8.
"AN ZHE WAR SO WÜTEND, DASS ER
SOGAR
SEINE HYPHEN VERLÄNGERN WOLLTE."
„FUCK!“, Jensen schrie auf, „Es
ist direkt unter mir!“
Er hatte Recht. Unmittelbar darauf spürte An Zhe, wie der Boden unter seinen Füßen zu zittern begann. Das Gefühl war sehr nah und sehr real, als würde ein schwerer Hammer von unten gegen den Boden schlagen. Laute krachende Geräusche ertönten immer wieder vom anderen Ende des Korridors, und das Klappern der Eisentüren wurde von den alarmierten Schreien der Gefangenen aus dieser Richtung begleitet.
„Von da drüben kommt es auch“, Poets Worte beschleunigten sich abrupt, „Das sind unterirdische Kreaturen - könnten es Nagetiere sein? Sie leben in Gruppen, und in der Südöstlichen Basis war...“
Bevor er zu Ende gesprochen hatte, korrigierte er sich schnell: „Das kann nicht richtig sein,... Nagetiere hätten unterirdisch nicht diese Kraft. Unterirdisch gäbe es nur...“
Die Geräusche von eiligen Schritten waren zu hören, als eine Gruppe von schwarz gekleideten Soldaten von der Treppe des Korridors heruntereilten und wild mit ihren Taschenlampen fuchtelten, als plötzlich ein Knarzen in ohrenbetäubender Lautstärke durch den Korridor hallte.
„Keine Panik. Das Fundament der Städtischen Verteidigungs-behörde ist sehr stabil, da es mit Zement und speziellen Stahl-platten gefüllt ist. Wir sind gerade dabei, die Ursache zu ermitteln. Nur keine Panik.“
Hätten sie nicht schnell die Zellentüren geöffnet, um die Gefangenen herauszulassen, während sie das schrien, hätten ihre Worte um einiges glaubwürdiger gewirkt.
Zur gleichen Zeit ertönte von draußen
ein schriller Ton. Das Geräusch des Alarms hob und senkte sich
wie Wellen.
„Der Evakuierungsalarm wurde ausgelöst!“, Jensen
schlug fest auf die Zellentür ein, „Kumpel! Beeil dich und mach
mir auf!“
Ein Soldat öffnete in einiger Ferne hastig drei Gefängnistüren, dann schritt er schnell zu ihnen hinüber. Herr Shaw hielt sich an die Wand gedrückt in seiner Zelle auf und näherte sich seiner Zellentür. Nachdem der Soldat den Schlüssel für die Zellentür gefunden hatte, steckte er ihn schnell in das Schloss. Mit einem Klicken öffnete sich die Eisentür. Herr Shaw stürzte praktisch hinaus und der Soldat sagte schnell: „Gehen Sie nach rechts und dann die Treppe hinauf zum Ausgang!“
Herr Shaw stolperte ein wenig, dann
rannte er nach rechts.
Staub rieselte von der Decke und ein Soldat
wischte sich das Gesicht ab, während er auf die Tür von Poet
zueilte. In diesem Moment rief Jensen: „Er wurde lebenslang
eingesperrt! Er ist ein gefährliches Element! Öffne zuerst meine
Tür! Ich bin ein guter Bürger!“
Der Soldat schien kurz zu zögern. Als sich das Beben des Bodens verstärkte, drehte er sich um und öffnete Jensens Zellentür. Jensen klammerte sich mit beiden Händen an die Eisentür, seine Stimme zitterte heftig: „Hey, Kumpel, beeil dich.“
An Zhe sah, dass auch die Hand des Soldaten zitterte. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, den Schlüssel in das Schloss zu stecken. Jensen sagte: „Du bist mein Retter...“
Seine Stimme wurde abrupt unterbrochen. Der Boden knarrte und er wurde ohne Vorwarnung angehoben. Ein riesiges schwarzes Ding, das sich von unten gegen die zerbrochenen Bodenstücke und den herunterrieselnden Staub stemmte, war plötzlich inmitten von Jensens Zelle aufgetaucht!
Mit einem dumpfen 'Pff' war Jensens Körper zwischen dem Monster und der Decke eingequetscht worden und seine Augen traten hervor. Etwas Scharfes schlitzte seinen gesamten Unterleib auf und Blut, vermischt mit Eingeweiden, tropfte schwallartig aus ihm heraus. Ein schriller Schrei ertönte. An Zhes Pupillen weiteten sich und er drehte langsam seinen Kopf weg. Der Soldat, der die Tür geöffnet hatte, war von einem Stück der verbogenen Eisentür von der rechten Seite der Brust bis hinunter zu seinem Oberschenkel aufgespießt worden, und wälzte sich nun schreiend und hustend am Boden. Große Mengen an blutigem Schaum sprudelte ständig aus seinem Mund, so dass vielleicht seine Lunge durchstochen worden war.
