Kapitel 22 ~ "Komm mit mir zum Leuchtturm."

 

22.

"KOMM MIT MIR ZUM LEUCHTTURM."



SELBST ein Pilz wie er wusste, dass dies keine guten Worte waren. Aber An Zhe hatte keine Möglichkeit, sie zu widerlegen.

Er ging durch die Tür, und die Türsteher am Drehkreuz, die das ganze Geschehen beobachtet hatten, schauten ihn verärgert an, trauten sich aber nicht, etwas zu sagen.

Er verstand sie.

Die Position des Schiedsrichters war zwar nicht der höchste militärischer Rang, hatte allerdings die höchste Autorität, wenn es darum ging, Menschen zu töten. Niemand war bereit, Lu Feng in die Quere zu kommen.

An Zhe selbst war es auch nicht.

Er sagte: „Danke, Oberst.“

Kein Problem“, sagte Lu Feng, „Bitte am Nachmittag um eine Auszeit.“

... Hm?“

Lu Feng schien lässig seine Augenlider zu heben, während er sagte: „Komm mit mir zum Leuchtturm.“

Wozu?“, fragte An Zhe.

Doktor Ji braucht dich für etwas“, antwortete Lu Feng.

An Zhe war ein wenig misstrauisch, ob dieser Satz wirklich der Wahrheit entsprach. Warum sollte der Doktor ihn brauchen?

Einen Moment lang vermutete er, dass dies ein Vorwand für Lu Feng war, um ihn zu verhaften und in den Leuchtturm zu bringen, aber er hatte das Gefühl, dass seine eigene Leistung an diesem Morgen tadellos war.

Sogar Seraing hatte die Initiative ergriffen, um für ihn zu sprechen.

Dann wurde ihm plötzlich klar, dass er auch in Seraings Augen nicht sehr klug zu sein schien. Aber auch wenn er kein kluger Mensch war, so war er doch ein vernünftiger Pilz, und zum Leuchtturm zu gehen war eigentlich genau das, was er sich wünschte.

Er sagte: „Okay.“

Lu Feng antwortete mit einem vagen Brummen, dann drehte er sich um und ging.



_______________



Während die Kinder vom Drillmeister unterrichtet wurden, saß An Zhe auf einer Bank in der Nähe. Wenn der Ausbilder Hilfe brauchte - etwa bei der Punktevergabe und der Zeitmessung und so weiter - wurde er herbeigerufen.

Es gab nichts anderes zu tun und im Büro gab es auch keine Lektüre, für die er sich interessierte, so dass er nur ein Einführungshandbuch über die Bedienung verschiedener Waffen hatte mitnehmen können.

Colin setzte sich nicht zu ihm, sondern auf eine andere Bank in der Nähe. Er hatte einen neuen Freund gefunden, den Sprach- und Literaturlehrer der Nachbarklasse, ein Junge um die zwanzig Jahre alt.

Auf der Buchseite, die er gerade las, wurde ein großes Kampfflugzeug mit der Modellbezeichnung 'PL1109' beschrieben. Als ein Meisterwerk der menschlichen Wissenschaft und Technik aus der Zeit, als das Magnetfeld noch im Chaos war, hatte es eine erstklassige Abschirmung gegen Strahlung, einen erstklassigen Motor und ein unabhängiges Flugsystem, das in der gesamten Basis unübertroffen und in der Lage war, seinen Kurs auch ohne Magnetfeld genau zu bestimmen.

Es hörte sich sehr erstaunlich an, aber An Zhe hatte wirklich kein Interesse daran, und weil er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, begann er sogar leicht einzunicken.

Zu seiner Rechten hatten Colin und der Sprachlehrer einander begrüßt. Sie tauschten ihre Namen aus, dann begannen sie sich zu unterhalten, und der Wind wehte den Inhalt ihrer Unterhaltung an An Zhes Ohr.

Gefällt es dir in der Hauptstadt?“, fragte Colin.

An Zhe wusste genau, dass Colin gleich wieder anfangen würde wieder zu predigen.

Warum sollte sie mir nicht gefallen?“, fragte der Junge, „Die Hauptstadt bietet uns ein stabiles Leben.“

Auch er schien ein redseliger Mensch zu sein. Gerade als er diesen Satz beendete, fuhr er mit dem nächsten fort: „Es muss schon einen Monat her sein, dass wir in die Hauptstadt gekommen sind. Magst du es hier?“

Es zu mögen, steht außer Frage“, sagte Colin.

Wieso das?“, fragte der Junge, „Du musst hier nicht als Söldner arbeiten und dein Leben wegwerfen. Das ist etwas, woran wir früher nicht einmal zu denken gewagt hätten. Jeden Tag danke ich meiner Mutter, dass sie mich gezwungen hat, drei Kurse zu ab-solvieren, obwohl sie vor allem wollte, dass ich ein Sprach- und Wirtschaftsstudium abschließe, um später im Versorgungsdepot unterzukommen, damit ich nicht in der Wildnis leben muss.“

Colin schwieg eine Weile, bevor er fragte: „Was ist mit deiner Mutter?“

Sie starb in der Wildnis“, sagte er. „Meine Eltern hatten nicht gerade viele Jahre mit mir, um mich großzuziehen, als zunächst mein Vater nicht mehr zurückkehrte und dann kurze Zeit später auch sie.“

Das tut mir leid“, sagte Colin.

Ist schon gut“, der Junge lächelte, „Ich bin daran gewöhnt. Und was ist mit dir?“

Meine Mutter wurde vom Schiedsrichter getötet, und mein Vater... Als wir in die Hauptstadt gingen, wurde er in Distrikt 6 zurückgelassen.“

Das tut mir leid“, sagte der Junge ebenfalls.

Aber der Austausch ihrer Erfahrungen schien die beiden schnell näher zusammenzubringen. Nach einem kurzen Schweigen schaute der Junge zu den Kindern auf dem Trainingsplatz, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und seufzte: „Nachdem ich lange in der Äußeren Stadt war, habe ich ganz vergessen, dass wir als Kinder auch aus der Hauptstadt kamen, als wir noch klein waren.“

Ich erinnere mich noch ganz genau“, sagte Colin, „Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, wollte ich Biologe werden, und meine Noten waren auch gut, aber ich konnte trotzdem nicht in der Hauptstadt bleiben.“

Als ich jung war, wollte ich Offizier werden“, sagte der Junge, „Am Ende bin ich bei der Abschlussprüfung durchgefallen, und das Militär wollte mich nicht.“

Colin erwiderte: „Das Schicksal ist launisch.“

Sieh es von der positiven Seite. Unsere Intelligenz war unzureichend, also selbst wenn wir geblieben wären, dann wäre es sicher schmerzhaft für uns geworden“, sagte der Junge mit einem Seufzer, „Selbst wenn man von Anfang an in der Hauptstadt bleiben kann, so heißt das nicht, dass man auch glücklich sein kann. Ich habe gehört, dass jemand Menschheitsgeschichte studieren wollte, um dann im Archiv arbeiten zu können, aber wegen seines herausragenden Talents in Mathematik musste er sein ganzes Leben lang im Leuchtturm bleiben, um ballistische Flugbahnen zu berechnen. Stell dir vor, du willst Biologe werden, aber die Basis denkt, du wärst besser geeignet dafür Linguist zu sein und lässt dich Dokumente übersetzen. Wie schmerzhaft das wohl wäre. Wenn das mir passieren würde, dann würde ich lieber sterben.“

Das ist der Grund, warum ich die Basis nicht mag“, sagte Colin, „Sie ist eine kaltblütige und rücksichtslose Maschine.“

Du wirst gezwungen, dich selbst als einen kleinen Teil zu sehen. Ein Rädchen in einem großen Getriebe. Deine Gene sind deine Modellnummer. Sie bestimmen, in welchem Bereich du arbeitest.“

Colin zeigte ein seltenes Lächeln: „Du bist sehr amüsant.“

Der Junge sagte: „Diejenigen von uns, die Sprache studiert haben, sind ziemlich gut im Erfinden von Analogien.“

Aber Menschen sind keine Teile. Unter dem Motto, alles zu tun, um den Interessen der Menschheit zu dienen, hat die Basis stattdessen ihre menschlichen Eigenschaften verloren.“

Aber welche Alternative gibt es denn? Wir können uns nicht einfach als Schmarotzer von der Basis ernähren. Wir müssen einen Wert schaffen“, der Junge stand auf und betrachtete die Kinder vor ihnen.

Ich mag Kinder wirklich“, sagte er mit einem plötzlichen und sehr glücklichen Lächeln, „Ich mag diesen Job wirklich. Vielleicht gibt es eines Tages unter den Kindern, die ich unterrichte, ein unübertroffenes Genie, dass die ganze Welt retten kann.“

Dann sprach er mehr zu sich selbst: „Wenn das so ist, sollte ich den Unterricht wirklich ernsthafter vorbereiten.“

Das Kinn in die Hand gestützt, sah An Zhe ihn neugierig an, bevor er Colin wieder ansah. Colin sagte nichts weiter. An Zhe dachte, dass es ihm diesmal wieder nicht gelungen war, einen neuen Kameraden zu finden.

Als sie in der Äußeren Stadt waren, hatte Colin ein Plakat hoch-gehalten, auf dem 'Widersetze dich der Macht des Schiedsrichters' stand. Würde er ein solches Plakat auch noch jetzt in der Hauptstadt hochhalten? Er hatte das Gefühl, dass es nun etwas anderes sein könnte, wie 'Gegen die menschliche Klassifizierung' oder 'Wir wollen Freiheit'.

Sein Gedankengang wurde immer chaotischer, je schläfriger er wurde. Er versuchte sich auf das illustrierte Handbuch des Militärs zu konzentrieren, blätterte weiter flüchtig durch und blickte dann auf das Kapitel über Waffen. Konventionelle Bomben, Atom-bomben und Wasserstoffbomben mit unterschiedlichen Stärken könnten einen Pilz leicht in Stücke sprengen. Aber er hatte auf keinen Fall Angst. Die Menschen waren anders als die Dinge im Abgrund. Sie waren eine regeltreue Existenz, und solange er sich an die Regeln hielt, würde er leben können.

Auf diese Weise verbrachte er den Vormittag. Am Mittag beendeten die Kinder ihr Training. Ein paar der Sprösslinge hatten Beulen bekommen, und einige andere Sprösslinge fanden, dass das Training zu schwierig war. Sie gingen nicht zum Essen, sondern setzten sich stattdessen um ihn herum auf die Bank und wimmerten.

Während An Zhe einem Sprössling vorsichtig einen Verband anlegte, tröstete er ein kurzhaariges Mädchen neben ihm, das meinte, dass das Training zu schwierig war.

Halte durch. Wenn du die Ausbildung bestanden hast, kannst du Offizier werden.“

Das Mädchen fragte: „Kann ich nicht einfach jetzt schon eliminiert werden?“

Nein, das kannst du nicht“, sagte er.

Er dachte, auch wenn sie nicht in der Hauptstadt bleiben konnte, sollte sie dennoch hart trainieren. Andernfalls, wenn sie erwachsen sind - falls die Äußere Stadt bis dahin den Betrieb wieder aufgenommen hat - , würde niemand Kinder mit schlechter körperlicher Fitness adoptieren, kein Söldnerteam würde sie haben wollen, und sie würden dann den Test nicht bestehen und keine Stelle in der Verteidigungsbehörde oder im Verwaltungsamt oder im Versorgungsdepot bekommen. Sie könnten dann nur noch in das dritte Untergeschoss gehen, unabhängig von ihrem Geschlecht.

Nachdem er einen Monat lang dort gewohnt hatte, wusste er, dass die Menschen dort nicht gut lebten. Deshalb sagte er: „Ihr müsst alle hart trainieren.“

Das Mädchen umklammerte seinen Arm und sagte: „Aber auch wenn wir Offiziere geworden sind, müssen wir jeden Tag trainieren.“

An Zhe strich ihr über das Haar und dachte eine Weile nach: „Aber sie haben gut aussehende Uniformen.“

Ein Junge sah sich die Soldaten auf dem Übungsplatz an und meinte: „Die sind doch superhässlich.“

Ihre militärischen Ränge sind nicht hoch genug“, erklärte An Zhe ihm aufrichtig, „Die Uniformen werden besser, sobald man... Wenn man Oberst ist, oder so.“

Wirklich?“, fragte ein Sprössling.

Wird sie so gut aussehen wie die, die diese Person da trägt?“, fragte ein anderer Sprössling.

Welche Person?“, fragte An Zhe.

Der Sprössling deutete hinter ihn.

An Zhe drehte sich um.

An einem Strommast zwei oder drei Meter seitlich hinter ihm lehnte ein gewisser Oberst in schwarzer Uniform. Aus so kurzer Entfernung hatten die Sprösslinge unerwarteter Weise keine Angst vor ihm. Vielleicht lag es auch daran, dass dieser Oberst gerade An Zhe anschaute und er mit seinen leicht hochgezogenen Augenbrauen einen amüsierten Eindruck machte.

An Zhe waren die Worte ausgegangen.

Was er vorhin gesagt hatte, war wahrscheinlich mitgehört worden.



______________



Im Auto von Lu Feng war An Zhe eingeschlafen. In dem Moment, in dem er aufwachte, spürte er instinktiv Gefahr. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass der Wagen am Eingang des Leuchtturms angehalten hatte, und der Oberst die Wagentür auf seiner Seite geöffnet hatte und ihn von oben herab begutachtete.

Hast du letzte Nacht nicht geschlafen?“, die Stimme des Obersts war kalt genug, um Wasser in Eis zu verwandeln.

An Zhes Gehirn funktionierte immer noch nicht. Er rieb sich die Augen, um wach zu werden, und stieg dann aus dem Auto aus.

Aber weil er so schläfrig war, dass er kaum geradeaus gucken konnte, schwankte er in seinem unsicheren Gang nach vorne und kippte in Lu Feng hinein.

Zwei starke Arme fingen ihn auf und An Zhe stand schließlich fest. Er war nicht hingefallen, aber mit einem Schlag sehr viel wacher.

Im Leuchtturm war es ruhig und geschäftig wie immer. Als sie durch den Korridor im ersten Stock gingen, kamen ihnen vier Soldaten mit zwei in weißes Tuch gehüllten Leichen entgegen.

Seraing war an ihrer Seite, sein Gesicht wirkte leicht blass. Als er Lu Feng sah, erklärte er kurz und bündig: „Experimentelle Fehlfunktion. Sie wurden enttarnt.“

Lu Feng nickte leicht, dann brachte er An Zhe zum Aufzug, um mit ihm in den zehnten Stock zu fahren. Doktor Ji stand in der Mitte des Korridors im zehnten Stock: „Da seid ihr ja endlich.“

Lu Feng fragte: „Was ist denn los?“

Ich werde mir Ihr kleines Schätzchen hier für eine Weile aus-borgen“, zu An Zhe sagte der Arzt. „Komm mit mir.“

An Zhe glaubte nicht, dass er Lu Fengs Eigentum geworden war, aber er folgte trotzdem.

Der Arzt führte ihn zu dem bekannten Labor, in dem Si Nan eingesperrt worden war. Durch die durchsichtige, luftdichte Glas-wand erblickte er Si Nan. Aber es war auch wiederum nicht Si Nan. Er ging auf die Glaswand zu.

Darin befand sich etwas Schwarzes - ein schwarzes Insekt.

Es war größer als Si Nans ursprüngliche Gestalt, etwa halb so groß wie ein Erwachsener.

Oben auf dem Kopf hatte es zwei schwarze Facettenaugen, die im Lampenlicht in einem dunklen Silberglanz spiegelten. Zwischen den beiden Facettenaugen, auf der Oberseite des Kopfes, ragte ein Paar dünner, langer Fühler hervor. Lange durchsichtige Flügel hingen von seinem Rücken herab, sein Bauch war schlank und lang und mit einem dunkelgrauen Flaum bedeckt, und derselbe Flaum bedeckte auch seine Mundwerkzeuge.

Es sah aus wie eine Biene.

In diesem Moment flog es wild umher und krachte gegen die Wände des durchsichtigen Käfigs, wobei es seinen Körper ständig gegen die Glaswände schlug, als wolle es entkommen, aber sein Rumpf und seine Gliedmaßen zitterten unaufhörlich dabei, so als würde es unter extremen Schmerzen leiden.

Seine Situation ist abnormal. Es gibt große Diskrepanzen zwischen seinen Gehirnströmen und früheren Aufzeichnungen in der Datenbank. Ich vermute, dass es noch einen Teil des menschlichen Bewusstseins hat und dass es sich gegen die xenogenen Instinkte wehrt“, sagte der Arzt, „Aber keiner von uns hat eine Möglichkeit, mit ihm effektiv zu kommunizieren, deshalb haben wir dich hierher eingeladen, damit du es einmal versuchen kannst.“

An Zhe stellte sich also wieder an die Gegensprechanlage des Käfigs. „Si Nan“, sagte er. Si Nans Flügel öffneten und schlossen sich mehrmals und machten raschelnde Geräusche, wenn sie aneinander rieben. Er schien nichts zu hören und flog immer noch genauso wild durch den Raum wie zuvor.

Aber An Zhe war überzeugt, dass es einen Moment gab, in dem der Kopf mit den Facettenaugen in seine Richtung geschaut hatte. 

„Si Nan“, versuchte er es erneut, „Erinnerst du dich an Lily?“

Das Rascheln verstummte für einen Moment, doch dann rammte die graue Biene noch heftiger gegen die Glaswand. Während er Si Nan beobachtete, fragte er leise: „Hast du etwas, das du ihr sagen willst?“

Si Nans Flügel zitterten wie verrückt, aber er hatte bereits seine menschlichen Stimmorgane verloren, so dass der Arzt nur noch unregelmäßige Spitzen und Absenkungen auf dem EEG ausmachen konnte.

Doktor Ji meinte: „Es gibt Veränderungen in den elektrischen Wellen. Er versteht dich. Wer ist Lily?“

An Zhes Blick war leicht leer.

Das Gespräch zwischen ihm und Lily war ein Geheimnis, das niemand kannte, aber jetzt gab es keine andere Möglichkeit mehr.

Eine Stunde später klopfte jemand leise an die Tür des Labors.

An Zhe drehte sich um.

Das erste, was ihm ins Auge fiel, war ein schneeweißer Rock.

Gnädige Frau Lu?“, in Doktor Jis Stimme lag ein Hauch von Überraschung, „Warum sind Sie hier?“

An Zhe hob den Kopf. Die Frau, die hereingekommen war, war eine Dame mit einer eleganten, sanften Haltung.

Sie hatte langes schwarzes Haar, das am Hinterkopf locker zu einem Dutt geflochten war und sie trug eine hellblaue Maske, so dass An Zhe nur ein Paar freundliche schwarze Augen sehen konnte. Ihr Körper war etwas mollig, was ihre Ausstrahlung noch freundlicher wirken ließ.

Das Mädchen, dessen Hand sie in ihrer eigenen rechten Hand hielt, war niemand anderes als Lily, und auf jeder Seite der beiden war eine Mitarbeiterin von Garten Eden.

In den letzten drei Monaten ist die Aberrationsrate im Garten Eden angestiegen. Ich muss meinen Bericht persönlich abgeben und Sie bitten, erneut zu entscheiden“, sagte sie, „Ich habe auf meinem Weg hierher zufällig eine Anfrage vom Leuchtturm erhalten, in dem Lily um Hilfe bei einer bestimmten Aufgabe gebeten wird, also habe ich beschlossen, sie auf dem Weg hierher zu begleiten.“

Doktor Ji sagte: „Tut mir leid, dass ich Sie damit belästigt habe.“

Dieser Ausflug ist eine Ausnahme“, Frau Lu übergab Lily an Doktor Ji, „Bitte behandeln Sie sie gut.“

Bitte seien Sie beruhigt.“

Nachdem sie die Übergabe beendet hatte, drehte Frau Lu langsam ihren Kopf. Lu Feng stand in einer Ecke des Raumes, seine Augen verfolgten sie seit sie in das Labor eingetreten war.

Du bist auch hier“, sagte sie.

Lu Feng senkte seinen Blick leicht und sagte: „Mutter.“

Es scheint sich um eine sehr wichtige Forschung zu handeln“, Frau Lu schaute ihn an.

In diesem Moment stand einer von ihnen am Zimmereingang und der andere stand in der Ecke des Raumes schräg gegenüber und ihre Blicke trafen sich. Frau Lus Ausdruck war sanft, während Lu Fengs Blick ruhig war.

Als An Zhe dies beobachtete, sagte ihm eine Art Intuition, dass in ihrem Blickkontakt eine unbekannte Unterströmung herrschte, aber er konnte sie nicht verstehen.

Ungefähr zehn Sekunden später sagte Frau Lu: „Ich sollte gehen.“

Einer der beiden Mitarbeiter half ihr, sich umzudrehen, und die beiden schirmten sie vollständig ab. Die Schritte entfernten sich und Doktor Ji schloss die Tür.

Dies ist das fünfunddreißigste Jahr, in dem Frau Lu für den Garten Eden arbeitet“, sein Blick wirkte gequält, „Sie ist wirklich eine großartige Frau. Warum sprechen Sie nicht ein wenig mehr mit ihr?“

Lu Feng blickte auf die fest verschlossene Metalltür: „Wir haben uns schon sehr lange nicht mehr gesehen.“

Umso mehr ein Grund, sich mit ihr zu unterhalten. Könnte es sein, dass Ihre Arbeit am Gerichtshof Sie in diesen Jahren in dieser Hinsicht bereits kaltblütig und gleichgültig gemacht hat?“, fragte Doktor Ji, „Erinnern Sie sich, als ich noch jünger war, habe ich Ihnen sogar dabei geholfen, die Überwachung im zwanzigsten Stockwerk lahmzulegen, so dass wir ganz oft zu ihr hoch laufen konnten - die Süßigkeiten, die Frau Lu mir gab, waren immer sehr lecker.“

Doktor Ji“, sagte Lu Feng, „es kann nicht schaden, weniger zu reden.“

Doktor Ji zuckte mit den Schultern.

Drei Sekunden später sagte er plötzlich: „Ich habe damals wirklich tadellose Arbeit geleistet. Sagen Sie mir, ist nach all den Jahren die Überwachung endlich repariert worden?“

Lu Feng sah Lily an, dann schaute er zu An Zhe, der Lily anschaute, und sagte: „Sieht nicht so aus.“

Lily hatte sich bereits gegen die Glaswand gepresst. Sie betrachtete das bienenförmige Xenogenic hinter dem Glas, und eine noch nie dagewesene Freude, etwas Neues zu sehen, erschien in ihren seelenlosen Augen: „Ist das eine Biene?“

Die graue Biene lag auf dem Bauch an der Glaswand und blickte zu ihr. Schließlich hörten ihre Bewegungen für einen kurzen Moment auf, aber dann verfiel sie wieder in schmerzhafte Zuckungen.

Sie sieht aus, als hätte sie große Schmerzen.“

Lily sah An Zhe an, offensichtlich erkannte sie ihn und fragte: „Wolltest du, dass ich mir die Biene ansehe?“

Er murmelte: „Das ist Si Nan.“

Lily war verblüfft. Gerade als An Zhe dachte, sie würde einen traurigen Gesichtsausdruck zeigen, erstrahlte sie plötzlich mit einem breiten Lächeln.

Si Nan“, sagte sie zu der grauen Biene durch die Glaswand, „Du kannst jetzt fliegen.“

In ihren Augen lag weder Angst noch Unbekanntheit. Sie hatte noch nie gesehen, wie Monster Menschen töteten, noch war sie jemals gewarnt worden, sich von Xenogenics fernzuhalten. In den Augen von Kindern gab es nicht viele Unterschiede zwischen Bienen und Menschen.

Sie war nicht einmal darüber überrascht, dass Si Nan sich plötzlich in eine Biene verwandelt hatte - wahrscheinlich, weil in den Augen von Kindern die Welt so voller unvorhersehbarer Veränderungen war.

Es ist wieder durcheinander“, der Arzt schaute auf das Instrument, „Aber gerade eben, für drei Sekunden, waren seine elektrischen Wellen sehr nahe an denen eines Menschen.“

Doktor Ji klopfte Lily auf die Schulter: „Lily, komm und hilf uns bei etwas.“

Bei was denn?“, fragte Lily.

Si Nans Bewusstsein kämpft gegen das Bewusstsein der Biene. Vielleicht kannst du ihm helfen, aufzuwachen. Kannst du weiter mit ihm reden?“

Das kann ich!“, sagte Lily, „Kannst du mich auch in eine Biene verwandeln?“

Wenn du dich auch in eine Biene verwandeln würdest, würde der Garten Eden mich hinrichten“, sagte Doktor Ji trocken, „Wenn du mit ihm kommunizieren kannst, wäre es noch besser. Wir müssen wissen, wie genau er infiziert worden ist. Die Quelle der Infektion liegt im Garten Eden, aber sie wurde bisher nicht gefunden. Nur wenn wir sie so schnell wie möglich finden, können wir die Sicherheit der Hauptstadt gewährleisten.“

Okay“, Lily legte ihre Hand auf die Glaswand, „Können Sie mir dann eine Belohnung geben?“

Doktor Ji antwortete warmherzig: „Was möchtest du denn haben?“

Ich möchte nicht in der zwanzigsten Etage bleiben“, Lily drückte ihre Wange an das Glas, „Können Sie mich von dort retten?“

Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Doktor Ji, „Das übersteigt den Rahmen meiner Fähigkeiten.“

Ist schon gut. Das habe ich mir schon gedacht“, Lily schaute noch einmal die graue Biene an, „Ich werde mein Bestes geben.“

Sie hatte wirklich einen ganzen Nachmittag lang ihr Bestes gegeben, aber Si Nans Zustand schwankte zwischen gut und schlecht. Es gab nur wenige Momente, in denen er ein normales Feedback von sich gab, aber Doktor Ji zufolge hatte sich sein Zustand im Vergleich zu vorher stark verbessert und so beschloss er, Lily am nächsten Tag wieder einzuladen.

Der Arzt war mit anderen Forschungsaufgaben beschäftigt und Lily mochte den Umgang mit anderen nicht, also musste An Zhe in den folgenden Tagen Lily auch in den Leuchtturm begleiten
und mit Si Nan kommunizieren.

Um 19 Uhr war Lilys junge Kraft und Energie erschöpft.

Sie wurde zurück in den Garten Eden gebracht und An Zhe konnte ebenfalls Feierabend machen.

Am Mittag war er im Auto eingeschlafen und hatte sich Lu Fengs Zorn auf sich gezogen. Da er seine Lektion gelernt hatte, blieb er die ganze Fahrt über wach, stieg vollkommen wach aus dem Auto und nahm mit Lu Feng denselben Aufzug in den siebenunddreißigsten Stock, während er weiterhin wach blieb.

Ebenso stand er wach vor seiner eigenen Wohnungstür.

Der fest verschlossenen Wohnungstür.

Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden.

Lu Fengs Stimme, die den Unterton eines Lächelns trug, erklang hinter ihm: „Warum gehst du nicht hinein?“

An Zhe holte tief Luft.

Gestern Abend voreilig in die Rohre zu gehen, war eine der beiden größten Fehlentscheidungen, die er in seinem Leben bislang getroffen hatte. Die andere war der Entschluss gewesen, sich in dieser windigen Nacht des 14. Februars im Abgrund herum zu rollen.

Er bedauerte das zutiefst.

Natürlich verstand der Oberst das Dilemma, vor dem An Zhe nun stand. Er sagte: „Das Büro für Stadtangelegenheiten in der Hauptstadt kann ID-Karten neu ausstellen. Such dir einfach für die nächsten drei Tage einen Platz, wo du wohnen kannst.“

Mit diesen Worten öffnete er in aller Ruhe die Tür seiner eigenen Wohnung, ging hinein und machte Anstalten, die Tür zu schließen.

Auf der anderen Seite drehte sich An Zhe um und sah ihn an, seine Brauen waren gerunzelt und er biss sich leicht auf die Unterlippe, und er zeigte das Bild von jemandem, der sich wirklich abmühte. Er schien über etwas zu grübeln.

Aber Lu Feng sagte nichts, sondern sah ihn nur weiter unverwandt an.

Die Zeit verstrich schweigend.

Unerwartet drehte sich An Zhe um und drückte den Abwärtsknopf des Fahrstuhls: „Dann gehe ich zu Seraing.“


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