EPILOG 3 – ROSEN

 EPILOG – ROSEN



ERSTE ROSE - JAHR 2103



WIR HABEN KEINE ANDEREN ALTERNATIVEN.“



Alles auf der Welt frisst Menschen, und unsere Anzahl wird
von Tag zu Tag kleiner.“



Kind“, Frau Lu nahm das goldene Rosenabzeichen von ihrer Brust, legte es in ihre Handfläche und krümmte dann langsam ihre Finger darum, so dass sie die weichen, erhabenen Linien der Blütenblätter fühlen konnte, als würde sie eine echte Rose berühren.

Jeder muss zu den Waffen greifen, die er hat, um gegen diese Ära zu kämpfen. Jeder“, ihre Stimme war sanft wie das Plätschern von Wasser.

Aber du selbst wirst doch nichts davon haben, Mama.“

Kein Individuum außer mir wird davon profitieren. Es ist die Gesamtheit der Menschheit, die davon profitiert. Erst wenn die gesamte Menschheit allmählich aus dieser schrecklichen Misere befreit ist, werden wir als Einzelne eine Verbesserung sehen, auch wenn das noch Hunderte von Jahren in der Zukunft liegen mag. Aber die Wahrheit ist, dass man selbst erst dann gerettet wird, wenn man alle gerettet hat. Aber wir können nicht ausschließen, dass unsere Errettung viel später kommt als die aller anderen“, fuhr sie fort, „Das ist der Zeitpunkt, an dem wir zu den Waffen greifen, um uns zu schützen.“

Wird dieser Tag kommen, Mama?“

Er wird kommen“, ihre Stimme war verblüffend entschlossen, „Es sei denn, wir sind alle umgekommen, bevor wir gerettet werden konnten. Aber denk daran, Kind. Was auch immer geschieht, die Menschen lieben einander. Kind, liebst du sie auch?“

Ja, ich liebe sie.“

Sie überreichte ihrer kleinen Tochter die Plakette.




ZWEITE ROSE - JAHR 2105


Es gab einen lauten Aufprall.

Etwas Schweres landete auf dem Boden, und die Welt drehte sich. Ihre Mutter hatte ihr mit einem Gegenstand auf den Nacken geschlagen, und sie fiel zu Boden. Dann hörte sie, wie die Schlafzimmertür zuschlug. Mit einem Klicken wurde die Tür verschlossen. Sie hätte ohnmächtig werden müssen, aber in letzter Sekunde war ein schimmernder Gegenstand aus ihrer Manteltasche gefallen, und seine Farbe rief den letzten Rest ihres Bewusstseins zurück. Mit einem Klingeln in ihren Ohren, das wie das Dröhnen von Flugzeugen klang, inmitten eines schrecklichen Schmerzes, der ihren Kopf zu spalten schien und einer Taubheit, die sich anfühlte, als hätte sie alle Gliedmaßen verloren, griff sie nach dem goldenen Rosenabzeichen und schnappte hastig nach Luft.

Sie würde nicht zulassen, dass sie ohnmächtig werden würde. Ihr Temperament war sehr sanft, aber ihr Wille war stark und übertraf den eines normalen Menschen bei weitem, was auch ihre Mutter anerkannt hatte.

Und ihre Mutter war eine angesehene und herausragende Frau. Tante Lin Shan hatte gesagt: „Deine Mutter hat schon als junges Mädchen eine außergewöhnliche Begabung für Führungsqualitäten gezeigt und war sogar die Initiatorin des Rosenmanifests und eine der Verfasserinnen des Geburtengesetzes, dass die Menschheit vor einer Katastrophe bewahrte.“

Bis zum heutigen Tag, an dem die Unterdrückung der Frauen immer schlimmer geworden und die vereinbarte Obergrenze überschritten worden war. Nun ergriffen sie und ihre Gefährtinnen die Waffen und verteidigten die Freiheit und die Würde, die ihnen zugestanden hätte.

Es schien, als ob eine lange Zeit vergangen wäre Eine halbe Stunde, eine Stunde, oder vielleicht zwei Stunden. Durch die Schlafzimmertür hörte sie grobes Klopfen aus dem nahen Eingangsbereich. Dann kam das rhythmische Klackern von hohen Absätzen. Das war ihre Mutter, Frau Lu. Es gab keinen einzigen Menschen, der nicht wusste, dass Frau Lu ihr ganzes Leben lang selbstbeherrscht und elegant gewesen war.

Wenn sie nicht schwanger war, trug sie immer ein langes karmesinrotes Kleid mit bescheidenen schwarzen Stöckelschuhen, und sie trug sie mit einer Anmut, die sich im Laufe all der Zeit nicht verändert hatte.

Die Tür öffnete sich, und die Besucher traten ein. Ihre Schritte waren sehr schwer, denn es waren die Geräusche von Militärstiefeln auf dem Boden. Sie spürte ein Gefühl der Gefahr, aber in letzter Zeit passierte so etwas oft. Dann ertönte ein endloses Geplapper, das absichtlich leiser geworden zu sein schien und sie hörte vage ein paar Worte wie 'modifizieren', 'einstellen' und 'zentralisieren'. Ihre Mutter hatte in den letzten drei Monaten oft mit einigen Leuten gesprochen, und obwohl sie ihrer Tochter aus dem Weg ging, kannte sie die Schlüsselwörter, die sie ungewollt gehört hatte.

Sie wusste mehr oder weniger, was geschehen war. Seit einem halben Jahr waren die Plakate gegen die Unterdrückung der Frauen überall zu sehen, und die Basis hatte versucht, einen Kompromiss mit ihnen zu finden.

Ich bin damit nicht einverstanden“, sagte ihre Mutter mit erhobener Stimme.

Ich fürchte, Sie müssen dann mit uns kommen.“

Wir sind schon viele Male mit euch gekommen.“

Diesmal ist es anders, werte Frau.“

Gibt es noch andere?“

Nur Sie. Der Marschall möchte persönlich mit Ihnen verhandeln.
Es steht Ihnen frei, noch weitere Personen mitzubringen.“

Ich verlange, dass Generalleutnant Lin Shan und ihre bewaffnete Eskorte mitkommen.“

Natürlich, Frau Lu“, sagte der Offizier nach einem kurzen Schweigen.

Es schien, als ob der Offizier eine Nummer wählte, während ihre Mutter zu dem Aktenschrank neben der Schlafzimmertür ging. Der Beamte legte auf. Eine ganze Weile später sagte Frau Lu: „Ich bereite die Unterlagen vor. Wenn Generalleutnant Lin Shan eintrifft, werde ich mitgehen.“

Dann hörte man, wie sich der Aktenschrank öffnete. Alle im Wohnzimmer waren sehr still.

Es verging eine lange Zeit. So lange, dass sie fast das Bewusstsein verloren hätte. Aber sie dachte immer noch darüber nach, warum ihre eigene Mutter sie betäubt hatte.

Warum nur?

Und weshalb?

Weil...

Weil -

Sie dachte so lange nach, bis sie kurz davor war, darüber das Bewusstsein zu verlieren.

Bis ein Schuss ertönte.

Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Hände tropften vor kaltem Schweiß, und das goldene Abzeichen glitt ihr aus der Hand. Im nächsten Moment würde es auf dem Boden aufschlagen und ein deutliches Geräusch machen.

Und ihr unsicherer Glaube würde genau wie dieses Abzeichen sein. In dieser schwer abzuschätzenden Zeitspanne ballte sie mit aller Kraft ihre Finger zusammen, drückte die Plakette noch einmal fest in ihrer Handfläche und legte ihre Faust auf ihre Brust. Nach einer langen Weile sickerte das Blut langsam durch den Spalt unter der Tür hindurch wie die Tentakel eines Kraken. Sie wandte ihren Blick davon ab und betrachtete ruhig das gemütliche Zimmer. Ob ihr Blick Trauer, Hass, Mitleid oder vielleicht gar nichts davon enthielt, war ein Rätsel.

Im nächsten Moment verlor sie völlig das Bewusstsein.





DRITTE ROSE - JAHR 2105


Sie wurde an einen Ort gebracht, wo sie in ein paar kleinen Zimmern zusammen mit einigen anderen Mädchen im ähnlichen Alter wohnte. Jeden Tag brachten Leute Essen und Wasser. Sie wusste, dass draußen viele Dinge passierten, die mindestens drei Monate angedauert hatten, denn ihr neues Leben dauerte drei Monate.

Sie dachte immer wieder, wenn ihre Mutter nicht gewusst hatte, dass Gefahr drohte, warum hat sie sie dann so lange im Voraus ausgeschaltet? Wenn sie gewusst hatte, dass Gefahr drohte, warum hatte sie dann keine Vorkehrungen getroffen, bevor es zu
spät gewesen war?

Wenn die Erschießung von Frau Lu das Problem hätte lösen können, warum dauerte das anschließende Chaos drei Monate lang an? Wenn vorhergesagt wurde, dass es zu drei Monaten Chaos führen würde, warum hat man sich dann dazu entschlossen, sie zu töten?
Manchmal hatte sie den Verdacht, dass ihre Mutter sich hatte absichtlich umbringen lassen. Und dass sie ihre Tochter ausschalten wollte, um sie am Leben zu lassen.

Ihre Mutter hatte sogar gesagt, dass außer den Frauen, die eng mit dem Manifest verbunden waren, die anderen Mitglieder der Basis gleichgültig gegenüber den Aktivitäten der Opposition war.

Natürlich gab es eine Möglichkeit, sie zu sensibilisieren, indem man ihnen vor Augen führte, wie massiv die Sache war, die die Frauen unterdrückte, und dass eines Tages der Tag kommen würde, an dem man sie alle unterdrücken würde.

Oder vielleicht würde sie die Wahrheit über diese Zeit nie erfahren. Was auch immer geschehen war, ihre Mutter, Frau Lu und Frau Lus Gefährten waren besiegt worden.

Denn sie und ihre neuen Gefährtinnen waren zum Eingang eines massiven, silbrig-weißen, sechseckigen Gebäudes gebracht worden. Dieses Gebäude, das sie jeden Tag hatte sehen können, sobald sie ihre Vorhänge aufgezogen hatte, wurde der Garten Eden genannt.

In der Haupthalle stand eine ältere Frau, die sie nicht kannte, und die sie an die Hand nahm.

Kind“, fragte die Frau, „liebst du die Menschen?“

Auf jeden Fall“, sagte das Mädchen leise und sah ihr in die Augen, „Die Menschen lieben einander.“ - und sie gingen hinein.

Und sie wusste, dass man sie viele Jahre später auch Frau Lu nennen würde.

Es war, als würde ihre Mutter noch leben.




VIERTE ROSE – GEGENWART


Es war ein tiefgrünes Monster.

An Zhe hockte sich hin und untersuchte es.

Es war fast tot. In seinem Bauch waren drei blutige Löcher, jedes so groß wie eine Schüssel, aus denen eine dicke, schwarze, trübe Flüssigkeit floss. Seine Haut, die aus feinen Schuppen und abstehenden Stacheln und Beulen bestand, war schwach gewellt.

Vier seiner fünf Augäpfel waren Facettenaugen, und sie
waren mit einer unheilvollen weißen Schicht überzogen. Das fünfte Auge war fest verschlossen, und die etwa ein Dutzend faustgroßen Facettenaugen auf seinem Rücken waren blind.

Im Abgrund sah man selten tödlich verwundete Monster wie dieses. Das bedeutete, dass es in einem Kampf gerade einen Sieg errungen hatte und dass der Geruch seines Blutes noch nicht von anderen Jägern wahrgenommen worden war.

Es war nicht groß, etwa so lang wie ein neugeborenes Menschenkind. Das bedeutete natürlich nicht, dass es schon immer so groß war, denn die polymorphen Monster des Abgrunds konnten frei zwischen vielen Formen und Größen wechseln. Pauli hatte gesagt, dass dies im bisherigen theoretischen Rahmen undenkbar gewesen wäre, weil sich einige Substanzen in Luft auflösen und andere Stoffe aus dem Nichts auftauchen würden, aber wenn man es mit Wellen und Frequenzen erklärte, dann ist die Veränderung der Formen lediglich eine Änderung der Frequenz, was leicht zu erreichen und zu verstehen war.

Nun, der Grund, warum es auf seinem Sterbebett so aussah, war vielleicht, weil er in dieser Form sterben wollte. Vielleicht war es seine ursprüngliche Form, oder vielleicht war es seine Lieblingsform.

