Kapitel 16 ~ "Ich hasse Sie nicht wegen dieser Dinge."

 

16.

"ICH HASSE SIE NICHT WEGEN DIESER DINGE"


AN ZHE blieb still auf seinem Platz stehen.

Der Abendwind wirbelte sein Haar auf. Er sah, wie ein silbernes Auto mit einem Garten Eden-Logo kreischend um eine Ecke bog und vor ihnen anhielt. Ein Mann im weißen Overall stürmte aus dem Wagen heraus und nahm Lu Feng das Mädchen ab: „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Der Ausdruck in Lu Fengs Augen war leer: „Seien Sie in Zukunft vorsichtiger.“

Der Mann stieg wieder in den Wagen: „Dieses Mal war es ein Unfall.“

Ohne ein weiteres Wort zog der Mann die Tür zu, das Auto sprang an und raste in Richtung des Garten Eden davon.

Lu Feng drehte sich wieder zu ihm herum. An Zhe war ein wenig verärgert. Dann sah er, wie Lu Feng ihm einen abwartenden Blick zuwarf und im gleichgültigen Ton sagte: „Ich bin also ein guter Mensch?“

An Zhe wusste endlich, wie er seine eigene Stimmung beschreiben sollte. Er dachte, dass Lu Feng mit seinen Gefühlen spielte, wenn Pilze denn auch Gefühle hätten.

Er beschloss, diesen Mann nicht mehr länger zu kennen, also drehte er sich um und ging an ihm vorbei auf die Straße.

Er hatte noch nicht viele Schritte gemacht, da drückte ihm Lu Feng auf seine Schulter. „Geh vor“, sagte Lu Feng, „Ich weiß nicht, wie ich von hier zurück in das Wohngebiet komme.“

An Zhe war verwirrt.

Er fragte: „Kennen Sie sich denn hier nicht aus?“

Ich war schon sehr viele Jahre nicht mehr hier“, antwortete Lu Feng.
An Zhe dachte eine Weile nach. Was er sagte, machte ein wenig Sinn. Wenn der Oberst nicht im Abgrund war, dann war er vor den Stadttoren, so dass er vielleicht schon seit mindestens sieben Jahren nicht mehr in der Hauptstadt gewesen war. Er selbst hingegen hatte bereits einen Monat lang in der Hauptstadt verbracht und kannte daher den Weg zurück.

Also fragte er: „Wo wohnen Sie?“

Lu Feng schien eine Weile nachzudenken, bevor er einen blauen Ausweis aus seiner Brusttasche zog und ihm ihn reichte. An Zhe nahm ihn entgegen. Sogar das dekorative Muster auf der Karte des Oberst unterschied sich von seiner Karte. Er schaute nach unten und sah, dass auf der Rückseite der Karte eine Zahlenreihe in Gold aufgedruckt war:

3124043701.

An Zhe erinnerte sich an seine eigene neue ID-Nummer und sagte ausdruckslos: „Ich bringe Sie hin.“

Der Oberst schien seinen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben: „Bist du nicht bereit dazu?“

Doch, bin ich.“

So setzte er sich mit Lu Feng im Schlepptau in das kostenlose Shuttle. Es gab Sitze auf beiden Seiten und die Sitze waren paarweise zusammenhängend angeordnet. Er setzte sich an einen Fensterplatz und Lu Feng setzte sich neben ihn. Lu Feng war ein gut aussehender Mann, und in Verbindung mit der imposanten und ordentlichen Gerichtsuniform war er in der Menge sehr auffällig. Als sie einstiegen, sahen alle Leute im Inneren des Busses sie an.

An Zhe sagte: „Steigen Sie an der letzten Haltestelle aus.“

Danke“, sagte Lu Feng. „Wo wohnst du?“

Ich wohne in Ihrer Nähe.“

In Ordnung.“

Das ursprüngliche Wohngebiet für die Arbeiter des Gartens Eden war in der Nähe, aber An Zhe war ein Nachzügler, und das militärische Wohngebiet, dem er zugewiesen worden war, war weit entfernt. Das Shuttle hielt an einigen Stationen und fuhr immer weiter, und es vergingen fast vierzig Minuten, bis es die letzte Haltestelle erreichte, wo er aussteigen musste.

