EPILOG 4 – SOMMER

 

EPILOG – SOMMER


DER SOMMER war in den Abgrund gekommen.

Wenn man vom Hochland-Forschungsinstitut herunterschaute, wogte das überwältigende Dunkelgrün wie ein mächtiger Ozean, der mit dem hellblauen Himmel verbunden ist.

Auf den Bergen in der Ferne kreiste eine Gruppe von Monstern mit schwarzen Flügeln und stieß einen langen Schrei aus.

Das Zwitschern von Vögeln wurde zusammen mit dem Wind auf die Spitze des Berges gesandt. Im Korridor wiegten sich das Laub und die Blütenbüschel der Weinreben, und die schneeweißen Blütenblätter schwebten herab und landeten auf An Zhe. Er hob seine Hand, um eines zu fangen, während er mit der anderen Hand an der Spitze einer Rebe spielte.

Lu Feng streckte die Hand aus, um die Blütenblätter an seinem Hemdkragen und aus seinem Haar zu entfernen.

Als er die Bewegungen des Mannes spürte, drehte sich An Zhe um und zog dabei die Ranke zu Lu Feng: „Schau.“

Er hatte soeben eine neue schneeweiße Knospe an dieser Ranke entdeckt. Natürlich war es egal, ob es neue Knospen an dieser Ranke gab oder ob die Knospen groß oder klein, schwarz oder weiß waren. All das würde das Interesse von Oberst Lu nicht wecken können. Der Oberst beugte sich ausdruckslos herunter und küsste ihn auf die Stirn.

Tsk“, ihnen gegenüber stieß Doktor Ji einen Laut aus, der an Bewunderung erinnerte. Er lehnte sich an die Fensterbank, die linke Hand schüttelte ein Reagenzglas und die rechte Hand hing an seiner Seite herunter.

In der letzten Schlacht zur Verteidigung der Nördlichen Basis hatte Doktor Ji seinen gesamten rechten Arm und den unteren Teil seines rechten Beins verloren. Er hatte damals das Gespräch mit dem Hochland-Forschungsinstitut inmitten solcher schrecklichen Qualen geführt. Warum er überlebt hatte und nicht an übermäßigem Blutverlust gestorben war konnte nur der Barmherzigkeit Gottes zugeschrieben werden.

Später beantragte er seine Versetzung an das Hochland-Forschungsinstitut. Sein Gehirn war nicht betroffen, aber in diesem Zeitalter ohne künstliche Gliedmaßen waren ein fehlender rechter Arm und ein fehlendes halbes Bein mehr als ausreichend, um dem Leben des Wissenschaftlers ein Ende zu setzen. Er war nicht gekommen, um seine eigene Forschung fortzusetzen, sondern wegen seiner Bewunderung für Pauli Jones und seiner Bereitschaft, seinen eigenen Körper für neue Forschungen zur Verfügung zu stellen. Mit der Hilfe von Dutzenden von Versuchspersonen, die ihm ähnlich waren, ermittelte das Forschungsinstitut sechs sichere Frequenzen, die übertragen werden konnten, darunter eine Kreatur, die die Fähigkeit besaß, Gliedmaßen zu regenerieren.

Kurz gesagt, Doktor Ji war jetzt wie jeder andere normale Mensch, obwohl er sich noch nicht an seine neu gewachsenen Gliedmaßen gewöhnt hatte.

An Zhe drehte sich zu Doktor Ji um, um zu sehen, warum er diesmal mit der Zunge geschnalzt hatte.

Doktor Ji sah Lu Feng an. Zugleich hob er die Hände und klatschte zweimal kräftig: „Sie wurden von mir gesehen, Oberst Lu“, sagte er, „Wenn ich es nicht gesehen hätte, hätte ich wirklich für den Rest meines Lebens gedacht, dass Sie vorhaben, für immer ein ehrenwerter Gentleman oder eher etwas wie ein qualifizierter Vater bleiben zu wollen. Oh, obwohl Sie sind noch jung... dann wohl stattdessen ein kompetenter älterer Bruder.“

Lu Feng zupfte das letzte Blütenblatt von An Zhes Hals, dann warf er einen nichtssagenden Blick zu Doktor Ji: „Jibran“, sagte er in einem klaren Tonfall, „ich habe Ihre Persönlichkeit überschätzt.“

Okay, okay, okay“, Doktor Ji hob kapitulierend beide Hände, „Ich habe mich geirrt, ich habe den moralischen Anspruch des mächtigen Schiedsrichters unterschätzt.“

Lu Feng sagte nichts.

