Kapitel 23 ~ "Liegt es daran, dass Sie niemals zögern dürfen?"

 

23.

"LIEGT ES DARAN, DASS SIE NIEMALS ZÖGERN DÜRFEN?"



DIE Wohnräume des Obersts sahen aus wie Zimmer, in denen niemand lebte. Hier war es genauso wie in seinem Schlafraum in der Städtischen Verteidigungsbehörde der Äußeren Stadt.

Der Grund, warum An Zhe wusste, wie die Wohnung des Obersts aussah, war, weil er in dem Moment, als sich die Aufzugtür öffnete gespürt hatte, dass die Umgebungstemperatur merklich abgekühlt zu haben schien.

Er hatte sich daraufhin noch einmal herumgedreht und war Lu Fengs Blick begegnet. Der Oberst hatte mit verschränkten Armen im Türrahmen gelehnt: „Komm wieder her.“

An Zhe hatte dann die Lippen zu einer flachen Linie zusammengepresst. In Wahrheit stand er Seraing keineswegs nahe. Als er den Abwärtsknopf des Aufzugs gedrückt hatte, dachte er sogar, dass wenn Seraing nicht zu Hause war oder auf seine Bitte hin Wider-willen zeigte, dann würde er stattdessen nur umständlich Colin um Hilfe bitten können.

Er blickte zurück zu Lu Feng und war plötzlich ein wenig verzweifelt - er fühlte sich leicht im Unrecht. Dieser Mann wusste genau, dass er keine Freunde in der Basis hatte.

Lu Feng sah auch, dass etwas mit ihm nicht stimmte: „Was ist los?“

An Zhe senkte den Blick, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Mund aufzumachen und Lu Feng direkt darum zu bitten, in seiner Wohnung bleiben zu dürfen, aber er hatte sich vor einer Ablehnung des Obersts gefürchtet.
Er hörte, wie Lu Feng ein leises Lachen ausstieß.

Ich habe dich nur geneckt“, Lu Feng ging hinüber und zog ihn diesmal ganz in den Aufzug hinein, „Lass uns erst einmal etwas essen gehen und heute Abend schläfst du mit mir.“

Sie aßen im Gemeinschaftsspeisesaal zu Abend. Dieses Essen war keineswegs schmackhaft, und außerdem war Lu Fengs Bestellung eine Portion Pilzsuppe.

Aber wenn er mit Lu Feng schlafen würde... Natürlich wäre es besser als mit Seraing zu schlafen, und es wäre viel, viel besser als mit Colin zu schlafen. An Zhe schrieb dies der Tatsache zu, dass er ja nur Lu Feng kannte, und außerdem hatten sie schon zweimal beim jeweils anderen übernachtet.

Nachdem er im Bad des Obersts gebadet hatte, trocknete er sich ab und wickelte sich dann schnell in ein großes, schneeweißes Handtuch. Die Bettdecke in den Armen haltend, setzte er sich auf die innere Seite des Bettes - er hatte keinen Pyjama.

Im Zimmer des Obersts schienen alle Geräte perfekter zu sein als die in seinem Zimmer, was vielleicht einer Sonderbehandlung durch das Militär geschuldet war. Aber egal, wie besonders die Behandlung war, es gab keine zusätzliche Bettdecke und auch kein zusätzliches Kopfkissen. Er verlegte das Kissen freiwillig von der Mitte auf die Außenseite des Bettes.

In diesem Moment fiel ihm ein roter Strauß am Kopfende des Bettes in die Augen und erhielt seine Aufmerksamkeit.

Dort stand eine einfache Glasflasche, und in der Flasche befanden sich drei leuchtend rote Blumen mit dornigen Stielen und dunkelgrünen Blättern. Zwei von ihnen waren bereits in voller Blüte, während die letzte noch eine pralle Knospe war.

Dies war das erste Mal, dass An Zhe Pflanzen im Inneren der menschlichen Basis sah. Diese Stadt aus Eisen und Stahl schien die Existenz jeglicher Lebewesen außer Menschen zu verbieten.

Der Duft der Blumen wehte durch die Luft. In diesem Moment beendete Lu Feng das Gespräch mit seinem Untergebenen und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

Lu Feng bemerkte beim Eintreten, dass er den Blumenstrauß betrachtete.

Der ist von meiner Mutter“, sagte er knapp.

Von Frau Lu?“, fragte An Zhe.

Mm-hm“, bestätigte Lu Feng.

Sein Blick verweilte auch auf diesen drei Blumen. Nach einer sehr langen Zeit schaute er nach draußen. Der Nachthimmel außerhalb des Fensters war sehr dunkel, die Schatten flackerten, und das sechseckige hohe Gebäude des Garten Eden stand aus ihrer Perspektive direkt neben dem künstlichen Magnetpol.