Die Sprösslinge des Garten Eden sahen sehr brav aus, aber das waren sie eigentlich nicht, vor allem wenn sie über dies und das fragten. Am Ende eines jeden Tages war An Zhe daher immer für eine Weile lethargisch - so wie jetzt gerade.

Früher hätte er sich an das Wageninnere gelehnt und ein Nickerchen gemacht, aber heute saß Lu Feng neben ihm, und
da war es besser, wach zu bleiben.

Also stützte An Zhe sein Kinn in die Hand und betrachtete die Landschaft draußen, wie die Zwillingstürme, den Garten Eden und andere verschiedene Gebäude und Strukturen. Es war schon fast zwei Monate her, seit er in der Menschenstadt lebte, aber er hatte immer noch das Gefühl, zu träumen.

Als er hinschaute, sanken An Zhes Augenlider allmählich herab.
Und dann verlor er das Bewusstsein.



_______________



Die sanfte Roboteransage ertönte: „Wir sind an der Endhaltestelle angekommen. Fahrgäste, bitte steigen Sie geordnet aus und bis zum nächsten Mal.“

Lu Feng sah An Zhe an, der während der Fahrt gegen seine Schulter gefallen und dort angelehnt eingeschlafen war. Das Licht der untergehenden Sonne drang durch das Fenster, und ein goldener Schimmer umspielte die Enden von An Zhes Wimpern. Er wirkte im Schlaf sehr ruhig, und das sanfte Auf und Ab seines Atems war die einzige Bewegung. Er sah aus, als hätte er keinerlei Aggressivität oder Wachsamkeit oder Vorsicht gegenüber allem, was draußen vor sich ging, wie ein Kind, das noch nicht erwachsen ist. Lu Feng dachte, dass es nicht schlecht wäre, wenn er so weiterschliefe.

Aber sofort verlangsamte sich das Shuttle und kam langsam zum Stehen. Die Leute an Bord standen einer nach dem anderen auf, und ihre Schritte erklangen im Gang.

An Zhe öffnete seine Augen.

Er stellte fest, dass er so gut geschlafen hatte wie noch kein einziges Mal zuvor.

Sein Blick wanderte langsam zur Seite, und er sah schwarzen Stoff und ein silbernes Abzeichen. Mit einem Schreck richtete er sich auf und sah Lu Feng, der ihn mit einem Blick beobachtete, der keineswegs kalt war; es schien, als sei er nicht wütend geworden wegen dem, was gerade passiert war. Lu Feng sagte: „Lass uns gehen.“

An Zhe rieb sich die Augen. Er konnte immer schnell einschlafen und genauso gut schnell wieder aufwachen. Er folgte Lu Feng aus dem Shuttle, und der Abendwind brachte ein leichtes Frösteln mit sich. Er deutete auf ein Gebäude in der Ferne: „Gebäude 24 ist dort drüben.“

Lu Feng sprach ein kurzes Wort des Dankes und ging dann in diese Richtung.

An Zhe folgte ihm.

Auf halbem Weg sagte Lu Feng: „Es reicht, dass du mich bis hier hin begleitet hast.“

Ohne etwas zu sagen, folgte An Zhe ihm weiter.

Bei Einheit 04 drückte Lu Feng den Knopf für den siebenunddreißigsten Stock, und so fuhr auch An Zhe mit dem Aufzug in den siebenunddreißigsten Stock. Natürlich hätte es bei der einfachen Wahl zwischen Tür Nr. 01 und Tür Nr. 02 auch keine weitere Hilfe gebraucht.

An Zhe betrachtete die Reste des Siegels, das nun komplett von der Tür von Nr. 01 abgerissen worden war, und dachte, dass dieser Oberst noch immer nicht wusste, dass sein abscheuliches Verhalten schon längst durchschaut worden war.

Das Siegel an der Tür seines Nachbarn auf der anderen Seite des Flurs, Nr. 01, war vor einem Monat abgerissen worden. Er hatte es persönlich gesehen. Das bedeutete, dass Lu Feng damals eine Nacht hier verbracht hatte, so dass es nicht möglich war, dass er nicht den Weg zu diesem Gebäude kannte.

Und Lu Feng machte die falsche Behauptung, er kenne den Weg nicht und wollte, dass er ihm den Weg zeigte. Das bedeutete, dass Lu Feng sich über ihn lustig machte und ihn zu wertloser und unnötiger Arbeit zwang.

Als er jedoch Lu Fengs Ausweis sah, brach die Lüge des Mannes in sich zusammen. In diesem Moment hörte er Lu Feng sagen: „Du bist wirklich sehr pflichtbewusst.“

Dieser Mann glaubte wirklich, er tue gewissenhaft sein Bestes, um ihn den Weg zu weisen - bei diesem Gedanken wurde An Zhes noch unbarmherziger. Er sah Lu Feng an, und Lu Feng schaute ihn an.

Lu Feng nachahmend, drehte sich An Zhe gleichgültig um und ging zur Tür von Nr. 02 und legte seine blaue ID-Karte auf den Sensor.

Der Sensor gab einen scharfen 'Piepton' von sich und leuchtete grün auf. Dann gab es ein 'Klick', als sich das Türschloss automatisch öffnete.

An Zhe drehte sich um und sah Lu Feng an. Lu Feng war kurz fassungslos und sagte dann: „Was für ein Zufall.“

An Zhes Gesicht war ausdruckslos.

Was ist denn?“, in Lu Fengs Augen schien eine leichte Frage zu stehen, aber nur eine Sekunde später schien er alles zu verstehen. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich und auch seine Lippenwinkel hoben sich ebenfalls zu einem Lächeln an.

„Ich habe dich nicht angelogen“, sagte er, „Ich hatte nach unserer Ankunft hier eine nächtelange Vorkriegsbesprechung und direkt danach bin ich auch wieder in die Äußere Stadt aufgebrochen.“

Das Siegel“, entgegnete An Zhe trocken.

Das Militär wusste, dass ich in die Hauptstadt zurückgekehrt war, und schickte Leute her, um aufzuräumen“, sagte Lu Feng.

Oh.“

Aber An Zhe hatte nicht vor, diesem Mann noch einmal zu glauben. Er wandte sich ab und trat in seine Wohnung ein. Genau in diesem Moment ertönte an Lu Fengs Tür plötzlich ein durchdringendes und eiliges 'Piep - '.

Er drehte sich um und sah, wie Lu Feng seine Karte durchzog, aber obwohl die richtige Karte eindeutig an den Sensor gehalten wurde, leuchtete dieser rot auf.

Lu Feng runzelte die Stirn.

An Zhe sah ihn misstrauisch an.

Dann sah er, wie Lu Feng eine Nummer in seinen Kommunikator wählte und kurz die aktuelle Situation erläuterte.

Das Geräusch einer Erklärung kam vom Sprecher am anderen Ende.

Nachdem er aufgelegt hatte, schaute Lu Feng An Zhe an und sagte: „Vor drei Jahren wurden die ID-Karten der Hauptstadt aktualisiert, aber bei meiner wurde das wohl nicht rechtzeitig gemacht.“

An Zhe dachte, dass er Lu Feng vielleicht wirklich zu Unrecht beschuldigt hatte.

Aber, aber... Die Straßen der Hauptstadt waren überhaupt nicht kompliziert, und die Gebäude hatten alle auffällige Nummern. Einmal im Shuttle, wusste selbst ein Pilz wie er, wann er aussteigen musste. Einen Moment lang schwankte er. Aber am Ende sagte er seiner Spore zuliebe: „Möchten Sie dann... erst einmal zu mir nach Hause kommen?“

Lu Feng akzeptierte bereitwillig.

Nachdem er den Schiedsrichter eingeladen hatte, sich auf das Sofa zu setzen und An Zhe den Fernseher eingeschaltet hatte, ging er in die Küche. Bevor er die Küche betrat, fragte er: „Haben Sie schon etwas gegessen?“

Lu Feng antwortete, er habe noch nicht gegessen.

Ursprünglich wollte An Zhe damit andeuten, dass er nach unten in den gemeinsamen Speisesaal gehen könne, um zu essen, aber Lu Fengs Antwort enthielt eine versteckte Andeutung - sie bedeutete, dass An Zhe heute für zwei Personen kochen musste.

An Zhe schnitt zwei weitere Kartoffeln. Der Speisesaal der Hauptstadt lieferte sowohl Lebensmittel als auch Rohstoffe.
In diesem Monat hatte er sich allmählich daran gewöhnt, seine eigene Suppe zu kochen - sie war dicker und köstlicher als die aus dem Speisesaal.

Nachdem er die Kartoffeln und die geräucherten Schweinefleischstücke mit Wasser und Milch in den Topf gegeben hatte, schaltete er den Herd ein, deckte den Topf zu und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Die Nachrichten verkündeten, dass die Restaurierungsarbeiten im Ultraschalldispersionsgerätezentrum reibungslos verliefen. Lu Feng saß auf dem Sofa und schaute in sein Lehrbuch. Er war scheinbar gut gelaunt.

Wenn dieser Mann gut gelaunt war, tyrannisierte er gerne andere. Wenn er schlecht gelaunt war, ignorierte er andere wie zum Beispiel vor einem Monat im Zug, als er anscheinend überhaupt nicht mit An Zhe sprechen wollte.

Nachdem das impulsive Gefühl, belogen worden zu sein, abgeklungen war, beruhigte sich An Zhe. Während er in der Küche Kartoffeln geschnitten hatte, hatte er ernsthaft über die Beziehung zwischen ihm und Lu Feng nachgedacht.

Der Schlüssel, um seine Spore zu finden, lag im Aufbau einer guten Beziehung zu Lu Feng.

Die Voraussetzung für eine gute Beziehung zu einem Menschen
beruhte auf dem Verständnis seiner Vorlieben.

An Zhe setzte sich also neben Lu Feng und sah, dass Lu Feng ein Gedicht aus dem Lehrbuch betrachtete, das die Herbstlandschaften beschrieb.

Du unterrichtest das?“, fragte Lu Feng.

Ich lerne selbst noch“, sagte An Zhe.

Lu Fengs unaufgeforderte Frage hatte An Zhe noch mehr davon überzeugt, dass der Mann gut gelaunt war.

Also sagte er: „Oberst.“

Lu Feng legte das Lehrbuch beiseite und sah ihn an: „Was ist denn?“

Damals, im Zug...“, An Zhe murmelte und senkte langsam den Blick, „Sie wirkten da so, als würden Sie nichts mit mir zu tun haben wollen. Habe ich etwas falsch gemacht?“

Lu Feng sah ihn mit einem tiefen Blick an.

Nein“, sagte er, „Es ist mein Problem.“

Das ist es.“

Interessiert es dich?“

... Ähm.“

Nach einem kurzen Schweigen streckte Lu Feng eine Hand aus. Seine Finger verweilten kurz auf der Haut an An Zhes Hals, dann wanderten sie hinunter und zogen die Patronenhülse an ihrer Schnur heraus, die um seinen Hals hing.

An Zhe hob den Kopf und schaute Lu Feng an, leicht in Panik. An welchem Punkt Lu Feng die Existenz der Patronenhülse um seinen Hals entdeckte hatte, wusste er nicht.

Ich habe die Chefin des Schwarzmarktes getötet. Zu dieser Zeit warst du an ihrer Seite. Hast du unter ihr gearbeitet?“

An Zhe schüttelte den Kopf: „Ich war nur für Herrn Shaw tätig.“

3260563209, vor den Toren der Stadt“, fuhr Lu Feng fort, „War er dein Teamkollege oder dein Lebensgefährte?“

Mein Freund.“

Die Patronenhülse an seinem Hals haltend, fragte Lu Feng weiter: „Wer war das?“

An Zhe sagte nichts. Er konnte es nicht sagen, aber Schweigen war auch eine Form der Antwort.

Nach dem Schweigen fragte Lu Feng nicht weiter und stopfte einfach die Patronenhülse wieder unter An Zhes Kragen.

Ich habe viele Menschen getötet. Aber bei den letzten Massen-morden warst du immer dabei“, sagte er leise, „Unter diesen Umständen überrascht es mich sehr, dass du immer noch sagen kannst, dass ich ein guter Mensch bin.“

An Zhe dachte zurück und entdeckte, dass die Dinge tatsächlich so waren. Als sie sich das erste Mal trafen, hatte Lu Feng gerade Vance getötet. Bei ihrem zweiten Treffen war es Doussay ge-wesen. In dieser Nacht waren die Xenogenics in die Stadt eingedrungen, und er hatte auch dreiundsiebzig andere Menschen getötet. Einen Monat später stand An Zhe innerhalb der Isolations-mauer und wurde Zeuge, wie der Tag des Jüngsten Gerichts mit zahllosen Schüssen unzählige Opfer forderte.

Im Zug, der die Äußere Stadt verließ, erteilte Lu Feng den Befehl, Distrikt 6 mit einer Atombombe zu bombardieren. Lu Feng hatte viele Menschen getötet, zu denen er Verbindungen gehabt hatte. Das hinderte ihn jedoch keineswegs daran zu glauben, dass Lu Feng ein guter Mensch war.

Erstens wusste er, dass Lu Feng sehr genau in der Unterscheidung von Xenogenics war.

Zweitens, selbst wenn er von Lu Feng als Xenogenic erkannt und getötet worden wäre oder als Distrikt 6 bombardiert wurde, er noch dort gewesen wäre, weil ihm Lu Feng nichts von der Rekrutierung des Städtischen Verwaltungsamtes gesagt hätte und er dann dort gestorben wäre, so würde dies an der Tatsache nichts ändern, dass er so über Lu Feng dachte. Wenn man in Rom ist, tut man, was die Römer tun. Er war in die menschliche Basis gekommen, also musste er die Regeln der Menschen akzeptieren.

Aber Lu Feng war die Person, die die Todesurteile vollstreckte.

Sind Sie... deswegen traurig?“, fragte An Zhe.

Nein“, sagte Lu Feng und sah ihn an, „Ich weiß, was ich tue.“

Dann...“, An Zhe schaffte es nur, dieses eine Wort zu sagen. Lag das an einer Art Gefühlsschwankung?

Aber Lu Feng schien zu wissen, was er dachte.

Ich habe nicht gegen die Prinzipien verstoßen“, sagte er, „aber niemand wird kommen, um festzustellen, ob ich Recht habe oder nicht.“

An Zhe erinnerte sich, was der junge Richter Seraing zu ihm gesagt hatte. Er fragte: „Sie sind sich also nicht sicher, ob Sie richtig getötet haben oder nicht?“

Nein, ich bin mir sicher“, Lu Feng schaute aus dem Fenster. Seine grünen Augen waren wie eisige Seen, in denen eine leere und ferne Stille lag. „Ich denke nur manchmal nach über ... die Entscheidungen, die ich getroffen habe. Worüber urteile ich, und wer wird am Ende über mich urteilen?“

An Zhe verstand seine Worte nicht ganz. Er dachte nur, dass wenn Menschen verrückt werden, dann sprechen sie vielleicht Unsinn, den andere nicht verstehen.

Aber er hatte auch das Gefühl, dass er es verstanden hatte. Als er Lu Feng ansah, sagte er: „Ich hasse Sie nicht wegen dieser Dinge.“

Nach einer Pause fügte er hinzu: „Sie haben nichts falsch gemacht.“

Lu Feng sah ihn an, und es entstand ein langes Schweigen. Es war so lange, dass An Zhe eine Illusion spürte - diese Augen waren keine eisigen Seen, sondern eher ein sanftes, kaltes Gewässer.

Langsam senkte sich die Dämmerung über den Raum. Lu Feng streckte seine rechte Hand aus und zerzauste An Zhes Haar.

An Zhe senkte seinen Blick leicht. Das Gefühl, vom Schieds-richter auf den Kopf gestreichelt zu werden, war sehr wundersam. Er spürte, dass Lu Feng jetzt sehr sanft war. Wenn es daran lag, dass seine Worte diesen Mann trösteten, würde er sich ziemlich glücklich fühlen. Also lächelte er Lu Feng an. Dann sah er, wie Lu Fengs Blick schelmisch wurde, und die Finger, die seinen Kopf gestreichelt hatten, bewegten sich nach unten und zwickten ihn in die Wange.

An Zhe hatte das Gefühl, dass es besser war, wenn dieser Mann in schlechterer Laune war, denn dann würde er wenigstens nicht wahllos andere schikanieren.

Er floh vor Lu Feng: „Ich muss nach dem Essen sehen.“

Aha.“

An Zhe kehrte in die Küche zurück und stellte fest, dass, wie erwartet, das Wasser bereits zu kochen begonnen hatte und der Schaum aufgestiegen und fast den Topfdeckel durchbrochen hatte.

In diesen Tagen hatte er eine ausreichende Anzahl von Koch-techniken erlernt. Er hob den durchsichtigen Topfdeckel an und der weiße Dampf und die Blasen verschwanden schnell. Das geräucherte Schweinefleisch war vom kochenden Wasser durch-tränkt worden und auch die Ränder der kleinen Kartoffel-stückchen hatten sich abgerundet. Die kleine Menge Milch machte die Suppe leicht weiß und in dem frischen und salzigen Duft, der nach oben wehte, lag ein Hauch eines zarten und anhaltenden süßen Duftes. Dieser Geruch gefiel An Zhe sehr gut. Er nahm eine nahe gelegene Schöpfkelle in die Hand und zerdrückte mit der Unterseite die aufgeweichten Kartoffelstücke.

Während sie gerührt und püriert wurden lösten sich die kleinen Stücke allmählich in der Suppe auf, und die Kartoffelsuppe wurde zusehends dickflüssiger. Irgendwann war auch Lu Feng in die Küche gekommen. Er lehnte sich gegen den Türrahmen und fragte: „Soll ich dir helfen?“

An Zhe rechnete natürlich nicht damit, dass der mächtige Oberst mit der Küchenarbeit vertraut war, also sagte er: „Nicht nötig.“

Aber Lu Feng ging nicht weg. Er blieb nur da stehen und beobachtete An Zhe. Dann wanderte sein Blick durch die Küche.

Er sah sich in dem kleinen Raum um.

Schließlich blieb sein Blick auf dem silbernen Wasserhahn über dem Waschbecken hängen: „Ist er undicht?“

Mm-hm“, bestätigte An Zhe.

Seit dem ersten Tag, an dem er eingezogen war, war der Wasserhahn in der Küche undicht gewesen.

Egal, wie fest er ihn zudrehte, das Wasser tropfte. Tagsüber war das Geräusch nicht zu hören, aber in der tiefen Nacht, wenn sogar die Lichter der entfernten Zwillingstürme erloschen waren, hallte das sich wiederholende Geräusch von tropfendem Wasser durch die Räume und störte manchmal seinen Schlaf - obwohl die Störung des Schlafes an zweiter Stelle stand.

Vor allem aber befürchtete er Tag für Tag, dass er eine höhere Wasserrechnung bezahlen müsste.

Aber dann sah er, wie Lu Feng seinen Mantel auszog und beiseite legte, die Ärmel seines Uniformhemds hochkrempelte und seine Hand hob, um das schwarze Ventil oben an der Wasserleitung zu schließen - das war ein Ort, den jemand von An Zhes Größe nicht erreichen konnte.

Dann schraubte er den Wasserhahn auf.

An Zhe beobachtete schweigend seine Bewegungen. Er spürte, dass Lu Feng nur zwei Möglichkeiten hatte: Die eine war, dass er nun willentlich seinem Wasserhahn den Rest gab und die andere, dass er wirklich helfen wollte, den Wasserhahn zu reparieren.

Rational gesehen glaubte er, dass es Ersteres war, aber gefühlsmäßig war er eher bereit, das Letztere zu glauben.

Genau in diesem Moment klopfte jemand an die Tür.

Lu Feng war dabei, den Wasserhahn zu zerlegen. Ohne auch nur den Kopf zu heben, sagte er: „Geh.“

Seine Art zu sprechen war so selbstbewusst, als wäre er der Besitzer dieser Wohnräume.

An Zhe, der eigentliche Besitzer, legte die Kelle ab, ging hinüber zum Eingang und öffnete die Tür. Es war ein Soldat in einer
Militäruniform. Der Mann sah sich im Wohnzimmer um und sagte: „Oberst Lu hat mich hierher bestellt.“

Seine Stimme war sehr laut.

Die ruhige Stimme von Lu Feng kam aus der Richtung der Küche: „Hier drüben.“

Der Soldat ging zur Tür, schlug seine Fersen aneinander und salutierte: „Oberst Lu, ich bin von der Logistikabteilung. Die Vernachlässigung des Problems mit Ihrer ID-Karte war der Fehler unserer Betriebs-“

Seine Worte wurden plötzlich unterbrochen, und sein Blick richtete sich auf die Wasserhahnteile in Lu Fengs Hand. Mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er einen Geist gesehen, fuhr er dann fort: „... Dafür möchten wir uns aufrichtig entschuldigen und-“

Hör auf zu schwatzen“, sagte Lu Feng und unterbrach ihn kalt.

Der Soldat sagte: „... Ich bin hier, um Ihnen Ihre neue ID-Karte zu bringen.“

Danke“, Lu Feng schaute ihn nicht einmal an, während er zwei Teile mit beiden Händen wieder zusammenschraubte, „Sie können sie da hinlegen.“

Neben der Spüle stapelten sich Kartoffelschalen und daneben war das Küchenmesser.

In der Spüle war Wasser.

In den Händen des Obersts befanden sich Teile des Wasserhahns.

Der Soldat hielt den Ausweis in der Hand und wusste einen Moment lang nicht, wo er ihn hinlegen sollte. An Zhe konnte nur mit leiser Stimme sagen: „Sie können die Karte mir geben.“

Nachdem er die ID-Karte an sich genommen hatte, verabschiedete er den Besucher.

Am Eingang warf der Soldat noch einmal einen Blick auf den Oberst in der Küche und schaute dann zu An Zhe. Er senkte absichtlich seine Stimme, aber da seine Stimme von vornherein schon sehr laut war, war sie auch dann noch nicht leise, als er sie gesenkt hatte: „... Was macht der Oberst da?“

Er repariert den Wasserhahn.“

Der Oberst weiß, wie man Wasserhähne repariert?“, der Soldat schaute ihn misstrauisch an, „Dann sind Sie und er...“

Im Moment sind wir Nachbarn.“

Und was war vorher?“

Früher...“, An Zhe erinnerte sich, wie sie im Bett des jeweils anderen geschlafen hatten, „Freunde, nehme ich an.“

Die Mundwinkel des Soldaten zuckten unnatürlich: „... Ahaha.“

Er schien An Zhe nicht zu glauben. Vielleicht lag es daran, dass Lu Feng nur selten die Wasserhähne anderer Leute auseinander nahm. An Zhe schickte den Soldaten weg.

Als er in die Küche zurückkehrte, sah er, dass der Wasserhahn wieder an seinem ursprünglichen Platz installiert war. Lu Feng drehte das Ventil auf. Der Wasserhahn leckte überhaupt nicht mehr.

Wow“, sagte An Zhe.

Während er den Wasserhahn betrachtete, stellte er fest, dass der Oberst nicht unbedingt immer abseits stand und sich weigerte, andere wahrzunehmen, sondern auch, dass dieser Mann zu wissen schien, wie man alles macht.

Er sagte: „Sie sind wirklich erstaunlich.“

Seine Stimme war immer noch sanft und sehr zart. Das Aroma der Kartoffelsuppe hatte sich bereits vollständig verflüchtigt und schien den gesamten Raum mit dem dichten Dampf zu füllen. Ohne einen Hauch von Emotion erwiderte Lu Feng: „Du bist auch nicht übel.“

Nachdem die Kartoffelsuppe fertig gekocht war, teilte An Zhe die Suppe in zwei Schüsseln auf und reichte dazu zwei Päckchen Kräcker als Grundnahrungsmittel. Lu Feng sah aus, als wäre er sehr gut gelaunt, aber An Zhe hatte keinen Appetit. Er zerbrach sich den Kopf, weil er von Lu Feng einige Informationen über den Leuchtturm bekommen wollte, und so stellte er Lu Feng eine Reihe von Fragen.

Was werden Sie als nächstes tun?“

Ich warte auf Anweisungen.“

Werden Sie in den Zwillingstürmen arbeiten?“

Vielleicht.“

Haben der Leuchtturm und das Militär oft miteinander zu tun?“

Nein.“

Der Arzt arbeitet im Leuchtturm... Kennen Sie ihn sehr gut?“

Nein“, Lu Feng Gesicht wurde ausdruckslos.

Die unverhohlene Kälte ließ An Zhe den Gedanken aufgeben, seine Befragung fortzusetzen, aber damit so abrupt aufzuhören erschien ihm dann doch zu verdächtig, also fuhr er fort: „Dieses kleine Mädchen heute...“

In der nächsten Sekunde sah Lu Feng ihn finster an.

Stell keine Fragen, die du nicht stellen solltest“, sagte er, „und sprich nicht, während du isst.“

An Zhe hielt enttäuscht den Mund. Als das Essen zu Ende war, hatte er noch nichts über seine Spore erfahren, aber die Stimmung des Schiedsrichters ihm gegenüber schien sich sehr verbessert zu haben.

An Zhe öffnete die Tür und ließ Lu Feng hinausgehen. Lu Feng sagte: „Auf Wiedersehen.“

Auch An Zhe sagte: „Auf Wiedersehen.“

Er sah, wie Lu Feng die neue ID-Karte an den Sensor hielt. Das grüne Licht leuchtete auf und das Schloss öffnete sich erfolgreich. Lu Feng stieß die Tür auf.

Dann bewegte er sich plötzlich nicht mehr, seine ganze Person schien zum Stillstand gekommen zu sein.

Für den Oberst war diese Art von Verhalten sehr seltsam.

An Zhe steckte heimlich den Kopf heraus und schaute ins Innere des Raumes. Bei diesem Blick erstarrte auch er.

Der Raum war nicht leer.

Neben dem Sofa, das direkt dem Eingang gegenüberstand, stand ein großer geöffneter Koffer, und auf dem Sofa saß ein Offizier in schwarzer Uniform aufrecht sitzend. Dieser Offizier hatte schwarzes Haar und grüne Augen und starrte kalt auf die Tür. Der in der Tür stehende Lu Feng drehte sich um und schaute An Zhe mit einem identischen Blick an.

... Ich war das nicht“, sagte An Zhe.

Er war es wirklich nicht.

Seit seiner Verhaftung hatte er die Schaufensterpuppe des Schiedsrichters nie wieder gesehen, und er nahm sogar an, dass das böse Ding zusammen mit Distrikt 6 in die Luft gesprengt worden war. Warum sollte es in der Wohnung von Lu Feng auf-tauchen?

Genau in diesem Moment klingelte Lu Fengs Kommunikator. Die Stimme der anderen Person war sehr laut, denn es war der Soldat
aus der Logistikabteilung, der vorhin gekommen war, um die neue Karte zu überbringen: „Herr Oberst, sind Sie in Ihr Quartier zurückgekehrt? Kann der neue Ausweis normal benutzt werden?“

Ja, danke“, sagte Lu Feng, „Aber ich möchte gerne wissen, was das mit der Schaufensterpuppe in meinem Wohnzimmer zu bedeuten hat?“

Die Schaufensterpuppe?“, der Soldat am anderen Ende der Leitung war zunächst ein wenig unsicher, aber dann hatte er plötzlich eine Erleuchtung, „Damals, also während der Notfall-evakuierung des Gerichts, haben wir wichtige Dokumente und Güter gerettet, und die verantwortlichen Soldaten vor Ort sahen die Puppe und glaubten, es könnte ein wichtiges militärisches Werkzeug sein, also brachten sie es her. Wir wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten, also brachten wir die Puppe in Ihr Quartier.“

Lu Feng wiederholte einen Satz: „Wichtiges militärisches Werkzeug?“

In der Tat. Wir sind zwar in der Hauptstadt, aber wir wissen auch, dass es in der Äußeren Stadt einige reaktionäre Gruppen gab, die gegen das Prozessgericht demonstriert haben. Wir dachten uns, dass die Nachbildung Ihrer Person vielleicht eines der Werkzeuge des Gerichts waren, um den Feind zu ködern. Außerdem schienen die Herstellungskosten sehr hoch gewesen zu sein...“, der Mann redete endlos.

Lu Feng sagte kein einziges Wort mehr.

Die andere Person bemerkte schließlich, dass etwas nicht stimmte: „Herr Oberst, habe ich etwas Falsches gesagt?“

Nein, haben Sie nicht. Ich danke Ihnen“, Lu Feng legte auf.

Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er zu An Zhe: „Komm her.“

An Zhe fühlte tiefe Verzweiflung. Er war in seinem letzten Fall nicht verurteilt worden, und nur wegen eines plötzlichen Wurm-angriffs hatte er aus dem Gefängnis entlassen werden können. Jetzt, wo die schmutzige Ware wieder aufgetaucht war, würde der Schiedsrichter die Vergangenheit wieder aufrollen und ihn verurteilen?

Er ging hinüber.

Lu Feng hob achtlos die Schaufensterpuppe vom Sofa auf, legte sie zurück in den Koffer und schob den Koffer zu An Zhe.

Verständnislos drückte er An Zhe den Griff des Koffers in die Hand.

Für dich“, sagte Lu Feng und ließ An Zhe mit diesen Worten ratlos zurück.



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