21.
"DANN KENNST DU DAS 'ROSENMANIFEST' AUCH NICHT."
„PIEP -“
„Piep -“
„Piep -“
Die monotonen Töne der Instrumente kamen von irgendwoher. Aber es gab auch andere Arten von Geräuschen im gesamten Raum.
„Ba-dump.“
„Ba-dump.“
„Ba-dump.“
Dieses Geräusch war einem menschlichen Herzschlag sehr ähnlich, aber es war nicht echt, denn es durchdrang den ganzen Raum. Es schien, als gäbe es in den vier Ecken des Raumes Geräte. Genau in diesem Moment kamen Schritte vom Ende des Raumes. Es waren zwei Menschen, die sich im Gehen unterhielten, während sie sich scheinbar etwas notierten.
Nach einer Weile ertönte der Klang
einer einfachen Unterhaltung
herüber.
„Bereich 4 ist normal.“
„Bereich 6 ist normal.“
„Die Entwicklung von Nummer 113 hat aufgehört.“
„Beobachte es weiter.“
„Das Zellwachstum von Nr. 334 ist abnormal. Es muss zerstört werden.“
„Nummer 334 wurde zu früh transplantiert.“
„Wir hatten keine andere Wahl, der letzte Bericht wurde nicht genehmigt. Die Oberen sind entschlossen, der hohen Abnormalitätsrate mit einer hohen Geburtenrate zu begegnen.“
„Die Abnormalitätsrate der Embryonen hat in den letzten zwei Jahren stetig zugenommen. Das ist keine kluge Entscheidung. Nur wenn der Embryo noch mindestens einen Monat länger im Körper der Mutter verbleibt, kann eine reibungslose Entwicklung des Embryos gewährleistet werden.“
„Die Blütezeit der Mütter ist zu kurz, um einen längeren Verbleib der Embryonen zu ermöglichen. Ansonsten würde auch die Geburtenrate nicht ausreichen.“
„Warum ist es nur so schwierig?“
„Sieh es mal positiv. Die Gesamtzahl der Kinder nimmt dennoch zu.“
Die Schritte entfernten sich, und alles, was blieb, waren die Herzklopfgeräusche, die noch immer den Raum durchdrangen. Das Licht im Raum war schummrig und weich. Es simulierte ein sicheres Nest, oder eher ein massives Hohlorgan. Dieser kräftige Herzschlag war wie eine Art Beweis für die Existenz von Leben.
An Zhe zog sich langsam aus dem Rohr zurück. Er fühlte ein wenig Unbehagen in seinem eigenen Körper - an diesem Ort schienen seltsame Wellen auf seinen Körper einzuwirken. Aber zum Glück, nachdem er sich die Anordnung der menschlichen Räume angesehen hatte, fand er auch seinen räumlichen Orientierungssinn wieder. Er musste in Richtung der Außenseite des Gebäudes krabbeln.
Nachdem er noch viele Male durch einige Rohren gekreist war, fand er eine hohe Anzahl an vielen kleinen Schächten, und diese Schächte führten alle zu einem kleinen quadratischen Raum nach einem anderen. Es schien, als sei es noch die Zeit, in der die Menschen noch schliefen, denn in jedem Raum schlief eine Person. Er hatte keine Möglichkeit, unter den Betten hervor-zukommen, um nachzusehen, aber er konnte schwache Atemgeräusche hören - die Atemgeräusche von Sprösslingen. Die Fenster waren versiegelt und das rote Licht der Videokameras leuchtete hoch oben in den Zimmern. Er hatte keine Möglichkeit, aus einem solchen Raum zu entkommen.
Erst nach einer weiteren sehr langen Zeit gelang es An Zhe erfolgreich einen Lüftungsschacht in der Decke eines Korridors zu finden. Vorsichtig stieg er heraus, und sein Körper breitete sich an der Decke aus, bevor er sich durch den Korridor entlang der Decke fortbewegte - die Kameras waren nach unten gerichtet, so dass sie das Bild der Decke nicht einfangen konnten.
Jedes Stockwerk im Garten Eden hatte einen ähnlichen Aufbau. Er erkannte, dass dies ein Korridor sein musste, den das Reinigungspersonal benutzte, da sich hier Lagerräume befanden, in denen Reinigungsgeräte, Werkzeuge, Haushaltswaren, Lebensmittel und Gerümpel aufbewahrt wurden.