An Zhe folgte seinem Blick und schaute ebenfalls nach draußen. Wenn man ihn aus diesem Stockwerk betrachtete sah der Garten Eden wirklich wie ein Bienenstock aus. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er blickte zurück auf die drei leuchtend roten Blumen am Kopfende des Bettes. Er war ein wenig vertraut mit dieser Art von Farbe und Form, denn sie stammte aus An Zes Erinnerung an ein Fotoalbum, das dieser einmal vor langer Zeit betrachtet hatte. Es war eine häufig zu sehende Pflanze aus der Zeit, als die menschliche Zivilisation auch noch blühte.

Rosen...“, murmelte er.

Ja, das sind Rosen“, sagte Lu Feng.

Wenn die Kinder in seiner Klasse Freizeit hatten, spielten sie oft Vater-Mutter-Kind und taten so, als ob sie in ihrem imaginären Haus Blumen pflanzten, indem sie auf buntem Papier in verschiedenen Farbtönen Blumen zeichneten und sie ausschnitten.

Aber es sah wohl ganz danach aus, als hätte der Garten Eden echte Rosen.

Pflanzt der Garten Eden Rosen?“, fragte er daher.

Lu Fengs Antwort war sehr kurz und bündig: „Nein.“

Gerade als An Zhe dachte, seine Antwort würde hier enden, ergriff Lu Feng erneut das Wort. „Sie mag Pflanzen, aber die Basis hat keine“, seine Stimme war sehr ruhig, „Als ich sechzehn war, habe ich in der Wildnis trainiert und dabei einige Samen gesammelt. Nachdem der Leuchtturm bestätigt hatte, dass sie sicher waren, gab ich sie ihr.“

Dann hat Frau Lu sie eingepflanzt?“, fragte An Zhe weiter.

Lu Feng nickte: „Mm-hm.“

An Zhe erinnerte sich plötzlich an die versiegelten Pflanzensamen, die er in Lu Fengs Büroschrank vor einem Monat gesehen hatte. Er dachte, dass Lu Feng seine Mutter wirklich sehr schätzen musste. Als er heute mit im Leuchtturm war, hatte er Frau Lu gesehen, da sie einige Berichte abzugeben hatte. Sie sah aus wie eine wissenschaftliche Forscherin. Also fragte er: „Ist Frau Lu eine Wissenschaftlerin?“

Erst nachdem einige Zeit vergangen war, antwortete Lu Feng: „Mehr oder weniger.“

Doch nur einen kurzen Moment später sagte Lu Feng plötzlich: „Du kanntest das Mädchen aus dem Garten Eden.“

An Zhe nickte. Lu Feng hatte Lily bereits gesehen, also hatte er nichts zu verbergen.

Wie viel weißt du?“

Er vermutete, dass der Oberst ihn nach seinem Grad seines Verständnisses des Gartens Eden fragte. Er erinnerte sich an Lilys Worte und sagte daher: „Ich kenne das 'Rosenmanifest'.“

Er sah, wie Lu Feng aus dem Fenster schaute und sich scheinbar an etwas aus einer fernen Vergangenheit erinnerte: „Als sie zwölf Jahre alt war, glaubte die Basis, dass sie aufgrund ihrer intellektuellen Begabung... nicht nur zum Kinderkriegen geeignet sei, sondern sie einen noch größeren Beitrag für die Menschheit leisten könnte, wenn sie sich der wissenschaftlichen Forschung widmet, und so wurde sie zum Leuchtturm geschickt, um zu studieren.“

Das ist wirklich erstaunlich“, sagte An Zhe.

Er war immer neugierig auf Menschen mit überlegenem Intellekt.

Aber danach beantragte sie freiwillig ihre Versetzung zurück in den Garten Eden und übernahm die Verantwortung, Kinder zu gebären und gleichzeitig zu erforschen, wie man die Technologie der In-Vitro-Embryokultur verbessern könnte.“

Und danach?“, fragte An Zhe.

Es gibt kein 'danach'“, sagte Lu Feng, „Sie ist immer noch dort.“

An Zhe erinnerte sich an das Aussehen von Frau Lu. Auch wenn sie eine Maske getragen und er dadurch nur ein Paar Augen gesehen hatte, so war der Eindruck, den sie bei ihm hinterlassen hatte, sehr tief. Er sagte: „Sie ist eine sehr schöne Frau.“

Lu Feng sagte: „Danke.“

Als er sich an die Situation im Labor erinnerte, fragte An Zhe: „Haben Sie ein schlechtes Verhältnis zu ihr?“

Ja.“

An Zhe blinzelte: „Warum ist das so?“

Er spürte, dass Lu Feng seine Mutter viel bedeutete.

Sie hatte immer gedacht, dass ich für das Zentrum der Ver-einigten Front arbeite, aber in Wirklichkeit habe ich mich entschieden, zum Gericht zu gehen“, Lu Fengs Tonfall war ruhig, „Vielleicht habe ich in ihren Augen einfach zu viele umgebracht.“

Kann sie es nicht akzeptieren?“

Ich war es, der nicht bereit war, meine Beziehung mit ihr zu pflegen“, Lu Feng hob das Kissen auf und warf es zu An Zhe.

An Zhe fing das Kissen auf und sah Lu Feng an. Seltsamerweise verstand er, was Lu Feng damit sagen wollte.

Um immer richtig zu liegen, immer einen klaren Kopf zu behalten und immer gelassen zu bleiben, musste der Schiedsrichter sich von sich aus völlig ins Exil begeben - das Wort 'Verbannung' tauchte plötzlich in An Zhes Gedanken auf.

Der Garten Eden und das Gericht machen gegensätzliche Dinge“, sagte er, „Liegt es daran, dass Sie niemals zögern dürfen?“

Halt die Klappe“, Lu Feng beugte sich vor und riss das Kissen aus An Zhes Armen, hob ihn hoch und legte ihm das Kissen unter seinen Kopf, „Du kannst nicht einmal mehr die Augen offen halten.“

An Zhe sank in das weiche Kissen und spürte, wie sein Bewusstsein allmählich verschwamm. Er war wirklich müde, dabei hatte er eigentlich vorgehabt, in dieser Nacht aus reiner Vorsicht die ganze Zeit wach zu bleiben.

Bevor er ganz einschlief, sah er, wie Lu Feng einen silbrig-weißen Koffer aufhob, den ein Mitarbeiter Lu Feng gegeben hatte, als sie den Leuchtturm verlassen hatten. An Zhe wusste nicht, was es war, und er dachte, dass er es auch nicht zu wissen bräuchte.

Der Oberst hatte immer seine Gründe für alle Dinge, die er tat.



______________


An Zhes gefaltete Kleidung war zur Seite gelegt worden, etwas grauer Staub befand sich im Bereich des Hemdkragens. Weder auf dem Trainingsgelände noch im Leuchtturm gab es gräulichen Staub, aber Lu Feng wusste auch, dass es eine kleine Störung in der Überwachung im Garten Eden gab, so dass es keine Möglichkeit gab, den Aufenthaltsort von An Zhe zu jedem Zeitpunkt zu ermitteln.

Lu Feng wandte den Blick ab und drückte mit dem Finger den Knopf auf dem Koffer. Der silberne Koffer öffnete sich und weiße, kalte Luft strömte aus seinem Inneren. Darin befand sich unter einer Kühlschicht eine lange und schlanke Spritze, deren Inhalt einen aquamarinblauen Farbton hatte.

Neben dem Koffer lag seine Pistole.

Nachdem sein Blick kurz auf den beiden Gegenständen verweilt war, wandte er sich um und sah An Zhe an, die Finger auf dem Schaft der Waffe ruhend.

Genau in diesem Moment drehte sich An Zhe um und lehnte sich sanft an ihn.

Er war eingeschlafen.

Wie ein kleines Tier, das sich in der schneeweißen Bettdecke zusammengerollt hatte, zeigte er einen glatten milchweißen Hals und Schultern, entspannte Augenbrauen und leicht geschwungene Wimpern. Seine Atemzüge stiegen und fielen in einem gleichmäßigen und ruhigen Rhythmus.

Ein Teil seiner Finger lugte unter der Bettdecke hervor und sie umgriffen sanft deren Rand, was ihn sehr entspannt erscheinen ließ. Nicht ein einziger Nerv war angespannt. Während er hier, ohne die geringste Wachsamkeit, schlief, war es, als schliefe er an einem... Ort, dem er von ganzem Herzen vertraute, dass er hier sicher war. Er glaubte, dass ihm an diesem Ort niemand etwas antun würde.

Lu Feng erinnerte sich plötzlich an den Tag von vor zwei Monaten. An diesem Tag waren sie sich zum ersten Mal begegnet. An Zhe hatte ihm direkt in die Augen gesehen und gesagt: „Er war wirklich nicht... verwundet.“

Er hatte sich schon längst an den Anblick von Streitigkeiten und Verleugnungen gewöhnt, und Verhöre und Wut waren Dinge, denen er sich jeden Tag unzählige Male stellen musste.

Aber das war das erste Mal, dass er ein solches Augenpaar sah.

Er stellte keine Fragen, noch weigerte er sich etwas nicht verstehen zu wollen. Dort war nur Trauer. Doch in dieser Trauer lag eine unschuldige Ruhe, als ob er alles akzeptieren und alles verzeihen würde, solange Lu Feng ihm einen Grund geben würde ihm zu verzeihen.

Er hatte noch nie auf die Bitten von jemandem gehört, aber dieses eine Mal hatte er das weiße Tuch angehoben, das den Leichnam bedeckte, um die Wunde dieser Person zu enthüllen.

Das Schwanken eines Menschen beginnt mit dem ersten Mal, wo sein Herz erweicht.


⇐Vorheriges Kapitel                                 Nächstes Kapitel⇒





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen