Buch Zwei: Rosen
14.
"DAS SYSTEM DER MENSCHLICHEN WISSENSCHAFTEN IST NAHEZU WERTLOS."
NACH ZEHN MINUTEN Fahrt mit dem
Hochgeschwindigkeits-zug hatten sie die Stadt vollständig hinter
sich gelassen. Als Lu Feng seine rechte Hand zurücknahm, sah An Zhe
dicke Wolken in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Die
Kampfflugzeuge, die zu ihrer Basis zurückkehrten, überflogen den
Zug mit donnerndem Gebrüll und verschwanden dann vollständig aus
seinem Blickfeld.
Er sagte nichts. Nachdem er ihnen noch eine kurze Zeit lang schweigend nachgesehen hatte, kehrte er an seinen ursprünglichen Platz zurück und setzte sich.
In dem Moment, als er einstiegen war, hatte er noch daran gedacht, dass er, sobald die Kommunikation wiederhergestellt war, seinen Kommunikator benutzen würde, um Herrn Shaw mitzuteilen, wohin er ging, aber nun schien es, dass dies nicht mehr notwendig sein würde.
Er blickte nach draußen, das Kinn auf die Hände gestützt, und in seinem peripheren Blickfeld erschien eine schwarze Gestalt. Lu Feng hatte sich einen Platz weiter weg von ihm gesetzt und der junge Richter, der ihm immer folgte, setzte sich an seine Seite.
„Herr Oberst, eine Nachricht vom Strafgerichtshof“, sagte er, „Vom Prozessgericht sind einundzwanzig Personen evakuiert worden, neun Menschen starben bei der Evakuierung und vier Menschen wurden infiziert und sind bereits eliminiert worden.“
Lu Feng fragte: „Was ist mit der Städtischen Verteidigungsbehörde?“
„Momentan liegen uns da keine Daten vor.“
Dann verstummten ihre Stimmen. An Zhe schaute die ganze Zeit aus dem Fenster, aber in Wahrheit gab es draußen nichts, das einen Blick wert gewesen wäre. In dem Regen und dem Nebel war alles, was man sehen konnte, der weite, karge Zementboden.
Es war eine Pufferzone. Von den Stadttoren bis zur Äußeren Stadt, und sogar zwischen den einzelnen Distrikten der Äußeren Stadt gab es riesige Pufferzonen, in denen überhaupt keine Gebäude gebaut worden waren. Dies hatte man getan, damit im Falle einer fremden Invasion oder einem groß angelegten Kampf dem Militär mehr Zeit gegeben werden konnte zu reagieren, anstatt den Xenogenics die Möglichkeit zu geben, direkt von einem dicht besiedelten Wohngebiet in das nächste einfallen zu können.
Schon bald kam Bewegung in den Waggon, als Colin nach seinem kurzen Ohnmachtsanfall das Bewusstsein wiedererlangte. Er erhob sich vom Boden im Gang, kehrte an seinen ursprünglichen Platz zurück und setzte sich mit blassem Gesicht hin. Mit gesenktem Kopf holte er eine schwarz umrandete Brille aus der Tasche und polierte sie immer wieder mit dem Saum seines Hemdes, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
In diesem Moment spürte An Zhe, dass dieser Junge nicht mehr derselbe Mensch war wie bei ihrer ersten Begegnung.
Er drehte sich um und sah Lu Feng an.
Genau zur gleichen Zeit blickte Lu Feng von Colin weg und zu ihm.
Ihre Blicke trafen sich, und An Zhe griff unbehaglich an den Saum seines eigenen Hemdes.
Lu Feng warf ihm nur einen leeren Blick zu, bevor er den Blickkontakt abbrach. Er hatte das Gefühl, dass der jetzige Lu Feng ihm sehr fremd war, auch wenn sie letzte Nacht im selben Bett geschlafen hatten.
Nach einigem Nachdenken fragte An Zhe dennoch: „Wie geht es jetzt weiter?“
Lu Feng antwortete: „Nach den Kursen, die du vorher belegt hast, könntest du von nun an Kindern das Lesen beibringen.“
„Und was ist mit Ihnen?“
Lu Feng antwortete ihm auch auf diese Frage: „Ich werde mich an die Pläne der Hauptstadt halten.“
An Zhe nahm seinen Mut zusammen: „Gehen Sie zum Leuchtturm?“
Er wusste, dass seine Spore wahrscheinlich im Leuchtturm war.
Lu Feng sah ihn an.
An Zhe hatte das Gefühl, dass dies der Blick war, den er jemandem zuwarf, der ein bisschen langsam im Kopf war.
„Ich gehöre zum Militär“, sagte Lu Feng, „Meine nächste Aufgabe ist das Ultraschalldispersionsgerätezentrum zurückzuerobern.“
„... Oh“, dann sagte An Zhe mit leiser Stimme, „Viel Glück.“
Lu Feng sah ihn einige Sekunden lang schweigend an: „Danke.“
Danach sprach keiner von ihnen weiter. Irgendwie hatte An Zhe das Gefühl, dass der Oberst vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für ein Gespräch war.
Nach einem weiteren Dutzend Minuten kam der Zug am Bahnhof an und Lu Feng ging in den vorderen Teil des Zuges.
Gleichzeitig ertönte eine Durchsage im Zug: „Fahrgäste, um die Sicherheit der Hauptstadt zu gewährleisten, bilden Sie bitte eine Reihe für eine zweite Inspektion.“
Die Leute im Zug begannen sich aufzustellen und An Zhe und Colin standen ganz hinten. Die zweite Inspektion war eine genetische Untersuchung mit Maschinen, und der Inspektor war immer noch der junge blonde blauäugige Arzt im weißen Kittel. Nachdem An Zhe und Colin Blut abgenommen worden war, startete der Arzt die Maschine und sagte: „Wartet fünf Minuten.“
An Zhe drückte gehorsam einen Wattebausch auf die Stelle, wo ihm Blut abgenommen worden war, während er zur Seite trat. Der Arzt lächelte: „Ach, du bist es wieder.“
„Hallo“, grüßte An Zhe leise.
„Dass der Schiedsrichter tatsächlich einmal jemanden zu einer genetischen Untersuchung bringen würde...“, sagte der Arzt mit einem Schnalzen der Zunge, „… hat uns alle im Untersuchungslabor überrascht.“
An Zhe sagte: „Er glaubt, dass ich jetzt ein Mensch bin.“
„Vielleicht wollte er nur etwas pingelig sein“, der Arzt zuckte mit den Achseln, „Du musst wissen,... die Leute vom Prozessgericht haben oft Probleme mit ihrem Verstand.“
An Zhe reagierte sofort: „Er ist in Ordnung.“
Der Arzt warf ihm einen verwundernden Blick zu: „Du bist die erste Person, die ich kenne, die für Oberst Lu spricht.“
Während der Arzt sprach, wanderte sein Blick zu An Zhes linkem Arm: „Bist du verletzt?“
An Zhe hatte bemerkt, dass seine Bewegungen wohl ziemlich steif waren, und so hatte er sich die Manschetten seines Ärmels aufgeknöpft und diesen hochgezogen, doch nun wurden einige der Bandagen, die um seinen linken Arm gewickelt waren, sichtbar.
„Mm-hm“, bestätigte er daher.
„Du solltest den Verband einmal wechseln“, der Arzt griff nach einem Sanitätskasten und holte eine neue Rolle Verbandsmaterial heraus, „Ich werde ihn für dich wechseln.“
Der Arzt schien ein unkomplizierter und freundlicher Mensch zu sein. An Zhe murmelte: „Danke.“
Als der Arzt An Zhe den ursprünglichen Verband abnahm, sagte er beiläufig: „Dieser Knoten wurde wirklich gut gebunden.“
An Zhe dachte eine Weile nach, sagte aber nichts. Er beschloss, dem Arzt nicht zu sagen, dass Lu Feng ihn für ihn gewickelt hatte, aus Angst, dass das Untersuchungslabor wieder überrascht sein würde - sie schienen zu glauben, dass Lu Feng eine böse Person war, für die es keine unüberwindbare Grenze gab. Als dieser Gedanke auftauchte, runzelte An Zhe plötzlich die Stirn. In diesem Moment schien er zu verstehen, warum Lu Feng nur selten mit anderen sprach. Die Position des Schiedsrichters war dazu bestimmt, so zu sein.
Gerade als er diesen Gedanken hatte, hörte er Colin neben sich leise sagen: „Doktor.“
Der Arzt beendete den Verband für An Zhe und schaute ihn an: „Hm?“
„Jetzt, da die Äußere Stadt vollständig gefallen ist, braucht man doch auch das Tribunal der Richter nicht mehr“, bemerkte Colin, „Man könnte doch daher nun die Prinzipien hinter den Urteilen des Prozessgerichts offenlegen, oder nicht?“
An Zhe dachte, dass Colin tatsächlich ein standhaftes Mitglied der Oppositionspartei war.
„Warum willst du die denn wissen?“, der Arzt lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den medizinischen Unterfahrschrank und sah ihn an, „Hattest du Familienmitglieder oder Freunde, die Lu Feng getötet hat?“
„Meine Mutter“, erläuterte Colin. „Damals, als sie in die Wildnis ging, hat sie das gepanzerte Fahrzeug die ganze Fahrt über nicht verlassen.“
„Obwohl es nur wenige kleine Monster gibt, so sind sie keineswegs inexistent.“
„Aber es gab nichts Ungewöhnliches an ihrem Aussehen oder ihrem Verhalten.“
„Aha“, sagte der Arzt schlicht, „Und? Wenn jeder einzelne Verwandte eine Erklärung vom Gericht und vom Untersuchungs-amt verlangen würde, dann hätten wir keine Zeit mehr, um die Sicherheit vor den Toren der Stadt zu gewährleisten.“
„Aber jetzt ist es doch anders. Jetzt habt ihr Zeit!“, Colin erhob seine Stimme, „Wir wollen nur die Gründe wissen.“
Der Arzt sah ihn an und lächelte.
„Du hast recht, jetzt ist es anders“, sagte der Arzt sanft, „Jetzt seid ihr Bewohner der Hauptstadt, also werdet ihr nach und nach eine Menge Informationen erfahren.“
Er sagte schließlich im lässigen Ton: „Glaubt ihr, dass nach einer Infektion... der menschliche Körper nur langsam korrodiert wird?“
Colin fragte: „Was denn sonst?“
„Das ist es nicht“, der Doktor hob den Kopf und sah zum Himmel, „In dem Moment, in dem die Infektion auftritt, werden die DNA-Stränge – nein, alle DNA-Strukturen eines Körpers – augenblicklich verändert. In der Sekunde, in der die Infektion erfolgt, ist das Schicksal eines Menschen besiegelt.“
„Unmöglich“, sagte Colin, „Ich habe Biologie studiert. Viren brauchen Zeit, um sich auszubreiten, und es gibt Inkubationszeiten...“
Doch der Arzt unterbrach ihn sofort: „Danach wird die Struktur der DNA-Stränge die Zusammensetzung der RNA beeinflussen, und die Veränderungen in der RNA beeinflusst die Herstellung von Proteinen, und die biologischen Eigenschaften des Menschen verändern sich. All diese Dinge geschehen innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne. Die Haut, das Aussehen, die Mimik, wie man sich bewegt, wie man denkt, die Sprachfähigkeit... All das verändert sich. Die gesamte Ausbildung der Richter besteht daraus, - bevor sie offiziell Richter werden -, diese Unterschiede mit dem bloßen Auge zu erkennen.“
Er lächelte: „Sobald ihre Unterscheidungsgenauigkeit achtzig Prozent erreicht hat, können sie ihren Abschluss machen und offiziell dienen. Glaubst du wirklich, das deine oberflächliche Beobachtungsgabe mit der eines Richters mithalten kann, der weit mehr als zehn Jahre des Trainings und der Ausbildung erfolgreich absolviert hat?!“
„Achtzig Prozent“, Colin hob abrupt den Blick, „Also kann das Prozessgericht die Xenogenics auch nicht vollständig identifizieren. Sie stellen wirklich sicher, dass sie nicht fälschlicherweise einen Xenogenic durch groß angelegte Zufallstötungen durchgehen lassen, oder?“
„Es tut mir sehr leid, aber ich muss dir etwas sagen“, der Arzt schaute ihn an, „Lu Fengs Ergebnis in diesem Jahr war hundert Prozent.“
Colin stand ein paar Sekunden lang stumm an seinem Platz, bevor er hauchte: „... Unmöglich.“
„Ich denke, du solltest beim Betreten der Hauptstadt deine voreingenommene Art, die Fähigkeiten anderer Leute bestimmen zu können, überdenken, und die üblichen Maßstäbe hier wesentlich höher ansetzen.“ Der Tonfall des Arztes war flach.
Er sprach zwar mit Colin, aber er sah nun An Zhe an: „Zumindest unter Umständen, unter denen getestet werden konnte, ob das Ergebnis des Urteils richtig war oder nicht, hat Lu Feng nicht ein einziges Mal einen Fehler gemacht. Wir vom prüfenden Labor und das Gericht haben eine sehr enge Beziehung zueinander. Ich habe daher alle seine Prüfungsergebnisse gesehen. Damals erhielt der Schiedsrichter bei allen Indikatoren die volle Punktzahl. Aber das ist vielleicht nicht der Grund, warum er die Xenogenics mit hundertprozentiger Genauigkeit bestimmen kann.“
„Er scheint eine angeborene Gabe zu haben, eine Art Intuition“, ergänzte der Arzt nach einem sehr kurzen Moment des nachdenklichen Schweigens, „Damals, nachdem man sein Talent auf diesem Gebiet entdeckt hatte, hat ihm das Untersuchungslabor jeden Monat Blut abgenommen, aber leider blieben die Untersuchungen ergebnislos.“
„Nein...“, Colin runzelte tief die Stirn, „Das widerspricht der Wissenschaft. Intuition kann nicht als Grundlage für die Wissenschaft dienen, und was Sie ganz am Anfang über Infektionsmethoden gesagt haben...“
Ein kurzer Piepton ertönte, und ein grünes Licht leuchtete über der Maschine auf.
„Hier sind eure neuen ID-Karten und Kommunikatoren. Steigt jetzt in das Shuttle. Die Hauptstadt wird euch dann ein Quartier zuweisen.“
Der Arzt reichte ihnen zwei blaue Chips und Kommunikatoren: „Man wird euch dann alle weiteren Informationen über den Kommunikator mitteilen.“
Colin nahm die Gegenstände entgegen: „Aber ...“
„Ich weiß, es verstößt gegen einige Prinzipien der biologischen Wissenschaft, aber der furchterregendste Teil dieser Ära ist...“, als der Doktor ihn ansah, schienen seine azurblauen Augen wie unter Schock erstarrt zu sein und er sagte eine Silbe nach der anderen, „Wir haben entdeckt, dass das System der menschlichen Wissenschaften nahezu wertlos sind.“
Dann lächelt der Doktor wieder: „Die menschliche Wissenschaft ist wie Bergsteigen, aber vor hundert Jahren haben wir den Halt verloren. Genau wie wir von damals bis heute nicht erklären konnten, warum das geomagnetische Feld plötzlich für eine so lange Zeit verschwunden ist.“
Und mit diesem Satz war er nicht mehr länger gesprächig: „Dann mal los.“
Colin senkte den Kopf und ging ohne ein weiteres Wort zum Shuttle. Nachdem An Zhe sich von dem Arzt verabschiedet hatte, bestieg er ebenfalls das Shuttle. Der Aufenthaltsort von Lu Feng war ein Rätsel, denn An Zhe hatte ihn nicht gesehen. Er war ein sehr beschäftigter Mann, und es schien auch, dass er nicht viel mit An Zhe zu tun haben wollte, deshalb war er wohl wahrscheinlich schon gegangen.
Nachdem sichergestellt war, dass die letzten beiden Personen eingestiegen waren, verließ der Shuttlebus den Bahnhof entlang der Gleise. Es war der letzte Bus, und es befanden sich fast hundert Personen in ihm, die größtenteils alle stehen mussten. Der Abfahrtsort befand sich im Inneren des Gebäudes, so dass die Situation draußen nicht klar sichtbar war. Erst drei Minuten später, als das Shuttle aus einem Tunnel herausfuhr, drang das Geräusch des Regens und das Licht der Außenwelt ein. Vor ihnen wurde es plötzlich hell, und aus dem Inneren des Fahrzeugs ertönte ein leises Keuchen.
An Zhes Blick ging sowohl durch die Menschenmenge im Inneren des Fahrzeugs als auch durch das Fahrzeugfenster - es gab eine weitere Pufferzone, aber gleich nach der Pufferzone waren unzählige große graublaue Gebäude zu sehen, die gläsern schimmerten.
Langsam weiteten sich seine Augen.
Vor einem Monat, als er zum ersten Mal
in die Menschenbasis gekommen war, spürte er die Mystik der
menschlichen Gebäude. Sie waren höher als die allermeisten
Riesenpilze, ungewöhnlich prachtvoll und erhaben - aber das war die
Pracht und
Erhabenheit in den Augen eines Pilzes, der die Welt
noch nie gesehen hatte.
Das war jetzt anders. Als jemand, der sich an die Baustandards der Äußeren Stadt gewöhnt hatte, hatte er diesmal wieder einmal das Gefühl, dass diese Wolkenkratzer auf ihn herabsahen. Die Wohngebäude in der Äußeren Stadt waren meist zehn Stockwerke hoch, aber die Gebäude hier waren anders. Er schaffte es bei einem Wolkenkratzer nur bis dreißig zu zählen, doch weil das Zählen zu lange dauerte, war das Gebäude aus seinem Blickfeld verschwunden, kaum das er nur etwas mehr als die Hälfte davon gezählt hatte.
Zugleich waren sie ungewöhnlich konzentriert aneinandergereiht und miteinander verschlungen und verwoben und aus An Zhes Sicht sehr schillernd. Der Regen ließ allmählich nach, denn Sommergewitter zogen immer sehr schnell ab. Goldenes Sonnenlicht drang durch die Wolken und schimmerte auf den gläsernen Fassaden der Gebäude.
An Zhe hatte einmal die ganze Geschichte der Gründung des Stützpunkts aus dem Mund von Poet gehört. Zuerst war es die Schwächung und dann das Verschwinden des geomagnetischen Feldes gewesen - zur Lösung dieses Problems bauten die Menschen zwei Magnetfeldgeneratoren und die Hauptstadt der Nördlichen Basis schützte einen von ihnen.
Erst danach, als die Mutation von Bakterien, Pflanzen und Tieren auftrat, begannen die Menschen, sich zusammenzuschließen, um sich selbst zu retten, was zur Entstehung der gesamten Nördlichen Basis führte. Daher wurde die Hauptstadt früher gegründet als die Äußere Stadt, und viele Dinge waren zu dieser Zeit noch nicht geschehen. Der Magnetgenerator und die Hauptstadt waren damals zu jener Zeit die Spitze der menschlichen Technologie und des Bauwesens gewesen.
Und danach ging es nur noch bergab.
Eine Roboterstimme sagte plötzlich:
„Passagiere, aufgrund der
Wohnungsknappheit in der Hauptstadt
wurden die Wohngebiete
des Leuchtturms und des Garten Eden voll
ausgelastet, daher werden Sie vorübergehend in militärischen
Wohngebieten untergebracht. Bitte suchen Sie die entsprechende
Adresse anhand Ihrer neuen ID-Kartennummer und warten Sie auf weitere
Anweisungen.“
An Zhe nahm seinen neuen Ausweis heraus. Die Kartennummer hatte sich geändert; jetzt lautete sie 3124043702.
Die 3 stand für die menschliche Basis, die 1 für die Hauptstadt, und die übrigen Zahlen bezeichneten den genauen Wohnstandort.
Die Menschen im Shuttle begannen untereinander zu tuscheln und stellten fest, dass ihre Adressen alle sehr weit verstreut waren.
„Jetzt kapier ich's!“, sagte jemand, „Es besteht keine Gefahr für die Leute die im Leuchtturm und im Garten Eden arbeiten. Sie sterben nicht so schnell, also sind ihre Wohngebiete voll ausgelastet. Aber die Leute vom Militär werden oft dezimiert, so dass dort viele Plätze frei sind. Somit also perfekt für uns, um dort hineingestopft zu werden.“
Die anderen Leute stimmten dieser Ansicht zu. Kurz darauf hielt das Shuttle an und ließ sie aussteigen. Es gab noch ein paar andere, die mit An Zhe in der Einheit 04 von Gebäude 24 wohnten. Sie gingen in das Gebäude und lernten in Windeseile, wie man die Aufzüge benutzte - so etwas gab es in der Äußeren Stadt nicht.
Schließlich stieg Colin in der sechsunddreißigsten Etage aus und An Zhe fuhr allein in den siebenunddreißigsten Stock. Es gab keine anderen Knöpfe über dem siebenunddreißigsten Stockwerk, da es das oberste Stockwerk war. Zwei Türen lagen einander gegenüber, beide mit weißen Siegeln beklebt. An Zhe riss das Siegel an der Tür zu Nr. 02 ab, dann zog er seine Karte durch und trat ein.
Die Wohnräume in der Hauptstadt waren deutlich größer als die der Äußeren Stadt. Dies war eine Suite mit einem Schlafzimmer und einem Wohnzimmer, einem separaten Bad und einer Küche. Im Wohnzimmer standen ein einfacher Teetisch und ein kleines graues Sofa, und an der Wand gegenüber dem kleinen Sofa hing ein schwarzes rechteckiges Objekt. Die Struktur und die Farbe des Rechtecks erinnerten ihn an das Tablett, mit dem er bei Herrn Shaw gearbeitet hatte.
Er ging darauf zu und drückte den Knopf am unteren Rand.
„... wurden sicher in die Hauptstadt gebracht, und die Hauptstadt ist in den Zustand der Notfallverteidigung eingetreten. Das Zentrum der Vereinigten Front hat erklärt, dass die Basis in eine Rückzugsphase von fünf bis zehn Jahren eintritt, bis die nächste Generation herangereift ist. Gleichzeitig vermutet der Leuchtturm, dass die Monster draußen hochintelligente Mutanten hervorgebracht haben und dass die Invasion des Schwarms die kollektive Aktion von Insekten inmitten ihrer Brutzeit ist. Um die potenzielle Gefahr eines Genaustritts zu vermeiden, empfiehlt der Leuchtturm, dass das Zentrum der Vereinigten Front vorsichtig Truppen nach draußen entsendet, keine hochriskanten Operationen mehr durchführt und stattdessen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Produktion von Ressourcen und der Entwicklung der Kampfbereitschaft verlegt, um nach Wegen zur Überwindung der gegenwärtigen Zwangslage zu suchen. Als nächstes wenden wir uns an den Forscher des Leuchtturms, Herrn Chen.“
Das Interface wechselte von einem Moderator im Anzug zu einem Mann mittleren Alters mit ernster Miene in einem weißen Kittel.
„Wie jeder weiß, haben Monster der Arthropodenklasse nicht unbedingt einen Überlebensvorteil in gefährdeten Gebieten, aber während ihrer Brutzeit brauchen sie nährstoffreiches und genetisch vorteilhaftes Tierblut und -fleisch als Brutstätte für ihre Eier. Wir vermuten, dass dies der Grund ist, weshalb sie kollektiv die menschliche Basis angegriffen haben. Die Fortpflanzung ist das oberste Ziel der Spezies, also gehen sie jedes Risiko ein. Aber wie sie ein intelligentes Gruppenbewusstsein erzeugt haben, ist uns noch weiterhin unbekannt. Wir befürchten, dass einige der Individuen menschliche Gene absorbiert haben.“
Der Sender fragte: „Was möchten Sie uns allen in Anbetracht dieser Situation mitteilen?“
„Es ist ein großes Unglück, dass die gesamte Äußere Stadt der Basis verloren gegangen ist. Aber letztendlich haben wir die Möglichkeit eines weiteren Austritts menschlicher Gene beseitigen können und den Monster die Möglichkeit genommen, sich fortzupflanzen, was auch eine Art des Sieges ist“, sagte der Forscher. „Was ich allen sagen möchte, ist, dass es derzeit keinen Grund gibt, sich um die Sicherheit der Hauptstadt zu sorgen. Die Hauptstadt ist die Kristallisation der Spitze der menschlichen Technologie, und der Grad ihrer Sicherheit ist so hoch, dass sie nicht von den Monstern der Außenwelt überfallen werden kann. Gleichzeitig gibt es keinen Grund, um die Zukunft der menschlichen Spezies besorgt zu sein. Ich habe Nachricht erhalten, dass unsere Reproduktionstechnologie weiter fort-geschritten ist und dass die Zahl der Neugeborenen im Garten Eden in den letzten Jahren stark angestiegen ist, so dass die Basis kurz vor einer Periode der Bevölkerungsexpansion steht. Unsere Zukunft ist rosig...“
Der Forscher sprach ausführlich, wobei er sich im Allgemeinen darauf konzentrierte, das Volk zu beschwichtigen. Nachdem er geendet hatte, schaltete sich der Sender zu jemandem vom Militär und bat ihn, den neuesten Stand der Arbeiten vor Ort vorzustellen.
An Zhe fand, dass die Nachrichtensendungen der Hauptstadt viel ausführlicher waren als die eintönigen Sendungen der Äußeren Stadt.
Er empfand sie als sehr interessant. Als die Nachrichten endeten, färbte sich der Bildschirm grau und begann, eine bedeutungslose Musik zu spielen, und erst dann schaltete er sich aus.
Es war jetzt Abend. Außerhalb des Schlafzimmerfensters waren Sterne zu sehen und in der Ferne zeichnete sich eine schwarze Silhouette in Form eines massiven zylindrischen Turms ab. Er war zu groß und nahm fast ein Viertel von An Zhes Blickfeld ein. Er war höher als alle anderen Gebäude und ähnelte einem riesigen Ungeheuer, das mitten in der Stadt überwinterte. Eine dünne Aurora fluktuierte schnell um den Turm herum, und An Zhe dachte, dass das vielleicht der legendäre Magnetfeldgenerator war.
Er sah noch eine Weile zu, dann öffnete er die Tür mit der Absicht, zum Abendessen zu gehen. Die Hauptstadt war genau wie die Äußere Stadt, mit gemeinschaftlichen Speisesälen auf bestimmten Etagen.
Er bemerkte, dass das Siegel des Nachbarn auf der anderen Seite des Korridors abgerissen worden war.
An Zhe hatte nicht die Absicht, nachzuforschen, wann sein Nachbar eingezogen war und was für ein Mensch er war.
Dieser Tag hatte einen haarsträubenden Anfang, und er mochte ihn nicht. Er wollte, dass er wenigstens in Ruhe zu Ende ging.
So erfüllte er sich seinen Wunsch und erreichte in aller Ruhe den nächsten Morgen. Eine Nachricht war von seinem Kommunikator gekommen, in der alle aus der Äußeren Stadt versetzten Zivilisten aufgefordert wurden, sich am Eingang des Garten Eden zu versammeln.
Gestern Abend hatte An Zhe die Karte der Hauptstadt und das Basishandbuch gelesen, so dass er wusste, dass die Hauptstadt zwanzigtausend erwachsene Einwohner hatte, von denen siebzig Prozent dem Militär angehörten und die restlichen dreißig Prozent bestanden aus wissenschaftlichem Forschungspersonal und verschiedene Arten von Beamten. Das Umfeld der Hauptstadt bestand aus militärischen Gebieten, Militärstützpunkten, Lande-plätzen, Bahnhöfen und Wohngebieten, während sich im Kern-bereich die drei wichtigsten Einrichtungen der Basis befanden.
Die erste Einrichtung war das Zentrum der Vereinigten Front - das Militär - und es war für die Verwaltung von militärischem Personal und Material zuständig. Die Zweite war das wissenschaftliche Forschungszentrum, dessen Funktion man schon anhand des Namens erkannte. Da sein Symbol ein vereinfachter Leuchtturm war, wurde es auch einfach 'der Leuchtturm' genannt. Das Zentrum der vereinigten Front und der Leuchtturm hatten jeweils ein eigenes großes Gebäude, die durch Korridorbrücken miteinander verbunden waren. Die Gebäude, aus denen sie bestanden, wurden auch 'Zwillingstürme' genannt.
Der Name des dritten Gebäudes war ziemlich lang. Er lautete 'Reproduktions-, Pflege- und Bildungszentrum' und hatte zwei Funktionen. Die eine war die Versorgung der Basis mit Lebensmitteln und Nährstoffen - An Zhe dachte, dass hier vielleicht Menschen Kartoffeln anpflanzten -, die andere diente der Aufzucht ihrer Sprösslinge. Menschenbabys wuchsen hier auf und erhielten ihre erste Ausbildung. Weil der Name zu schwer auszusprechen war, wurde die Einrichtung auch als 'Garten Eden' bezeichnet.
An Zhes zukünftiger Arbeitsplatz war der Garten Eden.
Er blickte auf die fernen Zwillingstürme, dann sah er auf den Garten Eden. In Wahrheit freute er sich schon ein wenig darauf, denn er hatte noch nie menschliche Sprösslinge gesehen. Seine Spore war ein sehr weiches und weißes kleines Ding. Er wusste nicht, ob menschliche Sprösslinge genauso sein würden.
Aber konnte er durch die Pflege von Menschensprösslingen Erfahrung sammeln, um sich um seinen eigenen Sprössling kümmern zu können?
Vermutlich nicht.
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