Es war mein Fehler, ich gebe es zu. Es ist nicht so, dass Ihre Persönlichkeit zu respektabel ist, sondern dass meine Moralvorstellungen in der Tat ziemlich niedrig sind“, Doktor Ji flehte weiter um Gnade. Als er seinen Blick abwandte, sah er An Zhe, der ihn ebenso ansah, während er sich an Lu Fengs Handgelenk festhielt.

Angenommen, ich bekäme so einen kleinen Liebling“ - er grinste, streckte eine Hand aus und machte eine Geste, „Ich würde ihn ans Bett fesseln und dann... “

Lu Feng warf ihm einen eiskalten Blick zu.

... und ihn dann sezieren“, Doktor Ji hielt den Mund, nachdem er seinen Satz beendet hatte.

Doktor Jis Gehirn ist vorübergehend außer Betrieb“, sagte Lu Feng mit gesenktem Kopf zu An Zhe, „Du kannst in Erwägung ziehen, deine Hyphen zu benutzen, um ihn zu behandeln.“

Das ist absolut nicht nötig!“, Doktor Ji wurde blass vor Schreck, „Ich werde einfach gehen.“

Doch der Vorschlag von Lu Feng, den Mord an Doktor. Ji zu planen, weckte nicht An Zhes Interesse. An Zhe stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Lu Feng einen Kuss auf den Mundwinkel auf.

Wieder schnalzte Doktor Ji mit der Zunge: „Tsk.“

Lu Feng entgegnete: „Sie können jetzt gehen.“

Behandeln Sie so Ihren besten Freund, Oberst Lu?“, fragte Doktor Ji.

Ja.“

Was denn? Habe ich etwa nicht einmal die Qualifikation, euch beiden beim Spielen zuzusehen?“, in Doktor Jis Stimme lag eine Spur von Liebesneid.

Nein.“

Das Wort 'spielen' weckte An Zhes Interesse, und so hob er noch einmal seinen Kopf und sah Doktor Ji an.

So süß!“; Doktor Ji sah ihn ebenfalls an, und ein seltsames Licht blitzte in seinen Augen auf, „Ich werde nach deiner Autopsie noch lange weinen!“

An Zhe hatte immer das Gefühl, dass Doktor Ji von irgendetwas besessen war. Vielleicht war er mit Herrn Shaw verschmolzen. Doktor Ji verschränkte die Arme und stieß einen Seufzer aus, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf sein hellblaues Reagenzglas richtete.

Oberst Lu, wollen Sie das hier wirklich nicht versuchen?“, fragte er, „Extrakt Nr. 1014 hat keine Nebenwirkungen. In Kombination mit einer kleinen Frequenzanpassung der magnetischen Pole hatte einer der drei Probanden nach der Injektion eine perfekte Nachtsicht. Das ist etwas, das Sie selbst vor einem Monat aus dem Abgrund mitgebracht haben.“

Das Sonnenlicht schien durch die Lücken zwischen den Weinblättern auf die schlanke Glasröhre, in der das Reagenz funkelte.

Lu Feng warf nur einen Blick darauf.

Unter dem erwartungsvollen Blick des Arztes antwortete An Zhe stellvertretend für Lu Feng: „Er will es nicht.“

Tsk“, Doktor Ji drehte sich um und ging mit seinem Reagenzglas weg, während er an seinem Kommunikator herumfummelte, „Ein Anruf von Pauli. Auf Wiedersehen.“

An Zhe sagte: „Auf Wiedersehen, Doktor.“

Lu Feng wollte es wirklich nicht, das wusste An Zhe.

Außerdem brauchte Oberst Lu diese seltsamen Fähigkeiten und Verbesserungen gar nicht zu erlangen, denn er konnte sich bereits jetzt frei im Abgrund bewegen.

Während An Zhe in fantasievolle Gedanken versunken war, klammerte er sich mit seinen Hyphen an den nahe gelegenen üppigen Weinstock. Er beäugte ihn schon seit langem.

Iss nicht einfach immer alles wahllos!“, Lu Feng hatte seine Bewegungen bemerkt.

Das kann man verdauen“, argumentierte An Zhe.

Er streckte einen Hyphenstrang aus, um ihn Lu Feng zu zeigen. Die Hyphe kletterte bis zur Manschette des schwarzen Uniformärmels des Obersts und bildete auf den silbernen Ärmelknöpfen ein grünes neues Blatt, das sanft im Wind zitterte.

Das war An Zhes jüngstes Vergnügen. Seitdem er entdeckt hatte, dass er mit allen lebenden und nicht lebenden Dingen verschmelzen konnte, probierte er viele von ihnen aus - abgesehen von den hässlichen Dingen.

Bei einer relativ erfolgreichen Gelegenheit verwandelte er sich in einen Raum voller wehender Weidenkätzchen und hätte den Oberst fast darin erstickt.

Aber auch diese Fusionen waren nicht immer sicher. Wie Lu Feng schon vor langer Zeit gesagt hatte, machten Monster der polymorphen Klasse manchmal Fehler beim Formwechseln. Vor nicht allzu langer Zeit, als er Kartoffelsuppe getrunken hatte, ging er aus Liebe zu dieser Pflanze ins Labor und verschmolz mit einem kleinen Stück Kartoffel. Aber dann wurde er unerwartet bewusstlos und wachte erst nach drei Stunden wieder auf. Pauli hatte gesagt: „Das liegt daran, dass deine Frequenz als Pilz und die Frequenz der Kartoffel zu unterschiedlich sind, so dass es zu einer Abstoßung gekommen ist.“

Das war auch bei der Verschmelzung mit anderen Dingen so: Obwohl das Ergebnis immer positiv war, war der Prozess voller Unsicherheiten, so wie sich ein Stück Natrium in Wasser auflösen konnte, aber der Prozess des Auflösens in Wasser eine Explosion verursachte.

Von da an verbot Lu Feng ihm, Dinge einfach wahllos zu 'essen'.

Aber An Zhe wollte dieses kleine Stück Weinstock essen. Diese Handlung würde dem Leben der Rebe keinen Schaden zufügen, und außerdem hatte die Rebe keine Anomalien. Es war einfach eine ruhige und schöne blühende Rebe.

An Zhe kratzte vorsichtig eine kleine Öffnung in die Rinde, und Saft sickerte heraus.

Sie war sehr... ruhig. Als der blassgrüne Saft die Hyphen durchtränkte, wehte ein Wind aus dem Abgrund durch den kalten Himmel und rührte an der Rebe, die mit dem Forschungsinstitut verbunden war. Die Sonne, der Mond, die Sterne, alles am Himmel leuchtete darauf. An Zhe schloss die Augen. Es schien, als würde sich sein Körper entspannen, und Lu Feng war direkt an seiner Seite, so dass er sich um nichts zu kümmern brauchte. Er erlaubte Lu Feng, ihn halb zu halten, und sie setzten sich auf eine Bank im dunkelgrünen Korridor.

Vielleicht war sein Zustand normal, und die Rebe war auch normal. Lu Feng hatte ihm nicht erlaubt, diese Weinrebe zu essen, aber er hatte ihn auch nicht daran gehindert.

Das war ein stillschweigendes Einverständnis.

Er lag in Lu Fengs Armen und hielt sich an seiner Hand fest, seine Gedanken waren sehr chaotisch. Es war, als würde er im warmen Wasser baden.

Sie wächst hier seit vielen Jahren, und ursprünglich war es eine Rebe, die nicht blühen wollte", sagte er, „Später brachten einige geflügelte Tiere Pollen herüber und dann hatte sie weiße Blüten. Die Rebe findet sie sehr hübsch und ist sehr glücklich.“

Während er leise von den Gefühlen erzählte, die er durch den Weinstock und seine Erinnerungen erhalten hatte, griff er nach Lu Fengs Schulter und vergrub sich tiefer in seiner Umarmung. Er rieb seinen Kopf an Lu Fengs Hals, dann drückte er seine Wange gegen die leicht kühlen silbernen Quasten auf der Brust des anderen Mannes und fühlte sich sehr wohl.

