15.
"GEH NICHT GELASSEN IN DIE GUTE NACHT"
„Geh nicht gelassen in die gute
Nacht...“
An Zhe und Colin gingen durch einen langen und schmalen weißen Korridor. Neben ihnen ertönte der synchrone Klang einer Ansammlung von sehr jungen Stimmen, die ein schwach wahr-nehmbares Echo in der Umgebung erzeugten.
Dies war der sechste Stock des Garten Eden, und derjenige, der sie hereinbrachte, war ein Mann um die dreißig Jahre alt namens Lin Zuo. In seinem weißen Hemd und seiner goldenen Brille sah er freundlich und kultiviert aus.
Lin Zuo führte die beiden in das Büro, wo er sie beide fragte: „Es ist schön hier, nicht wahr?“
Colin antwortete: „Es ist sehr schön.“
Lin Zuo sagte: „Die Bedingungen in der Hauptstadt sind etwas besser als in der Äußeren Stadt.“
An Zhe hatte dies bereits bemerkt. Als er in der Äußeren Stadt war, hätte er zumindest nie gedacht, dass es auf der Welt ein so gewaltiges Gebäude wie den Garten Eden gäbe.
In diesem Korridor gab es außer dem
Büro insgesamt zehn Räume. Fünf davon waren Klassenzimmer, und die
anderen fünf waren die Schlafsäle für die Kinder. Die Schlafsäle
waren voll-gepackt mit kleinen, niedrigen Betten und jeder Raum bot
Platz für hundert Personen. Lin Zuo zufolge bestand diese Etage des
Garten Eden aus insgesamt zehn solcher Korridore und die Kinder
auf jeder Etage waren alle gleich alt. Mit anderen Worten: Es gab
hier fast viertausend sechs Jahre alte menschliche
Sprösslinge.
„Wenn die Kinder sechs Jahre alt sind, wird die große Mehrheit von ihnen ursprünglich in die Äußere Stadt geschickt, um dort auf eine Adoption zu warten. Aber jetzt, da die Äußere Stadt gefallen ist, muss die Hauptstadt für die Erziehung der Kinder über sechs Jahre hinaus sorgen und es gibt nicht genug Arbeitskräfte. Es ist gut, dass ihr alle gekommen seid“, erklärte Lin Zuo mit einem erfreuten Klang in der Stimme, „Wir wagen es nicht, die Kinder unter sechs Jahren an euch Neuankömmlinge zu übergeben, also wird diese Gruppe von Kindern hier euch zugewiesen, sobald sie sechs Jahre alt sind.“
An Zhe sagte: „Okay.“
„Im Moment stehen die Pläne für den nächsten Schritt in ihrer Ausbildung noch nicht ganz fest. Ihr zwei, kommt mit mir und macht euch erst einmal mit dem Ablauf vertraut, okay?“
Colin antwortete mit einem bejahenden Laut.
Lin Zuo lächelte schwach, dann nahm er einige Bücher aus einem Bücherregal: „Das sind die Lehrbücher und Schichtpläne. Schaut sie euch erst einmal an und fragt mich dann, wenn ihr Fragen dazu habt.“
An Zhe nahm seinen Teil entgegen.
Es gab hier zwei Ausbildungskurse, wobei ein Kurs zur Sprache und Literatur zählte und der andere zu Mathematik und Logik. Was er erhielt, war das Lehrbuch für Sprache und Literatur. Die sechsjährigen Kinder beherrschten bereits die Schreibschrift und die Grammatik, so dass das Lehrbuch einige kurze Fabeln und Gedichte enthielt. An Ze hatte diese Dinge sehr gut gelernt, so dass es keine Silben oder Wörter gab, die auch An Zhe nicht kannte.
Nachdem er das Lehrbuch einmal durchgeblättert hatte, war es Zeit für den Unterricht. An Zhe schob einen Schreibtisch und einen Stuhl in eine hintere Ecke des Klassenzimmers und setzte sich mit einem Exemplar des Sitzplans der Kinder in der Hand. Die Aufgabe, die Lin Zuo ihm gab, bestand darin, zuzuhören und sich Notizen über das Verhalten der Kinder zu machen. Wenn ein Kind die Initiative ergriff, eine Frage zu beantworten oder eine Frage zu stellen, dann gab es dafür Punkte, und wenn ein Kind flüsterte oder etwas Unwichtiges tat, wurden ihm Punkte abgezogen.
Als er sich hinsetzte, drehten alle Kinder ihre Köpfe zu ihm, um ihn anzuschauen. Die Sprösslinge hatten eine sehr zarte Haut, und auch ihre Blicke waren rein und unschuldig. Sie alle trugen weiße Hemden, schwarze Shorts und ähnliche Kurzhaarfrisuren, so dass es für ihn keine Möglichkeit gab, sie zwischen männlich und weiblich zu unterscheiden.
Sie flüsterten ein wenig und untersuchten weiterhin An Zhe, und An Zhe lächelte sie an.
Daraufhin lächelten ihm auch einige der Sprösslinge zu.
Einer von ihnen blinzelte und klimperte ein paar Mal mit den Wimpern, und fragte dann: „Sind Sie der neue Lehrer?“
An Zhe antwortete ruhig: „Das bin ich.“
„Wow“, sagte ein anderer Sprössling mit leiser Stimme, „Du bist so hübsch.“
An Zhe murmelte: „Danke.“
Der Sprössling sagte mit einem breiten Lächeln: „Gern geschehen.“
Ein anderer Sprössling fragte: „Wie heißt du?“
An Zhe nannte seinen Namen.
Schnatternd stellten sich die Sprösslinge ebenfalls vor.
„Ich heiße Bai Nan.“
„Ich heiße Ji Sha.“
„Ich heiße Du Cheng.“
Natürlich gab es auch einige Sprösslinge, denen er gleichgültig zu sein schien, so wie ein Sprössling in einer Ecke, der sich nach einem Blick auf An Zhe wieder von ihm abwandte.
Aber die Aufregung um An Zhe hielt nicht lange an, denn Lin Zuo war hereingekommen.
Die Sprösslinge verließen sofort An Zhes Seite und kehrten auf ihre eigenen Plätze zurück. Lin Zuo schaute sich um und begann, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand fehlte, mit der Vorlesung.
Er referierte über ein Gedicht und es war auch das letzte Gedicht im Lehrbuch - es war vom Inhalt her etwas komplizierter als die anderen und es war zufällig das, was er die Kinder in einem Klassenzimmer rezitieren gehört hatte, als er durch den Korridor gegangen war.
Die Kinder lasen das Gedicht zunächst laut von Anfang bis Ende vor:
„Geh
nicht gelassen in die gute Nacht,
Glüh, rase Alter, weil dein Tag
vergeht,
Verfluch den Tod des Lichts mit aller Macht.
Denn weise Männer, wissend, nichts was sie gedacht
Hat Licht gebracht ins Dunkel, und es ist zu spät,
Geh nicht gelassen in die gute Nacht.
Und gute Männer, brüllen, schon der letzten Welle Fracht,
Und
denkend ihrer Mühn, im Meer verweht,
Verfluchen Tod des Lichts
mit aller Macht.
Und wilde Männer, die der Sonne Pracht,
Im Fluge singend fingen, die nun untergeht,
Geh nicht gelassen in die gute Nacht.
Und ernsten Männer, blind schon, wächst Verdacht,
Auch blindes Auge lacht und blitzt, eh es vergeht,
Verfluchen Tod des Lichts mit aller Macht.
Und du mein Vater, den der bei dir wacht,
Verdamm und segne weinend ihn. Hier mein Gebet:
Geh
nicht gelassen in die gute Nacht.
Verfluch den Tod des Lichts mit
aller Macht.“
Nachdem sie es einmal laut vorgelesen hatten, stellte sich Lin Zuo vor das Podium und fragte: „Gibt es irgendeinen Teil, den ihr nicht versteht?“
Ein Sprössling hob die Hand und An Zhe sah auf den Sitzplan. Das Kind hieß Bai Nan.
Bai Nan sagte: „Ich verstehe keinen einzigen Teil davon.“
Die anderen Sprösslinge lachten alle.
„Schränke deine Frage mehr ein“, sagte Lin Zuo.
„Dann...“, Bai Nan kratzte sich am Hinterkopf. Sein Ton war zögerlich, als er fragte: „Warum können wir nicht gelassen in die Nacht gehen?“
An Zhe trug einen Punkt für Bai Nan in die Tabelle ein, dann schaute er Lin Zuo an und wartete auf seine Antwort. Auch er kannte die Antwort auf Bai Nans Frage nicht.
Im Abgrund und in der menschlichen Basis hatte er zu oft gesehen, wie die Dämmerung das Tageslicht allmählich ablöste. Jede einzelne Nacht senkte sich auf diese Weise ruhig und gelassen auf den Boden, unfähig, sich dagegen zu wehren.
Lin Zuos Blick schweifte über sie und seine Lippen schürzten sich leicht und formten einen etwas ernsten Bogen.
„Dies ist der letzte Text eures Kurses in diesem Jahr“, sagte er, „Er hat eine andere Bedeutung als alle vorherigen Texte, obwohl er für euch alle ein bisschen schwierig zu verstehen sein mag.“
Er drehte sich um und schrieb die Zeile 'Geh nicht gelassen in die gute Nacht' an die Tafel, dann wandte er sich wieder an die Kinder vor ihm. „Dies ist ein Gedicht, das aus Metaphern und Symbolen besteht“ , erklärte Lin Zuo, „'Geh nicht gelassen in die gute Nacht'. Die Bedeutung ist: Nimm die Zerstörung und den Tod nicht einfach so gelassen hin.“
An Zhes Augen weiteten sich langsam und er notierte sich diesen Satz in sein Notizbuch.
Dann begann Lin Zuo von der ersten Zeile an zu erklären, und An Zhe machte sich eifrig zu allem Notizen.
Nachdem er seine Erklärung beendet hatte, lasen die Kinder das Gedicht noch einmal von Anfang bis Ende laut vor: „... Verdamm und segne weinend ihn. Hier mein Gebet: Geh nicht gelassen in die gute Nacht. Verfluch den Tod des Lichts mit aller Macht.“
Die Spitze der Schreibfeder, die An Zhe benutzte, hielt inne. Er hob den Kopf, um auf die helle Landschaft außerhalb des Fensters zu blicken. Ganz in der Nähe leuchteten die Zwillingstürme in der Sonne und die Stadt dehnte sich sanft aus, ihre Ränder verschwanden am blauen Horizont. Er wusste, dass diese Stadt noch nicht in die gute Nacht gegangen war und sich bemühte, auch nicht in diese gute Nacht zu gehen.
Nach dem Unterricht hatte Lin Zuo frei, und so übergab er die Kinder an An Zhe und Colin. Sie mussten die Kinder zusammen mit dem Lehrer des Schlafsaals zum Essen begleiten und sie anschließend in ihren Schlafsaal bringen, wo sie sich die Tagesnachrichten ansehen sollten.
Um sein Verhältnis zu den Sprösslingen zu verbessern, musste An Zhe jede Frage, die sie bezüglich der Nachrichten hatten, erklären, und er konnte erst Feierabend machen, wenn die Nachrichten zu Ende waren.
Die wohlgenährten Sprösslinge waren sehr lebhaft. Auf dem Korridor zankten und unterhielten sie sich. An Zhe hatte das Gefühl, als ob zehntausend Mücken um sein Ohr herum schwirren würden, aber er tolerierte diese menschlichen Sprösslinge.
Sogar im Abgrund würden die Monster ihre Jungen behutsam behandeln - aber nur die eigenen.
Als es Zeit für die Nachrichten war, holte der Lehrer des Schlaf-saals einen Bewertungsbogen heraus, und die Kinder beruhigten sich augenblicklich sobald sie das Blatt sahen, und bildeten spontan einen Sitzkreis vor der großen Leinwand, in dessen Mitte An Zhe saß.
Während er die Leinwand betrachtete, spürte er plötzlich etwas seine Finger berührte. Als er nach unten blickte, sah er, dass es der Sprössling namens Bai Nan war, der neben ihm saß und seine eigenen Finger um die von An Zhe schlang.
An Zhe hatte bisher nicht viel Körperkontakt mit Menschen gehabt und der einzige Vorfall, an den er sich gut erinnerte, war, als er mit Lu Feng zusammengestoßen war und er sich sogar den Kopf an Lu Fengs Brust verletzt hatte, aber der Körper des Sprösslings war anders als der von Lu Feng. Er war weich.
Wie seine Spore blieben die menschlichen Sprösslinge ruhig bei ihm, so wie seine Spore still in seinem Körper geblieben war.
Durch diese Fantasie erlangte An Zhe ein falsches Gefühl des Friedens, und er streichelte einige Male über Bai Nans Kopf.
So rückte Bai Nan noch näher an ihn heran und lehnte sich fest an ihn und umklammerte seinen Arm. Zur gleichen Zeit beugte sich ein anderer Sprössling namens Ji Sha ebenfalls zu ihm herüber und lehnte sich an seine andere Seite an. Dieser Sprössling sah vage wie ein Mädchen aus. Unmittelbar danach schlängelte sich die halbe Gruppe von Sprösslingen auf ihn zu. Colin, der mehr an der Seite saß, erhielt ebenfalls die Zuneigung einiger Sprösslinge.
Sich die Nähe zu einem Erwachsenen zu suchen schien ein Instinkt der Jungtiere aller Arten zu sein.
Ein einziger Sprössling saß jedoch
noch immer im Schneidersitz an Ort und Stelle und blieb unbewegt.
An Zhe erinnerte sich, dass sein Name Si Nan war. Si Nan stellte
auch nie Fragen in der Klasse. Er nahm Blickkontakt mit Si Nan auf
und lächelte ihn an, aber Si Nan wich seinem Blick aus und wandte
seine Augen
wieder dem großen Bildschirm zu.
Die Nachrichten begannen.
„Nach der Bombardierung von Distrikt 6 ist die Zahl der Monster in der Äußeren Stadt deutlich zurückgegangen. Die zweite Lufteinheit des Militärs ist heute Morgen um 6.00 Uhr gestartet und landete in Distrikt 1, um die Äußere Stadt zu unterstützen. Oberst Lu Feng vom Prozessgericht wird die vorhandenen Truppen befehligen, um die Mission zur Wiederherstellung des Ultraschalldispersionsgerätezentrums durchzuführen...“
An Zhe hörte plötzlich einen bekannten Namen. Seit er in die Hauptstadt gekommen war hatte er Lu Feng nicht mehr gesehen. Es stellte sich heraus, dass er bereits wieder zurück in die Äußere Stadt gegangen war.
Bai Nan murmelte plötzlich: „Es ist der Schiedsrichter.“
Ji Sha flüsterte: „Ich habe solche Angst.“
An Zhe fragte sie: „Was ist denn los?“
Bai Nan sagte: „In den Nachrichten wird oft berichtet, wie viele Menschen der Schiedsrichter hingerichtet hat.“
Ji Sha fügte hinzu: „Er geht auch oft in den Abgrund. Der Abgrund ist so unheimlich.“
An Zhe rieb sich den Kopf: „Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.“
Ji Sha rümpfte die Nase: „Solange du ein Mensch bist, wird dich der Schiedsrichter auch beschützen.“
Bai Nan fragte: „Lehrer, haben Sie den Schiedsrichter schon einmal gesehen?“
Gleichzeitig wurde in den Nachrichten gesagt: „Als Nächstes sprechen wir mit unserem Kriegsberichterstatter vor Ort.“
Unter Blitzlichtgewitter zeigte das Kameraobjektiv, wie ein Reporter einen Offizier in einer schwarzen Uniform interviewte. Als er den uniformierten Soldaten sah, dachte An Zhe zunächst, es sei Lu Feng, aber dann bemerkte er, dass es nicht so war. Diese Person war der junge Richter an der Seite von Lu Feng. Auf dem Nachrichtenbildschirm wurde sein Name angezeigt: Seraing.
Er antwortete leise auf Bai Nans Frage: „Das habe ich.“
„Wie sieht er dann aus? Er hat sein Gesicht noch nie in den Nachrichten gezeigt“, fragte Bai Nan.
Auch Ji Sha meldete sich zu Wort: „Sieht er sehr böse aus?“
Die Sprösslinge schauten alle in ihre
Richtung und schienen
sehr interessiert an der Antwort zu dieser
Frage.
„Er...“, An Zhe erinnerte sich an das Aussehen von Lu Feng und versuchte nach der menschlichen Ästhetik zu entscheiden, „Er ist ein wenig grimmig, aber sehr gut aussehend.“
„Was heißt denn das?“
Jede der Fragen der Sprösslinge war schwieriger als die vorherige. An Zhe wusste nicht, was für einen Vergleich er jetzt überhaupt anstellen sollte. Als er gerade tief grübelte, erinnerte er sich plötzlich an die Farbe der Augen von Lu Feng. Dieses kalte tiefe Grün – genau so, wie die Aurora am Himmel schimmerte.
Er sagte: „Wie... die Aurora, nehme ich an.“
Zweifel tauchten in den Augen der Sprösslinge auf.
In diesem Moment sah An Zhe, wie der Lehrer des Wohnheims ihm von der Seite angrinste und einen Daumen hochhielt.
„Wie es sich für einen Lehrer für Sprache und Literatur gehört“, sagte der Lehrer des Wohnheims.
An Zhe wusste nicht, ob der Lehrer des Wohnheims ihn lobte oder kritisierte, und so konnte er nur mit zusammengekniffenen Lippen lächeln.
Auf diese Weise verging ein Tag nach dem anderen in der Haupt-stadt, und ohne es zu merken, lebte er nun schon fast einen Monat hier.
Das Leben im Garten Eden war sehr friedlich, mit nichts weiter als den Streitereien und den Kämpfen zwischen den Sprösslingen. Ein paar Mal ging An Zhe zum Fuße der Zwillingstürme, aber um diese beiden Türme betreten zu dürfen, musste man am Eingang eine Karte durchziehen, und er hatte nicht die Berechtigung zum Betreten. Wenn er seine Spore sehen wollte, musste er zuerst wissen, wo genau sie sich im Leuchtturm befand, und er musste auch in der Lage sein, sich Zugang zum Leuchtturm zu beschaffen. Im Moment waren beide Ziele noch in weiter Ferne.
Doch gleichzeitig waren die Informationen, die die Menschen der Hauptstadt aus den Nachrichten erfuhren, immer ermutigender.
Vor zehn Tagen hatte Oberst Lu ein Team in den Kern des Ultraschalldispersionsgerätezentrums geführt und im Zuge dessen einen detaillierten Aktionsplan ausgearbeitet - die Nachrichten betonten, dass sie aufgrund der regelmäßigen Schulungen des Gerichts im Abgrund über einen extremen Erfahrungsschatz im Umgang mit den Monstern verfügten.
Vor fünf Tagen eroberten die Truppen offiziell das Zentrum zurück, vernichteten die verbliebenen Monster und führten umfangreiche Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen durch.
Das vom Leuchtturm entsandte Team betrat dann das Zentrum und begann mit den Notreparaturen.
Ursprünglich hatte An Zhe geplant, heute wieder mit den Kindern die Nachrichten zu sehen, aber da an diesem Tag Lin Zuo die Nachtschicht übernehmen musste, war er gezwungen, die Arbeit vorzeitig zu verlassen.
Im Sommer war der Himmel um sechs Uhr
noch sehr hell, nur der westliche Himmel wurde langsam von einer
dünnen graublauen Schicht bedeckt. An Zhe zog seine Karte durch,
und die Glastür des Garten Eden Gebäudes schob sich langsam auf. Er
schritt
hinaus und Colin, der ebenfalls früher Feierabend gemacht
hatte, ging ebenfalls hinaus.
Es war nicht die übliche Zeit, um von der Arbeit zu kommen, also waren nur wenige Fußgänger auf der Straße. Er schlenderte durch die Straßen und nahm eine Abkürzung zur Haltestelle des Shuttlebusses. Er und Colin waren beide des anderen überdrüssig, und auch wenn sie denselben Weg gehen mussten, hielten sie einen großen Abstand zueinander.
Eigentlich war die Welt sehr ruhig, aber gerade als er die kleine Straße überqueren und die breite Hauptstraße betreten wollte, kamen plötzlich eilige Schritte von hinten, und etwas Weißes huschte an seinem peripheren Blickfeld vorbei - eine kleine weiße Gestalt, und An Zhe runzelte die Stirn, als er sie ansah – das war ein kleines Mädchen, davon war er überzeugt.
Von den Kindern in seiner Klasse waren sich die Jungen und Mädchen sehr ähnlich, und sie waren alle fünf oder sechs Jahre alt. Dieses Kind vor seinen Augen war zweifellos ein Mädchen. Sie hatte einen außergewöhnlich schlanken Körper und schulterlanges, schwarzes, offenes Haar und trug ein weißes Mullkleid.
Vor ihnen lag die Straße, die von Fahrzeugen befahren wurde.
An Zhe rief: „Sei vorsichtig!“
Zufällig röhrte ein Auto vorbei, und das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen. Während sie wohl etwas verschnaufte, drehte sie sich um und sah An Zhe an.
Ihr Blick war erschrocken und wirkte sehr ängstlich.
An Zhe fragte: „Brauchst du meine Hilfe? Bist du aus dem Garten Eden?“
Vollkommen unerwartet, gerade als er zu Ende gesprochen hatte, stieg die Anspannung des Mädchens, und sie warf den Kopf herum und stürmte direkt auf die Straße zu!
An Zhe rannte ihr hinterher.
Genau in diesem Moment erschien eine schwarze Gestalt an der Straßenecke und versperrte dem Mädchen mit flinken Bewegungen den Weg. Als die Schritte des Mädchens zum Stillstand kamen, beugte sich diese Person hinunter und hob sie auf, dann ging sie einige Schritte zurück.
Das Mädchen wehrte sich heftig, aber sie konnte sich nicht befreien. An Zhe, der gerade erst angekommen war, war sprachlos.
Ihre Blicke trafen sich.
„... Hallo“, sagte An Zhe.
„Hallo“, erwiderte Lu Feng.
An Zhe wollte ihn fragen, ob das Ultraschalldispersionsgeräte-zentrum wiederhergestellt worden sei, aber in diesem Moment hatte er etwas noch Wichtigeres zu sagen, und das gärte schon seit einem Monat in ihm.
An diesem Tag im Zug war Lu Feng
schlecht gelaunt gewesen - in Wahrheit war seine Laune noch nie
besonders gut gewesen, und
An Zhe vermutete den Grund dafür - in
dieser Welt konnten nur sehr wenige Menschen den Oberst rational
betrachten.
Zusammen mit der Aktion des Obersts, sich beinahe selbst auf einer stark befahrenen Straße zu opfern, um das kleine Mädchen zu retten, machte für ihn diese Aussage sogar noch fundierter.
„Oberst“, sagte er.
Lu Feng schien seine Augenbrauen leicht zu heben: „Was ist?“
Das Mädchen zappelte noch immer. Ihr
Blick war leer und ihre
zerzausten Haare ließen sie so
erscheinen, als stimme etwas nicht
mit ihr. Lu Feng tätschelte
ihr achtlos den Rücken und obwohl die Technik sehr ungeübt war,
waren seine Absichten zumindest gut.
Damit war für ihn die folgende Aussage einmal mehr bestätigt. An Zhe sah das kleine Mädchen an, dann blickte er noch einmal zu Lu Feng, bevor er aufrichtig sagte: „Sie sind ein guter Mensch.“
Diesmal hob der Oberst wirklich die Augenbrauen und ein Hauch von einem Lächeln umspielte seine Lippen, aber es war kein echtes Lächeln. Es war, als hätte An Zhe eine offensichtliche Unwahrheit gesagt.
In der nächsten Sekunde bändigte er das Mädchen mit einer Hand und ergriff mit der anderen seinen Kommunikator: „Kreuzung 7, Zielperson gefangen.“
Mit diesen Worten warf er An Zhe einen nichtssagenden Blick zu.
An Zhe verstand es nicht.
⇐Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel⇒
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen