20.
"DIESER BASTARD LU FENG."
Im schwachen roten Licht sahen ihn
die sechs runden, pechschwarzen Löcher an, als wären sie die
Facettenaugen von Insekten. An Zhe machte unbewusst einen Schritt
zurück und stieß gegen den Metalltisch. In diesem Augenblick verlor
er das Gleichgewicht, und seine Hand landete auf einer der
Schrifttafeln mit den eingravierten Worten, die sich uneben
anfühlten. Aus irgendeinem Grund war dieser eiskalte Metalltisch,
der allein in der leeren Halle stand und auf dem die Asche der
Verstorbenen lag, etwas, das ihm nun ein Gefühl der Sicherheit gab.
Er stieß einen leisen Seufzer aus, dann ging er zaghaft vorwärts, bis er die Reihe der Löcher erreichte. Er kletterte nacheinander in jedes der sechs Rohre, aber er konnte immer noch nicht die geringste Spur seiner Hyphe finden. Sie war zu dünn und hätte sich nach dem Abreißen zusammenziehen müssen, und schließlich wusste er auch nicht, in welcher Ecke sie stecken geblieben war, nachdem sie vom Wind verweht worden war.
Außerdem war es zu dunkel an diesem Ort.
An Zhe schaute sich ausdruckslos in diesem zylindrischen Raum zu alle Seiten um - vor ihm, hinter ihm, zu seiner Linken und zu seiner Rechten - lagen jeweils sechs Rohrmündungen, insgesamt vierundzwanzig an der Zahl, die alle in verschiedene Richtungen führten. Dies war die Zentrale des gesamten Belüftungssystems der Stadt.
Er wusste, dass er zwei Möglichkeiten hatte: Er musste sich beeilen, um vor Sonnenaufgang zu seinem Wohnquartier zurück zu finden und um dann die Suche am nächsten Abend fortzusetzen oder... oder er ging einfach nicht zurück.
Er könnte seine menschliche Identität von diesem Moment an aufgeben und der Person namens An Zhe erlauben, für immer und ohne eine Spur zu hinterlassen, aus der Stadt zu verschwinden.
Als Pilz könnte An Zhe eine lange Zeit in den unterirdischen Röhren umherwandern, ohne Rücksicht auf eine Tages- oder Nachtzeit nehmen zu müssen. Solange er nur intensiv genug nach dem richtigen Weg suchte, bevor er verwelkte, würde er sich in den Leuchtturm schleichen können.
Der Wind wurde stärker und er fröstelte leicht. Er wusste, dass die Entscheidung, die er im Begriff war zu treffen, sein ganzes weiteres Schicksal beeinflussen würde.
Aber selbst wenn er sich entschloss, zurückzugehen, konnte er das überhaupt? An Zhe wusste es nicht. Als er die sechs Löcher in der Richtung, aus der er gekommen war, betrachtete, biss er die Zähne zusammen und kroch in das mittlere rechte Loch. Er war sich nicht sicher, ob dies der ursprüngliche Weg war. Er konnte nur das Schicksal entscheiden lassen.
Eigentlich wäre es bequemer gewesen, in seiner Hyphenform in das Loch zu kriechen, aber drei Vertreter der Menschheit waren hier bestattet worden, und er wollte nicht, dass sie sahen, dass ein Xenogenic hereingekommen war. So kam es, dass sich An Zhe erst, nachdem er vollständig in die Röhre eingetreten war, verwandelte und zu einem Knäuel aus Hyphen wurde.
Die Hyphen beschleunigten sich und bewegten sich in die Richtung des Windes, und der Wind schob ihn auch von hinten an. An Zhe machte ein paar Kurven und passierte viele Kreuzungen. Sein Ziel war es nun nur noch, eine Rohrmündung zu finden, die mit einem Zimmer eines Menschen verbunden war - es wäre noch besser, wenn dieser Raum dann ein Fenster hätte, denn dann könnte er sich aus dem Fenster schleichen und heimlich im Schutz der Nacht die nächste Shuttle-Haltestelle finden. Das nächtliche Shuttle würde ihn bis zur Endhaltestelle in der Nähe von Gebäude 24 bringen, und dann könnte er zurück in seinen eigenen Korridor schleichen. Solange die Nacht dunkel genug war, würde ihn niemand entdecken.
Mit diesem Gedanken kroch er lange Zeit planlos durch in den Rohren umher. Als das Rohr immer schmaler wurde, tauchte schließlich ein schwaches Licht vor ihm auf. Er war an einer Rohrmündung angekommen. Es handelte sich um ein Lüftungsrohr, dessen Ausgang sich an einer Zimmerdecke befand.
An Zhe blickte von der Rohrmündung hinunter in den Raum darunter. Direkt unter ihm befand sich ein durchsichtiger zylindrischer Behälter, der eine leicht trübe Flüssigkeit enthielt, und in der Flüssigkeit schwamm ein fleischfarbenes Objekt. Es war sehr klein, etwa so groß wie zwei menschliche Fäuste. Das eine Ende eines durchsichtigen Schlauches war mit diesem fleischfarbenen Gegenstand verbunden und das andere Ende war mit einem kompliziert aussehenden Gerät verbunden.
Als er dieses Gerät betrachtete entstand ein merkwürdiges Gefühl. An Zhe konnte nicht genau beschreiben, was er fühlte; er wusste nur, dass der Behälter ein Lebewesen enthielt.
Plötzlich war er fassungslos.
Er wusste es.
Dies war ein menschlicher Sprössling.
Nein, es war ein Embryo, der Embryo eines menschlichen Sprösslings.
Weiter an der Seite befand sich ein identisches Gerät. Und nicht nur das, sondern der ganze große Raum war dicht an dicht mit solchen Behältern gefüllt. Sein Sichtfeld war eingeschränkt, so dass er nicht sagen konnte, wie groß der Raum genau war, aber er wusste, dass die Basis fünf- bis zehntausend Sprösslinge pro Jahr produzieren konnte.
Dies war kein fremder Ort - zu seiner Überraschung war er versehentlich in den Garten Eden gekommen.
An Zhe stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Garten Eden war ein Ort, der ihm vertraut war, aber gleichzeitig fühlte er sich noch mehr beunruhigt, denn er wusste, wie sehr die Menschen ihre Sprösslinge beschützten. Praktisch alle Bereiche im Garten Eden waren mit Videokameras überwacht und wurden ständig von Personal bewacht. Niemand konnte den Sprösslingen etwas antun.
Bei diesem Gedanken wurde er wieder wütend.
Wenn es in der Welt der Pilze Videokameras geben würde, hätte dann Lu Feng seine Spore ausgraben können? Doch nur drei Sekunden später entdeckte er den Fehler in seiner Logik. Selbst wenn es Videokameras gegeben hätte, so hätten sie Lu Feng nicht davon abhalten können, seine Spore auszugraben. Der Knackpunkt dieser Angelegenheit lag nicht bei den Videokameras, sondern in der Existenz dieses Bastards Lu Feng.
... Falsch.
Der springende Punkt war, wie er jetzt hier herauskommen sollte.
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