe blieb fast der Atem stehen.
Er würde seine eigene Spore definitiv nicht verwechseln - auch wenn im Vergleich zu dem Zeitpunkt, als sie ihn verließ, sie ein wenig größer geworden zu sein schien.
An Zhe hob seine Hand. Seine Finger zitterten ein wenig, als er sie auf den eiskalten Bildschirm des Fernsehers legte, als ob er die Oberfläche des Tanks berühren würde und nur eine Glaswand ihn von diesem schneeweißen Ding trennte.
Doch dann durchbrach die Stimme des Nachrichtensprechers diese Illusion: „Vor vier Monaten wurde diese anomale Pilzprobe, die vom Gericht gesammelt wurde, als erstklassiges Beobachtungsobjekt eingestuft, denn es hat sich nie in seiner Grundform verändert. Daher glaubt der Leuchtturm, dass diese Probe einen hohen Forschungswert hat. Vielleicht können wir durch das Studium der Probe den Prozess und die Prinzipien der biologischen Infektion und Mutation ergründen.“
An Zhe runzelte tief die Stirn. Wie erwartet, war seine Spore zu Forschungszwecken entnommen worden. Dann sagte der Nachrichtensprecher: „Nach Angaben der Forscher hatte die Probe in den letzten vier Monaten einen halbtoten Zustand beibehalten. Doch in den letzten zwei Tagen hat sie unerwartet ihre Aktivität wieder aufgenommen und sich in ihrer Größe verändert. Das sind sehr aufregende Neuigkeiten...“
An Zhes Herz klopfte heftig.
Er wusste, dass die Spore auch ihn erkannte.
Warum sonst sollte sie sich in genau den zwei Tagen, in denen er sich im Leuchtturm aufgehalten hatte, verändern? Die Spore hatte ihn gespürt. Sie wollte unbedingt auch zu ihm zurückkehren.
Der Ansager sprach weiter: „Das
Labor hat das Gericht kontaktiert und bestätigt, dass die
Wachstumsrichtung der Probe
mit dem ursprünglichen Hauptkörper
übereinstimmt.“
Zur gleichen Zeit schwebte die Spore im Bild unruhig in eine bestimmte Richtung. An Zhe dachte, dass dies die Richtung sein musste, in der er sich zur Zeit im Labor aufhielt. Die Spore wollte ihn finden. In der nächsten Sekunde erschien eine menschliche Gestalt neben dem Glastank. Der Körper der Person befand sich außerhalb des Rahmens, und es gab nur eine vage Spiegelung, so dass er nicht wusste, wer es war. An Zhe wollte, dass diese Person von seiner Spore wegging.
Die Situation war das genaue Gegenteil. Diese Person streckte seine Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen sanft die Oberfläche des Tanks. Die Finger waren sehr schlank und die Knöchel sehr schön. An Zhe runzelte die Stirn, denn er war mit der Form dieser Hand sehr vertraut. Auch der Ärmel dieser Person kam ihm sehr bekannt vor, ebenso wie die silbernen Knöpfe.
An Zhe knirschte mit den Zähnen. Er konnte auf einem Blick erkennen, dass diese Person, die da seine Spore berühren wollte, zweifelsohne dieser Bastard Lu Feng war.
Doch genau in diesem Moment schwebte die Spore zu diesem Bastard hinüber und ihre feinen schneeweißen Hyphen streckten sich und legten sich auf jeden seiner Finger von innen auf die Glasscheibe des Tanks.
Warum sollte sie das tun?
An Zhe war verwirrt.
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