Lu Feng brummte, um zu zeigen, dass er zuhörte.

Die Gefühle und Erinnerungen einer Rebe waren sehr einfache Dinge, aber es gab auch Dinge, die man mit der menschlichen Sprache nicht beschreiben konnte. An Zhe kratzte ein paar Worte zusammen: „Sie möchte auch blaue Blüten haben. Dann ... hofft sie auch, dass Vögel oder Schmetterlinge und Bienen wiederkommen und ihre Blüten bestäuben. Nach der Bestäubung kann sie dann Früchte tragen.“

Dann gab es nichts mehr zu sagen.

Lu Feng zerzauste An Zhe das Haar.

In diesem Moment leuchtete Lu Fengs Kommunikator auf, und er nahm ihn in die Hand. An Zhe schaute ebenfalls auf den Bildschirm des Kommunikators, der eine Nachricht von dem bereits verschwundenen Arzt zeigte: „Wollen Sie Extrakt Nr. 1014 wirklich nicht in Betracht ziehen? Ihr bester Freund braucht Sie wirklich sehr dringend. Er braucht eine Versuchsperson.“ - Der Arzt hatte noch immer nicht aufgegeben mit seinem Extrakt hausieren zu gehen.

Mit einem Lächeln beobachtete An Zhe, wie Lu Feng einen Knopf drückte und mit einem Wort antwortete: „Nein.“

Der Arzt antwortete: „Warum ist Ihre Einstellung so gleichgültig? Ist die Nachtsicht nicht gut? Brauchen Sie das nicht? Wollen Sie das nicht? Jedes Mal, wenn Sie in den Abgrund gehen, sorge ich mich um Ihre Sicherheit. Erst wenn Sie sich das Extrakt Nr. 1014 injiziert haben kann ich beruhigt sein.“

Er sprach, als würde er es tatsächlich selbst glauben.

Lu Feng entgegnete: „Ist da eine Infrarotbrille nicht wesentlich einfacher zu benutzen?“

Dann wäre Extrakt Nr. 1015 etwas für Sie. Rein schwarze Membranflügel mit einer durchschnittlichen Flügelspannweite von 4,3 Metern. Sie werden fliegen können, und es sieht toll aus. Ich hoffe aufrichtig, dass Sie das Gefühl des Gleitens durch die Lüfte erleben können. Wollen Sie das nicht in Betracht ziehen?“

Nicht nötig“, erwiderte Lu Feng.

Die Antwort des Arztes kam sehr schnell. Sogar durch den Bildschirm war sein Unmut zu spüren, da er sehr schnell tippte:
„Die Zeiten haben sich geändert, Herr Schiedsrichter! Sie müssen die Doktrin der menschlichen Abstammung vergessen, die Vorurteile in Ihrem Herzen ablegen und fremde Gene annehmen.“

Lu Fengs Antwort war so einfach und kalt wie zuvor: „Ich danke Ihnen.“

Mit Ihnen kann doch etwas nicht stimmen. Brauchen Sie psychologischen Beistand?“

Unnötig.“

Sie sind hoffnungslos!“, der Arzt ging sogar so weit, dass er eine schreiende Sprachaufnahme an Lu Feng geschickt hatte.

Dann folgte erneut eine Textnachricht: „Wann werden Sie endlich Ihre Besessenheit von reiner Blutlinie und Moral kuriert haben? Haben Sie sich nicht einst ins Exil begeben. Anscheinend sind Sie davon noch nicht zurückgekehrt. Ich möchte Sie mit Extrakt vollspritzen!“

Offensichtlich war der Arzt sehr verzweifelt.

Er war immer so, wenn er mit seinen Extrakten nicht hausieren gehen konnte.

Mit einem Ausdruck, der so ruhig war wie immer, antwortete Lu Feng: „Ich bin ganz normal.“

Dann wählen Sie zwischen 1014 und 1015, und ich werde Ihnen das glauben.“

Lu Feng sagte nichts.

Sehen Sie, Sie sind nicht mehr zu retten“, sagte der Arzt.

Lu Feng runzelte leicht die Stirn. Nach einer langen Zeit tippte er ein einzelnes Wort in den Kommunikator und schickte es ab: „Hässlich.“

Es folgte eine kurze Stille.

Sie sind wirklich etwas Besonderes“, sagte der Arzt.

Lu Feng lockerte seinen Griff, und An Zhe hielt den Kommunikator und lächelte, als er das las.

Er dachte, der Arzt wusste es einfach - während er es längst geahnt hatte.

Nach dem 'Glockenschlag' nahmen viele Menschen freiwillig einige Frequenzen auf, die als sicher eingestuft worden waren. Einigen Menschen wuchsen Flügel, während andere die Fähigkeit zur Photosynthese erhielten. Natürlich erlebten einige Menschen auch harmlose Abstoßungen, und es gab sogar einige wenige, die trotz Verschmelzung keine Fähigkeiten hinzugewannen.

Aber Lu Feng lehnte so etwas ab.

Natürlich war der Grund dafür nicht so, wie der Arzt behauptet hatte, dass Lu Feng von seiner Blutlinie besessen sei und nicht zulassen wolle, dass die Zusammensetzung seiner eigenen Spezies nicht von anderen Monstern kontaminiert wurde.

Der wahre Grund war ganz einfach.

Lu Feng fand, dass diese Monster oder Xenogenics alle sehr hässlich waren.

Eine friedliche Koexistenz zwischen ihm und den Menschen im Forschungsinstitut, die mit den Genen anderer Kreaturen verschmolzen waren? Gut.

Aber dass er eine Verschmelzung mit irgendetwas anderem versuchte? Keine Chance.

Er hasste es.

An Zhe legte den Kommunikator beiseite und sah zu Lu Fengs Gesicht auf.

Sein Blickwinkel war genau richtig, um alle Details zu sehen.

Lu Feng hatte ein unvergessliches Gesicht, aber nur wenige würden es wagen, ihn direkt anzusehen, und noch weniger würden seine Züge sorgfältig untersuchen.

An Zhe fand, dass seine Augen das Schönste an ihm waren, so unverwechselbar wie der scharfe, beißende Wind auf den Gipfeln der Berge im Abgrund. Er streckte die Hand aus, um die dünnen Augenbrauen des Oberst zu berühren. Als er die Schaufensterpuppe hergestellt hatte, hatte Herr Shaw immer wieder den Kopf der Schaufensterpuppe betrachtet, der nur Augenbrauen und Haare hatte.

Er hatte dann immer bewundernd mit der Zunge geschnalzt und: „Gut gemacht“, gesagt.

Weiter unten waren lange, schmale, tiefgrüne Augen, die halb von Wimpern bedeckt waren, ihr Blick kalt und einsam. In diesen Augen war es möglich, sein eigenes Spiegelbild zu erkennen.

An Zhe dachte, dass ein Mensch, der so aussah, tatsächlich die Qualifikation hatte, andere Dinge als hässlich zu verachten. Er schaute wieder auf den Kommunikator, und da war eine weitere Nachricht von dem Arzt.

Sie wollen mir also damit sagen, dass ich auch nicht hübsch aussehe?“

Der Oberst antwortete nicht.

Er drehte sich wieder zu Lu Feng um und vergrub sich noch tiefer in seine Arme. Aus irgendeinem Grund wollte er das gerade jetzt tun, und er fühlte sich seltsamerweise ein wenig lethargisch. Lu Feng zog ihn näher zu sich und fragte: „Was ist los?“

An Zhe schüttelte den Kopf, weil ihm plötzlich ein Problem einfiel. Er schaute Lu Feng an, sagte aber nichts. An Zhe war ein Pilz, der oft früh schlief und früh aufwachte, mit Augen, die normalerweise klar und hell waren, aber jetzt war es, als wären sie von einer feuchten Schicht umnebelt.

Lu Feng senkte seinen Kopf und kam ein wenig näher.

An Zhe sagte mit leiser Stimme: „Ich bin auch ein Xenogenic.“

Mm-hm“, sagte Lu Feng, „Mein kleiner Xenogenic.“

An Zhe fragte: „Findest du Pilze auch hässlich?“

Du nicht. Du bist schön“, sagte Lu Feng, „Die Farbe Weiß sieht gut aus.“

Was wäre denn, wenn ich ein grauer Pilz wäre?“

Das wäre schon in Ordnung.“

Was ist mit einem schwarzen Pilz?“

Das ist auch in Ordnung.“

Wie wäre es mit einem Regenbogenpilz?“

Hmm“, Lu Feng sah ihn ausdruckslos an. Seine Stimme war vollkommen ruhig, als er sagte: „Dann würde ich dir einen weißen Pilz zu essen geben.“

Dieser Mann hatte die Fähigkeit, dass sein Gesichtsausdruck umso ernster wirkte, je mehr er andere ärgerte.

Also sagte auch An Zhe ausdruckslos: „Dann werde ich dich essen.“

Mit einem leisen Lachen hob Lu Feng ihn hoch und änderte ihre Position, so dass sie sich nicht mehr waagerecht hielten, sondern einander gegenüberstanden.

An Zhe plumpste nach vorne, als wäre er knochenlos, und stieß dabei mit der Stirn gegen die von Lu Feng. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise hatte er Knochen. Aber im Moment fühlte er sich faul bis ins Mark eines jeden einzelnen Knochens, also wich er nicht zurück. Das Reiben von Lu Fengs hohem Nasenrücken an seiner Nase war ein wenig kitzlig, also rieb er zurück und vergrub anschließend seinen Kopf in der Beuge von Lu Fengs Schulter.

Lu Feng umarmte ihn, und er rieb sich unbewusst weiter an Lu Feng. Dieser schien zu lächeln und drückte ihn ein wenig fester an sich.

Der Kommunikator leuchtete auf und ging dann aus, dann leuchtete er wieder auf, während Doktor Ji unermüdlich weiter verleumderische Nachrichten schickte. Lu Feng warf einen Blick auf die wütenden Worte des Arztes, dachte an das Gespräch von vorhin und wandte sich an An Zhe.

Er fragte: „Sind meine moralischen Ansprüche sehr hoch?“

Hm?“, eine Zeit lang verstand An Zhe nicht, was er meinte. Nach einigem Nachdenken sagte er: „Du bist ein guter Mensch.“

Oh.“

An Zhe fühlte, dass seine Antwort vielleicht etwas oberflächlich war, und fügte hinzu: „Du bist oft gut zu mir.“

Lu Feng fragte: „Und wie behandle ich dich?“

Zu mir...“, An Zhe grübelte darüber nach, „Manchmal behandelst du mich nicht sehr gut.“

Du kannst ruhig noch einmal über deine Antwort nachdenken“, sagte Lu Feng.

An Zhe sagte hartnäckig nichts, was Lu Feng wieder zum Lachen brachte. Als er lachte, vibrierte seine Brust ein wenig, und sie waren sich so nahe, dass An Zhe es spüren konnte.

Lu Feng sagte nichts weiter.

Also begann An Zhe nachzudenken.

Natürlich war Lu Feng gut zu ihm. Verwundet zu werden, während er im Abgrund war, war unvermeidlich. Manchmal sickerte nur ein Rinnsal Blut an seinem Arm, aber die Art, wie Lu Feng seine Wunden behandelte, gab ihm das Gefühl, als hätte er sich den Arm gebrochen, so viel Sorgfalt wandte er dabei auf. Wenn An Zhe etwas tun wollte, würde er ihn nicht aufhalten. Wenn An Zhe etwas nicht wollte oder nicht einverstanden war, würde er es auch nicht von ihm verlangen, obwohl so etwas nur selten vorkam.

Allerdings schikanierte dieser Mann ihn oft wegen einiger kleiner Angelegenheiten. Seit er nach ihrem ersten Treffen wegen der Vorwürfe der Unanständigkeit inhaftiert worden war, hatte ihm diese Person ihre wahre Natur offenbart.

Lu Feng war auch recht gut zu Doktor Ji, obwohl es den Anschein machte, dass die beiden sich jeden Tag nur bissige Bemerkungen an den Kopf warfen.

Und die anderen...

Natürlich gab es an der Art, wie Lu Feng sie behandelte, nichts auszusetzen.

Angenommen, das Forschungsinstitut geriete in eine Katastrophe, wer auch immer in einem Raum mit Lu Feng weilte, der würde von Lu Feng unweigerlich dazu gebracht werden, zuerst zu gehen, während er selbst sich der Gefahr allein stellte. Wenn jemand um Hilfe bat, so würde Lu Feng ihn auch nicht abweisen.

Aber das war auch schon alles. Wenn es sich nicht um lebenswichtige und arbeitsbezogene Interaktionen handelte, würde er mit niemandem außer Pauli mehr als nötig kommunizieren.

In der Tat hatten die Leute des Forschungsinstituts sehr freundschaftliche Beziehungen. Gegenseitiges Geplänkel und Streitereien waren an der Tagesordnung und es gab auch viele friedliche Gespräche und Kooperationen, aber es war klar, dass der mächtige Schiedsrichter bei all dem nicht mitmachen würde.

An Zhe war der Meinung, dass der Oberst die Menschen zu lange aus der Ferne beschützt hatte, so dass er vergessen hatte, sich unter sie zu mischen, oder vielleicht hatte er es überhaupt nie gelernt.

Er sagte: „Du kannst auch deine Erwartungen an dich selbst ein wenig herunterschrauben.“

Wie denn?“

An Zhe hatte keine Ahnung, wie er er Lu Feng dies begreiflich erklären konnte, also antwortete er: „Denk selbst nach.“

Lu Feng sagte: „Okay.“

Das Timbre seiner Stimme war ebenfalls sehr kühl und schien ein Lächeln zu enthalten; Es war ein sehr jugendlicher Klang.

An Zhe dachte, er sei ein Pilz, der sich in der menschlichen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad integriert hatte. Doch er hatte auch noch viel zu lernen. Aber das Gleiche galt auch für Lu Feng. In dieser Hinsicht waren sie genau gleich. Also sagte er: „Wenn du zum Beispiel mit den Leuten des Forschungsinstituts befreundet sein willst, kannst du mit allen zu Abend essen und ihnen Obst mitbringen, wenn du von draußen zurückkommst.“

Diese Art von Methoden waren für Lu Feng möglicherweise nicht anwendbar. Er hatte nur ein Beispiel geben wollen, und natürlich würde Lu Feng das verstehen.

Das glaube ich nicht so wirklich“, sagte Lu Feng, „Ich habe doch dich zum Essen und ich bringe dir auch Früchte mit.“

Das mit uns ist etwas anderes.“

Hm?“, Lu Fengs Stimme nahm den leichten nasalen Klang an, den sie oft hatte, wenn er An Zhe neckte, „Was ist denn bei uns anders?“

An Zhe hatte keine Lust, mit diesem Mann zu reden, also biss er Lu Feng in den Hals. Es schien weh zu tun, also küsste er dieselbe Stelle, um es wiedergutzumachen.

In Lu Fengs Stimme lag ein Lächeln: „Du hast recht.“

An Zhe spürte, dass er und der Oberst von Anfang an aneinander vorbeigeredet hatten. Am liebsten hätte er sich aufgesetzt und Lu Feng das Gesicht geknetet.

Also legte er seine Hände auf Lu Fengs Schultern und wich ein wenig zurück. Genau in diesem Moment wurde sein Körper plötzlich und ohne Grund schlaff, und er schaffte es fast nicht, sich zu stabilisieren, während er nach vorne fiel... direkt auf Lu Feng.

Lu Feng stützte ihn: „Was ist los?“

An Zhe schüttelte den Kopf, denn er konnte nicht beschreiben, wie er sich fühlte. Lu Feng berührte seine Stirn, aber er entdeckte nichts. An Zhe lehnte sich an seine Schulter und atmete hastig ein, er konnte plötzlich keine Kraft mehr aufbringen: „Ich fühle mich nicht gut...“

Wo fühlst du dich nicht wohl?“

An Zhe schmiegte sich nur benommen an Lu Feng. Es war schwer
in menschlicher Sprache zu beschreiben, wie er sich gerade fühlte. Es war, als ob er den Ruf der Jahreszeit empfing und darauf wartete, dass etwas passierte. Das letzte Mal, als er diese Art von Vorahnung hatte, war es der Tag, an dem seine Spore ihn verlassen hatte.

Aber dieses Mal war es anders.

Würde er jetzt eine neue Spore produzieren und somit eine weitere Runde von Verwelken und Wiedergeburt beginnen? Nein, das war auch nicht richtig. Im Moment wünschte er sich nur, Lu Feng ein wenig näher zu sein. Lu Feng hielt seine Hand. Die Hand des Obersts war sehr kalt, aber dann merkte An Zhe, dass Lu Fengs Temperatur normal war und dass er selbst es war, der sehr warm war.

Er rieb sich an der Schulter von Lu Feng und schüttelte den Kopf, schloss die Augen, und ein paar verschwommene Bilder erschienen vor ihm.

Wind. Der Sommerwind wehte von einem Ort südlich des Abgrunds. Der Dschungel war ein tiefgrünes Meer, das sich im Wind wogte, und die neuen Blätter der Reben wiegten sich sanft.

Der Sommer war seine Blütezeit.

In den Zwischenräumen zwischen den Blättern und Zweigen wuchsen schneeweiße Blüten wie Pilze, die nach dem Regen aus dem Boden schossen, und die Blütenblätter füllten den ganzen Himmel aus.

Dann kam das Warten.

Warten auf was?

Auf die Vögel, auf die Schmetterlinge.

Was würden die Vögel und Schmetterlinge tun?

Er wimmerte vor Unbehagen.

Das war das Problem der Rebe. Er hatte gerade Lu Fengs Warnung missachtet und den Saft einer der neuen Reben dieses Jahres gegessen, bevor diese seltsamen Symptome auftraten. Es war wie damals, als er ein Stück Kartoffel gegessen hatte und drei Stunden lang ohnmächtig war.

Lu Feng hob den Kopf von An Zhe hoch und tätschelte ihm sanft die Wange: „An Zhe?“

An Zhe war klar im Kopf, aber er hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Um seinen Zustand genauer sehen zu können, hob Lu Feng ihn ein wenig hoch, was ihm sehr unangenehm war. Als An Zhe versuchte, sich gegen Lu Feng zu lehnen, murmelte er: „Die Ranke...“

Was? Schmerzen?“

An Zhe griff nach einer der weichen Lianen, die wahllos im gesamten Korridor baumelten: „Die Ranke.“

Als Lu Feng ihn festhielt, atmete er leicht auf. In der Tat sah An Zhe nicht so aus, als hätte er Schmerzen. Er klopfte An Zhe auf den Rücken, und An Zhe wimmerte, während er versuchte, sich in Lu Fengs Arme zu schmiegen.

Lu Feng blickte auf die nahegelegene Kaskade aus blühenden grünen Ranken. Hinter den Ranken befand sich das weiße Gebäude des Forschungsinstituts. Zum Glück war dieser Ort nicht weit von ihren Wohnräumen entfernt.

Ein schwacher Blütenduft wehte im Wind, etwas, das schon immer da war. Jetzt kam ein zusätzlicher kühler Duft hinzu, der so schwach war, dass er kaum wahrnehmbar war, wie der Duft von Gras und kleinen weißen Blüten nach dem Regen.

Das war es, was Pilze beim Wachsen mochten. Nach ein paar Regenperioden würde er zum Duft der Pilze selbst werden. Der mächtige Schiedsrichter stieß einen seltenen leisen Seufzer aus.

Er hielt An Zhe an den Schultern fest und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. An Zhe griff fester in den Stoff seines Ärmels und sah zu ihm mit feinen Tröpfchen, die an seinen nassen Wimpern klebten, auf.

Du bist ein Pilz“, sagte Lu Feng, „Du kannst nicht einfach wahllos Dinge essen.“

An Zhe sah die Rebe an. Es gab keine normalen Reben mehr auf der Welt, auch wenn sie normal aussah, aber er fühlte sich nun trotzdem sehr unwohl. Nur durch die Nähe zu Lu Feng konnte er Erleichterung finden, so wie die weißen Blüten der Rebe auf die Schmetterlinge warteten.

Mit einem Stirnrunzeln erwiderte er Lu Fengs Blick.

Lu Feng schaute ebenfalls auf ihn herab.

Dann wurde er auf starke Arme hochgehoben: „Wirst du dir das ab jetzt merken können?“




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