An Zhe berührte seinen Kopf sanft mit seinen Hyphen, aber es gab keine Reaktion mehr von sich.

Es ist fast tot“, er runzelte leicht die Stirn, während er das Monster betrachtete.

Neben ihm sagte Lu Feng nur: „Es regnet.“

An Zhe neigte den Kopf zurück und sah, dass sich dunkle Wolken über ihnen zusammenzogen. Mit einem 'Plopp' fiel ein Regentropfen zwischen die übereinanderliegenden Äste und Blätter der Bäume und Reben und platschte auf den Boden. In der folgenden Sekunde landete ein weiterer Tropfen auf einer der Wunden des Monsters. Es krampfte und schien dabei Schmerzen zu empfinden.

Der Sommerregen kam so schnell, dass in nur wenigen Sekunden weiße Regentropfen dicht an dicht und schnell auf die Blätter prasselten und dabei wie Trommelschläge klangen. Lu Feng bedeckte An Zhes Schultern und Kopf mit seinem Uniformmantel. An Zhe sagte: „Als wir herkamen, schien es in der Nähe eine Höhle zu geben.“

Er ergriff Lu Fengs Hand und stand auf, dann zögerte er für ein paar Sekunden. Schließlich aber nahm er das kleine, zitternde Monster in die Hand, und die beiden gingen in Richtung der nahen Berge.

Die Form der Höhle ist nicht ganz richtig“, sagte Lu Feng.

Aber An Zhe spürte nichts Besonderes, denn der Abgrund war noch nie arm an seltsam geformten Gebilden gewesen.

Der Höhleneingang war genau dort, eine stille Öffnung zwischen verschlungenen Ranken.

Das Monster in An Zhes Armen zitterte noch immer. Vor vielen Jahren hatte er den schwer verletzten An Zhe auf ähnliche Weise in seine Höhle zurückgeschleppt.

Obwohl er in seinem Herzen wusste, dass die Höhle, die jetzt vor ihm lag, definitiv nicht die Höhle von damals war, hatte er das seltsame Gefühl, dass sich Zeit und Schicksal überschnitten und er den Weg von damals zurücklegte.

Doch als er am so genannten Höhleneingang stand, glaubte er schließlich Lu Fengs Einschätzung.

Der Höhleneingang hatte nicht die übliche unregelmäßige Öffnung, sondern eine Annäherung an einen Bogen. Es war ein verlassenes Gebäude, das durch den Boden in sein jetziges Aussehen gepresst worden war. Im Abgrund gab es sehr verstreut einige der zerstörten Städte der Menschheit, und die Stätten hatten verschiedene Gebäude mit unterschiedlichen Funktionen. In der Zeitspanne von einhundert Jahren wuchsen die Kreaturen des Abgrunds auf ihnen und verseuchten sie.

Im Inneren war die Umgebung stockdunkel mit dem gelegentlichen fluoreszierenden Leuchten von Pflanzen. An Zhe setzte das Monster ab und platzierte die Taschenlampe an einer geeigneten Stelle. Die Taschenlampe beleuchtete einen begrenzten Bereich. Es handelte sich um eine geräumige Halle, deren Mobiliar längst verfallen war. Es schien eine Kirche gewesen zu sein. Die Wände waren gesprenkelt mit verschiedenen Kratzspuren von Monstern, aber sie schienen vor sehr langer Zeit entstanden zu sein.

Das Geräusch eines schabenden Panzers war zu hören, als das sterbende Monster fünf Zentimeter auf sie zukroch. An Zhe streckte die Hand aus und berührte den Flaum an seinen Gliedmaßen, und der Kopf des Monsters drehte sich. Anders als bei Säugetieren fehlten den Augen der Insekten die Pupillen, so dass es schwierig war, zu erkennen, worauf es guckte, aber An Zhe wusste, dass es ihn ansah.

Warum schaute es ihn an? Was dachte es? Welche Gefühle empfand ein fünfäugiges Monster, wenn es auf seinem Sterbebett lag?

An Zhe wusste es nicht. Stränge weißer Hyphen kletterten den Körper des Monsters hinauf und bedeckten sanft seine tiefste Wunde.
Seine Gliedmaßen zuckten, als wolle das Monster zu An Zhe kommen, aber im nächsten Moment hörte es auf, sich zu bewegen.

Es war im Begriff zu sterben.

An Zhe sah es an, ohne seine Hyphen zurückzuziehen. Es fühlte sich an, als ob es seine Augen auf etwas neben ihm gerichtet hätte, und als er sich umdrehte, entdeckte er, dass Lu Feng an einer der bröckelnden Säulen der Kirche lehnte, die Arme verschränkt und den Blick in seine Richtung, als ob er jede Bewegung von An Zhe beobachten würde.

Hast du das oft gemacht?“, fragte Lu Feng.

Manchmal“, antwortete An Zhe.

Er wusste, worauf Lu Feng hinauswollte. Wenn er im Abgrund auf eine verwundete Kreatur stieß, zog er sie zurück in eine Höhle. Gelegentlich überlebte eine schwer verwundete Kreatur, weil sie sich in der sicheren Höhle erholen konnte, aber die Mehrheit der Fälle verstarb.

So war es auch bei An Ze gewesen.

Lu Feng schaute ihn immer noch an: „Hattest du damals schon das Bewusstsein eines Menschen?“

An Zhe dachte einen Moment lang zurück und schüttelte dann den Kopf. Er war damals nur ein Pilz, und außerdem wusste er nicht, wie man den Lebenszustand eines Pilzes in der menschlichen Sprache beschreiben konnte. Er schürzte die Lippen, dann fuhr er fort: „Wenn meine Hyphen brachen, fühlte ich Schmerzen und ich hatte Angst zu sterben. Wenn ich also sah, dass andere zu sterben drohten, überlegte ich, wie ich ihnen helfen könnte.“

Nach einer langen Zeit sah er Lu Feng lächeln: „Das ist etwas, was nur du tun kannst.“

Der Mantel war durch den Regen nass geworden, und dieser Ort war besonders dunkel und feucht. Zum Glück enthielt der Rucksack, den sie immer bei sich trugen, ein paar Holzkohleblöcke. Sie stellten einen Ständer auf, machten ein Feuer und schalteten die Taschenlampe aus.

Ist dir kalt?“, fragte Lu Feng An Zhe.

An Zhe schüttelte den Kopf, rückte aber trotzdem näher an Lu Feng heran, und Lu Feng legte ihm einen Arm um die Schulter. Keiner der beiden sprach. An Zhe lehnte sich an Lu Fengs Schulter und beobachtete die tanzenden Flammen.

Werde ich An Ze finden können?“, fragte er nach einer langen Weile.

Er und Lu Feng hatten vereinbart, einen Monat im Abgrund und einen Monat in der Basis zu bleiben. Lu Feng hatte keine Abneigung gegen den Abgrund. An Zhe hatte sogar das Gefühl, dass der Oberst den Abgrund dem Stützpunkt vorzog. Der Oberst kannte viele Ecken des Abgrunds wie seine eigene Westentasche. In diesem Monat konnte er auch viele Proben für das Forschungsinstitut sammeln. Aber ganz gleich, wie geschickt Lu Feng auch war oder wie sehr sie den Bereich auch eingegrenzt hatten, der Abgrund war immer noch sehr groß.

Solange es diese Höhle noch gibt, ja“, sagte Lu Feng.

An Zhe erinnerte sich an alles aus seiner Zeit damals im Abgrund: „Der Höhleneingang kann von Pilzen verdeckt, von Wasser überflutet oder durch kämpfende Monster eingestürzt sein... Und manchmal sind die Höhlen selbst lebendig. Sie wachen auf und verschwinden dann“, dann fuhr er nach kurzer Zeit fort, „Aber ich will sie trotzdem suchen. Das habe ich An Ze versprochen. Obwohl er von dem Versprechen nichts wusste. Dann lass es ein Versprechen sein, das ich mir selbst gegeben habe!“

Er sprach zu sich selbst, während Lu Feng ihm immer wieder über das Haar strich. Schließlich sagte er zu An Zhe: „Er wird dir nicht böse sein, weil du ihn etwas später gefunden hast.“

An Zhe nickte. An Ze war ein sehr guter Mensch.

Er unterbrach seine fantasievollen Gedanken, und während er weiterhin die Flammen beobachtete, sprach er langsam über den Abgrund. Lu Feng hörte einfach zu.

Irgendwann fiel An Zhe plötzlich ein, dass er bereits Lu Feng sein ganzes Leben als Pilz erzählt hatte. Lu Feng wusste von der Regenzeit und dem Gras, ebenso wie von An Ze und Josh. Er wusste von allen Menschen, die er kannte, und er wusste von allen Dingen, denen er begegnet war.

Andererseits wusste er nichts über Lu Fengs Vergangenheit.

Hast... hast du jemals jemandem ein Versprechen gegeben, das du nicht halten konntest?“, fragte er.

An Zhe dachte bereits über seine Antwort nach. Er stellte sich vor, dass eine Person wie Lu Feng nicht leichtfertig Versprechungen machen oder unrealistische Fantasien haben würde.

Aber entgegen seinen Erwartungen sagte Lu Feng nach einem kurzen Schweigen: „Hab ich.“

Das Knistern des Feuerholzes wurde allmählich leiser, und die heißen Flammen wurden zu einem roten Schein auf der pechschwarzen Holzkohle. Die Umgebung verdunkelte sich, und der Geruch von Staub wehte herüber.



..



Auch das Treppenhaus im zweiundzwanzigsten Stock des Garten Eden war ein dunkler und staubiger Ort gewesen.

Wenn der Tag kommt...“, sprach plötzlich eine sanfte Frauenstimme in Lu Fengs Ohr, „Wenn der Tag kommt, an dem wir alle befreit wurden, dann werde ich nicht mehr meine Kinder so heimlich treffen müssen.“

Jibran war nicht das Kind von Frau Lu, aber auch er kam oft in den zweiundzwanzigsten Stock. Als er auf dem Geländer der Nottreppe saß und mit seinen kleinen Beine schwang, sagte er: „Frau Lu, Sie werden diesen Tag bestimmt erleben.“

Die gnädige Frau tätschelte ihm den Kopf: „Unser großer Wissenschaftler ist hier.“

Jibran warf den Kopf zurück und pfiff: „Lu Feng und ich werden diesen Tag auch erleben.“

Der Blick von Frau Lu wandte sich von Jibran ab und richtete sich auf Lu Feng: „Willst du auch zum Leuchtturm gehen?“

Lu Feng schüttelte den Kopf.

Dann bist du genau wie dein Vater“, die Frau küsste ihn auf die Stirn, „Wenn du groß bist, musst du die Basis beschützen.“

Dann nahm die Frau eine seiner Hände und eine von Jibrans Händen, legte sie zusammen und ihre eigene Hand darauf.

Wir alle werden diesen Tag erleben, und wenn dieser Tag kommt...“, auf ihrem jungen Gesicht lag eine sanfte Freude, „Wenn dieser Tag kommt, werden wir zusammen sein, zusammen mit deinem Vater. Versprecht es mir, ihr zwei.“

Ich verspreche es, Frau Lu.“

Ich verspreche es auch, Mama.“



..


Lu Fengs Geschichte war sehr kurz, aber während An Zhe ihn beobachtete, schweifte seine Aufmerksamkeit ab.

Diesmal war es Lu Feng, der das sterbende Feuer beobachtete.

An Zhe streckte die Hand aus.

Er richtete sich auf und versuchte, Lu Feng auf die gleiche Weise zu halten, wie Lu Feng ihn zuvor gehalten hatte. Der Oberst, der zu verstehen schien, änderte seinen Winkel und rückte näher an An Zhe heran. An Zhe legte einen Arm um seine Schulter, und obwohl es für ihn etwas ungewohnt war, war es nicht schlimm.

Du hast mir einmal erzählt, dass sie sich wegen einer Biene in einer Rose vor vielen Jahren verwandelt hat“, sagte Lu Feng, „Ich habe ständig darüber nachgedacht, wer es war, der ihr diese Rose geschenkt hat.“

An Zhe war verblüfft.

An einem Tag, an dem das Ultraschalldispersionsgerät noch nicht erfunden worden war oder an dem es kurzzeitig nicht funktioniert hatte, war eine Biene, die irrtümlich in die Stadt gekommen war, von der Blume angelockt worden und hatte Frau Lu in den Finger gestochen. Die schwache Frequenz der Biene hatte sich lange Zeit in ihrem Körper verborgen, um eines Tages in der Zukunft durch die riesige und unbekannte Welle aus dem Universum geweckt zu werden. In dieser Basis hatte nur Frau Lu Rosen, weil sie solche Dinge liebte und andere Menschen sie liebten. Der Vater von Lu Feng und später Lu Feng selbst gaben ihr Samen, die der Leuchtturm gesammelt und als sicher eingestuft hatte - nur diese beiden Menschen kamen also in Frage.

An Zhe hielt sanft die Hand von Lu Feng.

Der Holzstapel brannte aus, und auch das trübe Rot wich zurück.

Der Wind hallte in der Kirche wider. Es schien eine weitere windige Nacht zu werden.



..



Ich hoffe, du kannst zum Zentrum der Vereinigten Front gehen“, hatte Frau Lu gesagt. Das war das letzte Mal, dass Lu Feng mit ihr gesprochen hatte, bevor er offiziell dem Militär beigetreten war. Damals befand er sich auf einem kleinen Feld auf einer Seite des Stützpunktes, so weit entfernt, dass die zivile Kommunikation des Stützpunktes kaum noch zu erreichen gewesen war.

Diese Ort passt am besten zu dir. Sie gehen auch am seltensten in die Wildnis, also ist es auch am sichersten“, hatte sie gesagt, „In all den Jahren, die ich auf der Basis diene, ist dies das einzige Mal, dass ich egoistisch bin. Ich möchte, dass du lebst. Ich hoffe, dass alle meine Kinder leben können, aber ich kenne nur dich.“

Lu Feng sagte nichts.

Wenn es woanders ist, werde ich dich auch nicht aufhalten, aber geh nicht zum Prozessgericht. Ich habe Angst vor diesem Ort“, murmelte sie, „Letztes Jahr gab es sogar eine Schießerei im Gerichtssaal. Viele der drastischen Veränderungen in der Basis
haben ihren Ursprung im Blutvergießen, und das Gericht vergießt jeden Tag Blut wie Wasser. Es gibt dort zu viel Leid. Hast du zugehört?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens.

Das habe ich“, antwortete er.

Sie lächelte: „Dann versprich es mir. Du musst versprechen -“

Plötzlich setzte das Rauschen von Störungen ein.

Bzz -“

Gleich darauf ertönte beruhigende Musik, eine entspannende Melodie, und dann eine sanfte Frauenstimme: „Es tut uns leid, aber aufgrund der Auswirkungen des Sonnenwindes
oder der Ionosphäre ist das Signal der Basis unterbrochen worden. Das ist ganz normal. Bitte geraten Sie nicht in Panik und führen Sie alle Aktivitäten wie gewohnt durch. Das Kommunikationssignal wird sich irgendwann wieder erholen. Zu diesem Zeitpunkt werden die öffentlichen Nachrichten an Sie gesendet werden, also bleiben Sie bitte dran.“

... Bitte bleiben Sie dran.“



..



Als das ganze Holz zu losen, blassen Trümmern verbrannt war, die bei Berührung auseinanderfielen, versank die Kirche in Dunkelheit und einsamer Stille.

Doch genau in diesem Moment leuchteten unzählige schwache grüne Lichter auf, denn das Insektenmonster, das sie aufgelesen hatten, war gestorben.

An Zhe schaute hinüber. Sein Körper zerfiel langsam und löste sich in winzige grüne Lichter auf, die einer Wolke aus glühendem grünen Rauch oder einem Schwarm von Glühwürmchen glich.

Die Lichter umhüllten sie zunächst wie ein Traum, dann stiegen sie auf und erleuchteten die gesamte verfallene Kirche, das gesprenkelte Gemälde der Jungfrau Maria an der linken Wand und die massive Skulptur der Kreuzigung Jesu davor. An den Schultern der Jungfrau Maria hingen verdorrte Ranken und ihre Wangen waren von Tierklauen zerkratzt, während der Körper Jesu mit Schimmel bedeckt war. Nur ihre Augen waren klar. Hinter den Ranken, dem Schimmel und dem Staub beobachteten sie schweigend die sterbliche Welt.

Der Strom der Lichter löste sich auf.

Das Schicksal zerstreute sich in der Welt der Sterblichen.





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