Er wurde leicht aufgeregt. Dem Muster nach zu urteilen, befand sich nach dreiviertel des Korridors eine Tür, die zu einem mittelgroßen Balkon führte, der gelegentlich zum Trocknen von Wäsche oder von Mitarbeitern genutzt wurde, die manchmal dort rauchten.
Sehr bald fand An Zhe die Tür. Er streckte seine Hyphen aus und strömte durch den Türspalt.
Draußen war der Himmel hell - unerwarteterweise war es bereits Tag geworden.
Doch bevor An Zhe Zeit hatte, sorgfältig über seine nächsten Schritte nachzudenken, wurde seine Aufmerksamkeit vollkommen abgelenkt.
Auf dem geräumigen Balkon stand eine sehr kleine weiße Gestalt auf dem Betongeländer. Es war ein Mädchen in einem weißen Kleid. Sie hatte An Zhe den Rücken zugewandt und blickte nach unten. Langsam breitete sie die Arme aus, und ihr Körper neigte sich nach vorne - sie war im Begriff zu fallen.
Seine menschliche Gestalt materialisierte sich, und er machte einen sprunghaften Schritt nach vorne, um die Schulter des Mädchens zu ergreifen, sie vom Geländer herunterzutragen und sie auf dem Boden abzusetzen: „Du...“
Das Mädchen drehte sich um.
An Zhe war verblüfft.
Er hatte sie schon einmal gesehen, erst vor zwei Tagen. Sie war aus dem Garten Eden auf die Straße gelaufen, wo sie von Lu Feng aufgehalten und schließlich von den Mitarbeitern des Garten Eden mitgenommen worden war.
Er würde sie nicht mit jemand anderem verwechseln.
Sie sah An Zhe an. Es war ein Blick, der vollkommen seelenlos wirkte, ohne den Glanz darin, den die Kinder in An Zhes Klasse alle hatten. Einen Moment lang hatte An Zhe das Gefühl, dieses Mädchen sei eine leblose Puppe. Er wusste, dass sein derzeitiges Aussehen nicht gewöhnlich war: Er trug ein Gewand, das aus Hyphen gewebt war. Vielleicht sah er aus wie ein Mensch, der in ein Bettlaken gehüllt nach draußen gekommen war, - aber normale Menschen würden nicht in ein Bettlaken gehüllt nach draußen gehen.
Aber das Mädchen tat so, als hätte sie überhaupt nichts gesehen. Sie schien nicht zu denken, dass es irgendetwas Seltsames an An Zhes Kleidung oder an An Zhes Erscheinung gäbe. Sie schien ihn auch nicht wiederzuerkennen.
Vielleicht erinnerte sie sich auch überhaupt nicht mehr an seine Existenz. Drei Sekunden später drehte sie sich wieder langsam um und blickte über das Balkongeländer hinweg nach draußen.
Es war früher Morgen. Das Polarlicht war gerade verschwunden, und dichter weißer Nebel quoll aus der dunkelgrauen Stadt empor und wogte wie Wellen zum graublauen Himmel. Aus diesem Blickwinkel war die Hälfte des Sichtfeldes durch den nahen zylindrischen Magnetfeldgenerator versperrt. Größer und höher als alle anderen Gebäude, war er wie ein Berg, eine Insel im Nebelmeer oder eine Wendeltreppe, die den Himmel mit der Erde verband. Die Straßenlaternen flackerten zusammen mit den Sternen der Morgendämmerung, aber von einer so massiven Gestalt wurden sie in den Schatten gestellt. Das Mädchen hob den Kopf und blickte in den unendlichen Himmel darüber.
„Ich will nicht springen“, ihre Stimme war sehr jung, aber ihre Worte waren sehr klar, „Ich will fliegen.“
An Zhe sagte: „Du wirst fallen.“
Sie sagte: „Ich weiß.“
Ihr Tonfall war so ruhig, wie es sich für ein Kind ihres Alters nicht gehörte. Der Morgenwind wehte und hob ihr weißes Kleid und ihr schwarzes Haar an. In diesem Bild lag eine ungewöhnliche Zartheit und Sanftheit. Die Frauen und Mädchen draußen hatten so etwas nicht – Doussay hatte diese Eigenschaft auch besessen, aber bei diesem Mädchen war sie noch deutlicher auszumachen. An Zhe stand hinter ihr. Er hatte gerade ein menschliches Kind beschützt und gleichzeitig hatte er einen Preis dafür gezahlt. Immerhin war seine Existenz den Augen dieses Mädchens aus-gesetzt worden, und nun stand er inmitten extremer Gefahr neben ihr und konnte sich keine weiteren Schwächen mehr leisten.
Er fragte: „Warum bist du hier?“
„Manchmal ist die Überwachung eine Zeit lang gestört. Sie haben dieses Problem noch nicht entdeckt“, sagte das Mädchen, „Dann gehe ich immer raus, um mir den Himmel anzusehen.“
„Du kannst dir doch den Himmel auch während der Freizeit ansehen“, sagte An Zhe, „In welchem Stockwerk und in welcher Klasse bist du?“
Er nahm nun ernsthaft die Verantwortung eines Lehrers wahr. Er konnte nicht zulassen, dass sich ein Kind an einem so gefährlichen Ort aufhielt.
Sie sagte: „Ich bin im Garten Eden.“
„In welchem Stockwerk und in welcher Klasse des Garten Eden bist du?“
„Ich bin in keinem Stockwerk und in keiner Klasse“, sagte sie, „Nur Jungen sind dort.“
An Zhe erklärte geduldig: „In den Klassen sind auch Mädchen.“
Allein in seiner Klasse gab es viele Mädchen, wie zum Beispiel Ji Sha - obwohl sie alle ungefähr genauso aussahen wie die Jungen. Sie trugen keine Kleider oder ließen sich die Haare schulterlang wachsen so wie das Mädchen, das vor ihm stand.
„Diese Mädchen sind keine Mädchen“, sie drehte ihren Kopf und sah ihn an, „Nur die im zwanzigsten Stock und darüber sind richtige Mädchen.“
„Wie kommt das?“, fragte er.
„Das weißt du gar nicht?“, fragte sie.
„Nein, das weiß ich nicht“, sagte An Zhe.
Es war die Wahrheit. Er wusste tatsächlich sehr wenig über diese menschliche Basis.
Zum ersten Mal erschien ein anderer Ausdruck als Gleichgültigkeit auf dem Gesicht des Mädchens. Ihre Lippenwinkel hoben sich und mit leichtem Stolz in der Stimme erklärte sie: „Dann kennst du das 'Rosenmanifest' auch nicht.“
„Was ist das?“, fragte er.
Das Mädchen drehte sich um und ließ sich auf dem Geländer nieder. Die Sonne ging schwach am Himmel auf.
„Dann kennst du auch keine bakterielle Infektion, oder?“, fragte sie.
„Davon weiß ich“, entgegnete An Zhe. Er wusste tatsächlich von der Katastrophe, die zum Tod von neunzig Prozent der Menschen auf diesem Planeten geführt hatte.
„Nur Menschen mit herausragenden Genen konnten überleben“, sagte sie.
„Mm-hm“, An Zhe nickte bestätigend.
Gegen die stark mutierten Bakterien hatten menschliche Behandlungsmethoden keine Wirkung, so dass sie der Infektion nur durch angeborene Immunität entkommen konnten. Wenn die Gene eines Menschen dazu bestimmt waren, dieser Krankheit zu widerstehen, dann würde er überleben können.
„Nachdem diese Menschen überlebt
hatten, stellten sie fest, dass nur noch sehr wenige lebende
Kinder auf der Welt geboren wurden“, sie kämmte sich mit ihren
Fingern durch die Haare und hielt eine Weile inne, als ob sie ihre
Worte sortieren würde. Erst dann sagte sie: „Nachdem sie infiziert
waren, hatten die überlebenden Mädchen alle ihre Fähigkeit, Kinder
zu gebären, verloren. Nur sehr wenige von ihnen hatten
relativ
kleine Defekte, die es ihnen erlauben würden, Kinder zu
gebären.“
An Zhe sagte nichts. Sie rümpfte die Nase und fuhr fort. „Die Wissenschaftler fingen anhand genetischer Untersuchungen an, die Mädchen in Gruppen aufzuteilen. Die Regel besagt, dass wenn ein Mädchen bei der Testung weniger als sechzig Punkte hat, dann hat es die Fähigkeit, Kinder zu gebären, vollständig verloren. Bei über sechzig Punkten besteht allerdings die Chance, dass sie normale Kinder haben kann. Und dann gibt es noch das 'Rosenmanifest'. Du bist ein Junge, also hat das Manifest nichts mit dir zu tun.“
An Zhe fragte: „Was ist das Rosenmanifest?“
„Wir mussten diesen Teil auswendig lernen“, sagte sie, „Willst du es dennoch hören?“
„Ja“, antwortete An Zhe.
Mit ruhiger Stimme rezitierte sie: „Die
23.371 Frauen der vier menschlichen Basen mit einer
Fruchtbarkeitszahl von 60 und mehr haben das folgende Manifest mit
null Ablehnungsstimmen angenommen: Ich bin bereit, mich dem Schicksal
der Menschheit zu widmen und akzeptiere genetische Experimente, um
alle Formen der Fortpflanzung zu akzeptieren und um ein ganzes Leben
lang für die Fortbestand der menschlichen Rasse zu kämpfen“, sie
holte tief Luft, „So ist es. Deshalb bin ich im
20.Stock, und
ihr seid da unten. Jetzt weißt du Bescheid.“
„Danke“, sagte er, „Aber trotzdem musst du aufpassen, dass du nicht an einen so gefährlichen Ort gehst.“
„Ich werde nicht hinunter springen“, sagte sie, „Ich komme jede Woche hierher. Du bist doch auch hergekommen.“
Sie sah An Zhe wieder an und wiederholte: „Ich will mir den Himmel anschauen, deshalb bin ich hier. Warum bist du hier?“
„Ich finde den Weg nicht mehr zurück“, sagte An Zhe.
„Ich kenne den Weg“, sagte sie, „Ich habe einen Geheimgang.“
Er dachte eine Weile nach: „Ich habe auch gar keine Kleidung zum anziehen.“
„Ich weiß auch, wo die Waschküche ist“, sagte sie.
An Zhe fragte sie: „Kannst du mir sagen, wo sie ist?“
Aber sie gab keine direkte Antwort. Stattdessen fragte sie: „Bist du ein Schüler aus den unteren Etagen?“
„Ich bin ein Lehrer“, sagte An Zhe.
„Versprich mir eines“, ihre Augen schienen ein wenig an Geist zu gewinnen, während sie weiter zu An Zhe sprach, „Versprich mir eine Sache, und ich werde Kleidung für dich suchen und dich dann durch den Geheimgang nach draußen bringen.“
An Zhe fragte: „Welche Sache?“
„Finde einen Jungen im sechsten Stock namens Si Nan und sage ihm, dass mir ein Spürmittel injiziert wurde und ich deshalb nicht mehr mit ihm spielen kann“, sagte sie, „Nächste Woche um diese Zeit kommst du wieder hierher und sagst mir, was er gesagt hat.“
Er schwieg.
Das Mädchen sah ihn an und fragte: „Schaffst du das nicht?“
„Ich...“, An Zhe begegnete ihren Augen. Sie blinzelte, und nur in diesem Augenblick schien sie wie ein normales Kind zu sein.
Schließlich sagte er: „Vielleicht schaffe ich es nicht.“
Sie sagte: „Du wirst ihn schon finden. Er ist doch nur im sechsten Stock.“
An Zhe sagte nichts.
Aber sie schien ein wenig unruhig zu werden. Als sie die Balkontür aufstieß, sagte sie: „Ich gehe dir ein paar Kleidungsstücke besorgen.“
Bevor An Zhe sie aufhalten konnte, verschwand ihr weißes Kleid hinter der Tür.
Wenn der Si Nan, von dem sie sprach, der Si Nan war, den An Zhe kannte, dann war er bereits nicht mehr im Garten Eden, sondern im Leuchtturm. Aber er wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er ihr diese Information wirklich erzählte. Er wusste, dass menschliche Gefühle ihr Schmerz bereiten würden.
Also ging das Mädchen weg und kam zurück, zog ihn mit sich durch den stillen, menschenleeren Korridor und schließlich zu einer halboffenen Tür, die hinter einem Stapel von Krimskrams versteckt lag, und er wusste immer noch nicht, wie er ihr auf ihre Bitte antworten sollte.
„Wenn du hier reingehst, kannst du in den ersten Stock hinuntergehen“, sie zeigte auf die Tür.
Diese Tür stand nur einen sehr kleinen Spalt offen. Streng genommen war sie, weil sie wohl sehr lange vernachlässigt worden war, nur nicht mehr ganz geschlossen, weil sie sich etwas im Rahmen verzogen hatte. Aber das rostige Türscharnier hielt die Tür noch in ihrem Rahmen und machte es fast unmöglich, die Tür weiter als diesen Spalt zu öffnen, der es nur einem Kind ermöglichen konnte, seitlich durchzuschlüpfen.
An Zhe sagte: „Ich werde es versuchen.“
Er ging auf die Tür zu und beugte sich leicht vor. Für einen erwachsenen Menschen war es unmöglich, hier durchzukommen, aber er war schließlich ein Pilz. Unter dem Schutz seiner Kleidung verwandelte sich sein Körper kurz in Hyphen. Nachdem er die Einschränkungen eines menschlichen Skeletts verloren hatte, kam er sehr leicht durch den Türspalt.
„Dein Körper ist so weich“, sagte das Mädchen.
„Ich habe auch eine Bitte“, sagte An Zhe, „Kannst du den anderen nicht sagen, dass ich heute hierher gekommen bin?“
Das Mädchen sagte: „Wenn du nächste Woche wieder kommst...“
Ihre Stimme brach ab.
„Lily?“, eine weibliche Stimme ertönte, „Du bist wieder hergekommen.“
In der Stimme lag ein vorwurfsvoller Unterton.
An Zhe wich zur Seite aus und hörte Lily sagen: „Es tut mir leid, gnädige Frau.“
„Diesmal war ich es, die dich gefunden hat“, die Stimme der Frau, die als 'gnädige Frau' bezeichnet worden war, war sehr sanft, „Wenn sie es wieder gewesen wären, dann würdest du wieder eingesperrt werden.“
Lily sagte: „Ich werde es nicht wieder tun.“
Nach diesem Gespräch hörte man Schritte, die sich entfernten. An Zhe schaute durch den Spalt und sah, dass eine Frau in einem langen weißen Kleid Lilys Hand hielt, während ihre Gestalten allmählich in dem schwach beleuchteten Korridor verschwanden.
Lily hatte noch nicht zu Ende gesprochen, aber er wusste, was sie sagen wollte. Er schien mit Lily eine Vereinbarung getroffen zu haben. Nächste Woche musste er wieder hierher kommen und ihr sagen, was sie wissen wollte: Si Nans Antwort.
Nachdenklich schaute er sich um - es war dunkel um ihn herum, und der Geruch von Feuchtigkeit wehte ihm entgegen. Er sah schemenhaft, dass die Wände fleckig, mit abblätternder Farbe und mit graugrünen Schimmelflecken bedeckt waren und dass der Boden mit herabgefallenen hellgrauen, pulverförmigen Trümmern bedeckt war - es war eine schmale und steile Treppe. Außerdem war es offensichtlich, dass sie seit wer weiß wie vielen Jahren nicht mehr benutzt worden war.
An Zhe fand den Handlauf der Treppe und ging an ihm entlang Stück für Stück nach unten. Es gab keine Fenster, und es war noch dunkler als in der Nacht. Dieser Ort war nicht viel besser als die Rohre. Jedes Stockwerk hatte zwanzig Stufen. Während An Zhe ging, zählte er die Etagen. Als er im sechsten Stock ankam, gab es eine Lücke in der kleinen Tür des Treppenhauses, die ungefähr so groß war wie die im zwanzigsten Stock. Er verließ dort das Treppenhaus und erreichte den Waschraum des sechsten Stocks.
Das helle Licht strahlte ihn an. Die Kleidung, die Lily ihm gegeben hatte war die Standarduniform der Mitarbeiter vom Garten Eden, unter anderem ein schneeweißes Hemd - kein Unterschied zu seiner früheren Kleidung. Er ging hinaus und warf einen Blick auf die Wanduhr im Korridor. Es war sieben Uhr. Wenn er vom Garten Eden aus zur Arbeit in die Ausbildungsbasis ging, war er bereits spät dran.
An Zhe ging also die Treppe hinunter und beschleunigte seinen Gang auf die Tür zu. Der leuchtend rote Slogan 'Die Interessen der Menschen haben Vorrang vor allem anderen' war ein besonderer Blickfang an der schneeweißen Wand. Das in weiße Uniformen gekleidete Personal lief auf dem hellen Boden umher, und Kinderstimmen drangen aus der Ferne herüber. Alles war anders als im Inneren der stillen und verschlungenen Rohre.
Er hatte das Gefühl, wiedergeboren worden zu sein.
Die Glastür der Haupthalle öffnete sich, und er rannte kopfüber in jemanden hinein.
An Zhe war sprachlos.
Lu Feng.
Hinter und etwas seitlich von Lu Feng stand Seraing. Er sah, wie sich Lu Fengs Augen verengten, und in dieser Bewegung spürte er eine Aura der Gefahr. Wie erwartet, sagte Lu Feng grimmig: „Warum bist du hier?“
Angesichts dieser Person waren An Zhes Hyphen kurz davor, sich aufzubäumen. Er sollte jetzt nicht im Garten Eden sein; er sollte mit Colin in der Trainingsbasis sein.
„Ich...“, er hob den Kopf und sah Lu Feng an.
Diese eiskalten grünen Augen beobachteten ihn und schienen zu sagen: Du kannst jetzt mit deinen Lügengeschichten anfangen.
An Zhe sagte: „... ich bin in die falsche Richtung gegangen.“
Er war wirklich in die falsche Richtung gegangen und hatte sich vollkommen verirrt - unter der ganzen Stadt. Wäre er nicht zufällig in den Garten Eden gekommen, oder hätte er den Balkon nicht rechtzeitig gefunden, dann wäre er vielleicht weiterhin an diesem Ort gefangen gewesen, und hätte dann seine Identität als Mensch verloren und wäre nie wieder in der Lage gewesen, herauszukommen.
Und...
Und dieser Bastard Lu Feng würde nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.
Er senkte leicht den Blick. Aus irgendeinem Grund hatte er unerwartet das Gefühl, dass der jetzige Oberst nicht so hasserfüllt war wie früher.
Dann hörte er Seraing im freundlichen Ton sagen: „Du sollst heute doch zur Arbeit in die Ausbildungsbasis gehen. Hast du nicht bemerkt, dass sich der Ort geändert hat?“
An Zhe sagte nichts. Die Sonne erhob sich hinter dem künstlichen Magnetpol, und ihr goldenes Licht schien auf die silbernen Knöpfe von Lu Fengs Uniform.
Seraings Stimme wurde ein wenig leiser. „Und nun wirst du auch noch zu spät kommen.“
Lu Feng sagte nichts, aber er machte nun auch nicht An Zhe absichtlich das Leben schwer. Er spürte, das Lu Feng sich nach Seraings Begründung nun in seinem Urteil über An Zhes IQ bestätigt sah. Er bewegte sich zur Seite und versuchte, Lu Feng zu umgehen, um nach draußen zu gelangen.
Plötzlich ertönte Lu Fengs Stimme neben ihm: „Ich werde dich hinbringen.“
Lu Feng fuhr sehr gleichmäßig und schnell, seine Geschwindigkeit war mindestens doppelt so schnell wie die des Shuttles. Als er am Eingang zur Ausbildungsstätte anhielt, zeigte das Display im Auto an, dass es gerade erst 7:25 Uhr war, fünf Minuten bevor es Zeit war, auf Arbeit zu erscheinen. Er war nicht zu spät.
Als er aus Lu Fengs Auto ausstieg, spürte An Zhe, dass die anderen Leute, die auch zur Ausbildungsstätte gekommen waren, einen Blick auf ihn warfen. Doch er ignorierte es, denn es war nicht das erste Mal, dass man ihn ansah. An Zhe kam zum Kartenlese-Drehkreuz am Eingang.
Die Leute kamen einer nach dem anderen vorbei, zogen ihre Karten durch, um das Drehkreuz zu öffnen, und traten ein.
An Zhe erstarrte - er hatte etwas bemerkt.
Schritte kamen von hinten. Er drehte sich um und sah Lu Feng ganz dicht hinter sich stehen, der ihn nun mit hochgezogenen Augenbrauen ansah.
„... Ich habe auch meine Karte vergessen“, sagte An Zhe.
Er hörte, wie Lu Feng leise mit der Zunge schnalzte.
Zwei schlanke Finger umklammerten die blaue ID-Karte und hielten sie an den Sensor. Mit einem 'Piep' öffnete sich das Drehkreuz. Lu Feng benutzte seine eigene ID-Karte, um das Tor für ihn zu öffnen. Gleichzeitig ertönte die mit leichter Verachtung gefärbte Stimme des Oberst an seinem Ohr: „So dumm.“
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