Mit einem Knall fiel das schwarze Ding wieder schwer zu Boden. Es riss dabei ein noch größeres Loch in den Boden, und es war leer darunter. Jensens Körper fiel hinein, um nie wieder gesehen zu werden.
Die Schreie der anderen Soldaten kamen aus den Tiefen des Korridors: „Holt sie raus!“
Doch in der nächsten Sekunde ertönte auch dort das gewaltige Dröhnen eines zerbrechenden Bodens. Die Eisentüren klirrten, als sie scheppernd zu Boden fielen, und die Decke zersplitterte und stürzte ein. Zwei ängstliche Schreie ertönten, dann hörten sie abrupt auf.
An Zhe hörte schmatzende Kaugeräusche.
Zuerst war das Geräusch von Wasser zu hören, dann das dumpfe Geräusch von Reibung - das Geräusch von zusammengedrückten Körpern - und schließlich das Knacken und Zersplittern von Knochen. Die Geräusche kamen sowohl vom Ende des Korridors als auch aus der unterirdischen Höhle vor An Zhe.
Während der Soldat zuckte und sich herumwälzte, landete seine Taschenlampe auf dem Boden und rollte ein paar Mal. Ihr fahles weißes Leuchten erhellte den pechschwarzen Spalt.
Gleichzeitig schlich sich eine einzelne Hyphe aus dem kleinen unteren Spalt der Eisentür, und weitere Hyphen folgten.
Sie verbanden sich zusammen zu einem Strang und schnappten sich die ausgebreiteten Schlüssel auf dem Boden neben dem röchelnden Soldaten, und zogen sie dann langsam durch den Spalt zurück in die Zelle. Die Schlüssel schabten auf dem Boden und machten ein raues Geräusch. An Zhe sah den ängstlichen Blick des Soldaten, der in seine Richtung gerichtet war - aber An Zhe war nicht in der Lage, sich nun um ihn zu kümmern, und er wusste, dass der Soldat ebenso nicht in der Lage war, sich um An Zhe zu kümmern, da der Soldat bereits seinen letzten Atemzug getan hatte.
An Zhe fragte seinen Nachbarn: „Welche Nummer hat meine Tür?“
Poets Stimme zitterte: „17. Geht es dir gut?“
„Mir geht es gut“, sagte An Zhe. Er dachte einen Moment lang nach. Seine Eisentür war direkt neben Poets Eisentür, so dass Poet nicht hatte sehen können, wie An Zhe die Schlüssel genommen hatte.
Die Hyphen zogen sich zurück. Er schnappte sich schnell die Schlüssel, fand den für Nr. 17 und trennte ihn vom Rest. Die Kaugeräusche beschleunigten sich. Als er den Schlüssel zu Nr. 17 in der Hand hielt, verließen seine Hyphen damit erneut durch den Spalt unter der Eisentür die Zelle. Ein Teil der Hyphen klebte sich von außen an die Eisentür fest und ertastete die Lage des Schlüssellochs, während der andere Teil der Hyphen den Schlüssel in das Schlüsselloch einführte. Die Hyphen waren sehr zerbrechlich und hatten nur eine begrenzte Festigkeit. Eine zunehmende Anzahl von Hyphen konvergierte, und so drehte sich der Schlüssel schließlich im Schloss herum.
Mit einem Klicken sprang das Schloss auf. Mit den restlichen Schlüsseln in der Hand stieß An Zhe die Tür auf und lief zur Nachbartür. Seine Hände zitterten ein wenig, als er den Schlüssel zu Nr. 18 fand. Dann, mit der Taschenlampe auf das Schlüsselloch gerichtet, schob er den Schlüssel hinein und drehte ihn gewaltsam nach links. In diesem Moment hörten die Kaugeräusche völlig auf.
„Mein Gott...“, ein junger Mann fiel durch die sich öffnende Tür und stolperte hinaus. Noch bevor An Zhe einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte, zog er ihn mit aller Kraft über den Körper des toten Soldaten hinweg und sie beide rannten in Richtung des rechten Korridors, der die einzig sichere Richtung zu sein schien. Der Boden bebte noch immer, und es wurde mehr als offen-sichtlich, dass sich dort noch mehr als nur zwei von diesen schwarzen Dingern befanden.
In diesem Moment blinkten die Notlichter ein paar Mal auf, bevor sie ganz ausgingen, und der Bereich vor ihnen wurde in völlige Dunkelheit gehüllt.
An Zhe hörte Poet neben sich nach Luft schnappen: „Sieh bloß nicht nach hinten!“
Aber An Zhe drehte trotzdem den Kopf zurück, denn er konnte in diesem Augenblick nicht anders.
Ein Käfer.
Und da war ein riesiger schwarzer Wurm, der mehr als die Hälfte der Breite des Korridors überspannte. Sein Körper war schlangen-artig, aber er war auch in verschiedene Segmente unterteilt. In diesem Moment schlängelte er sich durch den massiven Spalt im Boden, den Kopf erhoben, während er in die Richtung von An Zhe und Poet blickte - vielleicht konnte man es auch gar nicht Kopf nennen, denn er hatte weder Augen noch irgendwelche Strukturen, die ein Kopf haben sollte. Das vordere Ende seines Körpers hatte nur ein rundes Maul mit dicht gepackten Zähnen.
Und hinter ihm schlängelte sich ein weiterer identischer Wurm aus dem Loch heraus. Zwei Mäuler, in denen unzählige Zähne dicht nebeneinander standen, krochen ihnen mit einem rasch-elnden Geräusch nach. Sie näherten sich, ihre Geschwindigkeit war überhaupt nicht langsam, und sie waren weniger als zwanzig Meter entfernt. An Zhe roch den Gestank ihrer Körper.
Poet biss die Zähne zusammen und schrie: „Lauf!“
Aber der Boden bebte plötzlich wieder, und die große Wucht schleuderte An Zhe gegen die Wand. Ein scharfer Schmerz schoss seinen linken Arm hinauf - es schien, als sei er mit einer verformten Eisentür zusammengestoßen.
Er drückte sich mit dem anderen Armen wieder hoch und Poet gab ihm ebenfalls einen Ruck. In der pechschwarzen Finsternis sprinteten sie erneut in die Richtung, die sie für den rettenden Ausgang hielten. In der Dunkelheit konnte alles passieren. Vielleicht würde in der nächsten Sekunde ein dritter Wurm durch die Erde vor ihnen hervorbrechen, oder sie würden direkt in die Wand laufen, weil sie nichts sehen konnten.
Oder... er rannte tatsächlich gegen eine Wand.
An Zhe stieß mit dem Kopf gegen etwas, das die Konsistenz von Metall hatte und spürte erneut Schmerzen. Sein ganzer Körper war mit etwas zusammengestoßen. Dann schlang sich etwas um seine Taille und versuchte, ihn aufzuheben und wieder aufzurichten.
Diese Wand hatte Hände!
„Gibt es noch lebende Menschen hinter dir?“, Lu Fengs Stimme ertönte aus unmittelbarer Nähe, seine Worte waren schneller als sonst.
An Zhe blieb fast das Herz stehen. Er sagte: „Nein.“
Die anderen Menschen da drin waren alle tot.
„Bereitet die Uranmunition vor, so viel wie möglich“, sagte Lu Feng. Gerade als er zu Ende gesprochen hatte, leuchteten weiße Lichter auf und flogen schnell in die Tiefe des Korridors. Bevor An Zhe reagieren konnte, stieß Lu Feng ihn erneut zu Boden. Sie wälzten sich auf dem Boden, und An Zhe fand sich schließlich unter dem Mann gepresst wieder vor.
Im nächsten Moment ertönten die dumpfen Geräusche einiger Explosionen und die blitzartigen weißen Lichter verschwanden augenblicklich. Die Gestalt von Lu Feng hinterließ einen schillernden Eindruck auf An Zhes Netzhaut. Er schloss seine Augen und klammerte sich mit der rechten Hand an Lu Fengs Ärmelmanschette und schnappte heftig nach Luft - gerade eben war er einfach zu schnell gerannt.
Der Boden bebte noch immer heftig. Nur drei Sekunden später zog Lu Feng ihn wieder vom Boden hoch. Andere Menschen waren in der Nähe, und Lichter erhellten den Bereich, in dem sie sich befanden. Lu Feng sagte: „Komm.“
An Zhe folgte ihm, als sie sich umdrehten und eine Treppe hinaufliefen. Er hatte nicht mehr viel Kraft, aber wie durch ein Wunder schien die Hand, mit der Lu Feng ihm half, eine besondere Fähigkeit zu besitzen. Wann immer er nicht mehr konnte, zog der Mann ihn weiter.
Er wusste nicht, wie lange er ihm blindlings gefolgt war, als endlich die eiskalte Luft von draußen in seine Luftröhre strömte. Er lehnte sich praktisch an Lu Feng und keuchte die ganze Zeit. Lu Feng sagte: „Jetzt ist es in Ordnung.“
„Lehrling! Lehrling!“, eine Gestalt in der Nähe lief zu ihnen herüber und griff nach seinem Arm, um ihn Lu Feng zu entreißen. Es war Herr Shaw.
An Zhe erholte sich endlich ein wenig, und auch seine Sicht klärte sich etwas. Er sagte: „Poet...“
„Ich bin hier“, eine Stimme kam von hinter ihm. An Zhe drehte sich um und sah eine junge, gut aussehende Person, die mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und vor Anstrengung nach Luft schnappte. Als sich seine Atmung endlich beruhigt hatte, sagte er gemächlich: „Du bist gut darin, Leute anzurempeln.“
An Zhe fehlten die Worte.
Doch ohne zu warten, dass er etwas sagte, ergriff Lu Feng das Wort: „Direktor Howard“, sagte er, „Sie sind spät dran.“
An Zhe blickte nach vorne und sah eine Reihe von Soldaten vor sich stehen. Ihr Anführer war ein großer Mann in der Uniform der Städtische Verteidigungsbehörde, mit eisengrauen Haaren, einer prächtigen Hakennase und einem Emblem auf der Schulter, das dem von Lu Feng ähnelte. Er trug ebenfalls den Rang eines Obersts und schien der angesprochene Direktor der Städtischen Verteidigungsbehörde zu sein.
Howards Stimme war so ruhig und kalt wie die Ausstrahlung seiner ganzen Person: „Wir waren ursprünglich darauf vorbereitet, wahllos zu bombardieren. Indem Sie die Grenzen Ihrer Befugnisse überschritten haben, brachten Sie mich in eine schwierige Lage, Oberst Lu.“
„Meine Gefangenen waren ja noch da drin und mussten evakuiert werden!“, Lu Fengs Stimme war eisig, „Und wagen Sie es wirklich, wahllos Bomben auf den Standort des Ultraschalldispersionsgerätes zu werfen?“
„Es gibt keinen Grund, dass sich das Prozessgericht mit den alleinigen Angelegenheiten der Städtischen Verteidigungsbehörde beschäftigen müsste“, brummte Howard, „Sie sollten lieber nachsehen, ob die Leute, die Sie da aus dem Untergrund geholt haben, infiziert worden sind oder nicht.“
Lu Feng entgegnete daraufhin ebenfalls brummend: „Und es gibt ebenfalls keinen Grund, dass sich die Städtische Verteidigungs-behörde mit den alleinigen Angelegenheiten des Prozessgerichts beschäftigen müsste.“
Doch Howards Blick blieb hart auf An Zhe haften. An Zhe begegnete kurz seinen Augen und erkannte, dass der Mann auf seinen linken Arm starrte - er hatte sich im Untergrund verletzt und blutete. Lu Fengs rechte Hand klopfte An Zhe auf die Schulter: „Ich werde ihn mitnehmen und ihn während der Pufferzeit unter Beobachtung halten.“
Howard räusperte sich: „Danke für Ihre Mitarbeit.“
Unmittelbar danach wandte er sich an die Soldaten der Städtischen Verteidigungsbehörde: „Bereitet euch auf die Bombardierung vor.“
Dann brachte Lu Feng An Zhe weg, während ihnen Herr Shaw schweigend nachsah.
Lu Fengs Büro in der Städtischen Verteidigungsbehörde befand sich in einem Nebengebäude des Hauptgebäudes. Es war ein Raum ohne jegliche Dekoration. Gerade als An Zhe eintrat, schloss er die Tür von innen ab.
Vielleicht war das eine Art Vorsichtsmaßnahme, dachte An Zhe. Wenn er wirklich infiziert wäre und sich in ein Monster verwandeln würde, dann würde er diesen Raum nicht verlassen können. Er sah, wie Lu Feng zu dem grauen Schreibtisch ging, eine Schublade öffnete und einen weißen Gegenstand herausnahm, den er ihm hinwarf. An Zhe fing ihn unbewusst auf und sah, dass es sich um eine Rolle Verbandszeug handelte. Der Schiedsrichter wollte wahrscheinlich, dass er seine Wunde verband.
Er setzte sich auf einen Stuhl an einen anderen Schreibtisch in der Nähe des Fensters und begann, mit der Mullbinde herum-zufummeln. Er dachte, dass auch wenn der Schiedsrichter die Menschen zwar nach Belieben für schuldig erklärte, er vielleicht doch als ein guter Mensch angesehen werden könnte.
Er war an seinem linken Arm verwundet. Die Wunde war klein, nur ein Kratzer von dem Eisenblech. Es tat nicht sehr weh, aber Blut war herausgesickert. An Zhe riss ein Stück Verbandsmaterial von etwa einen halben Meter Länge ab und begann, es mit der rechten Hand um den linken Arm zu wickeln, aber er konnte ihn nicht zuknoten.
Mit großer Mühe gelang es ihm nur, seinen Arm sehr locker mit dem Verband einzuwickeln, aber er konnte mit einer Hand keinen Knoten machen. Menschliche Finger waren nicht so geschickt wie Hyphen, und außerdem hatte er nur eine Hand zur Verfügung, und zudem war er mit menschlichen Gliedmaßen nicht besonders vertraut. Aber An Zhe spürte, dass als jemand, der oberflächlich gesehen ein Mensch war, es peinlich sein müsste, wenn er nicht einmal einen Verband wickeln konnte. Also runzelte er die Stirn und versuchte weiter, einen Knoten zu binden.
Er spürte, wie ein Blick auf ihm landete. Lu Feng beobachtete ihn. Er versuchte weiterhin einen Knoten zu knüpfen. Aber sobald er daran dachte, dass der Schiedsrichter jede seiner Bewegungen beobachtete, wurde seine Knüpftechnik immer schlechter.
Nachdem er sich drei Minuten lang an dieser Aufgabe versucht hatte, gelang es ihm nicht nur nicht, den Knoten zu knüpfen; seine Bandage löste sich nun auch noch immer mehr. In dem Moment, als der Verband sich fast wieder vollständig gelöst hatte, war An Zhe so wütend, dass er sogar seine Hyphen verlängern wollte.
Ein leises Lachen kam von der anderen Seite.
Eigentlich konnte man es nicht als Lachen bezeichnen. Es war nur das Geräusch eines Atemzuges, sehr kurz, aber An Zhe konnte erkennen, dass es sich um ein höhnisches, ein spöttisches Lachen handelte.
An Zhe war sprachlos.
Der Schiedsrichter machte sich über ihn lustig.
Genau in diesem Moment erschien eine Hand vor seinen Augen. Lange Finger und blasse Haut. An Zhe war mit dieser Form viel zu vertraut, denn nachdem Herr Shaw diese Hand fertiggestellt hatte, wurde sie in den Behälter am Kopfende seines Bettes gelegt, wo er sie jeden Abend vor dem Einschlafen sehen konnte. Es war die Hand von Lu Feng.
Diese Hand nahm das eine Ende des Verbandes auf, während die andere Hand das andere Ende nahm und ihn ein paar Mal um seinen Arm wickelte, bevor er ihn leicht festzog.
Dann beobachtete An Zhe, wie diese zehn Finger flink ineinander griffen, um einen sauberen Knoten in den Verband zu machen.
Lu Feng hatte ihm beim Wickeln des Verbandes geholfen, obwohl der Mann ihn vor einer Sekunde noch ausgelacht hatte.
Er zupfte an seiner Hemdmanschette und murmelte: „Vielen Dank.“
Lu Feng entgegnete nichts. Das Geräusch einer lauten Explosion kam plötzlich von unten, aber es klang sehr gedämpft, als käme es wirklich von ganz tief unten aus der Erde. An Zhe blickte nach unten. Die Anlage der Städtischen Verteidigungsbehörde bestand aus vier hohen Gebäuden, die zusammengenommen einen großen Innenhof umschlossen, und das Gebäude, in dem er heute Abend eingesperrt worden war, war das kleinste von ihnen gewesen. In diesem Moment herrschte im Innenhof des Gebäudekomplexes ein völliges Chaos - die Menschen waren ins Innere evakuiert worden, und schwer bewaffnete Soldaten betraten eine Einheit nach der anderen die Gebäude. Das Geräusch von Explosionen ertönte und das gesamte Gebäude knarrte. Die Erschütterungen ließen das Glas zersplittern, und einige Räume waren bereits eingestürzt. Das Gebäude, das noch vor einer halben Stunde solide und prächtig gewesen war, verwandelte sich allmählich in eine zerbombte Ruine. Wie ein weißer Nebel hüllten der Staub und der Rauch der Uranexplosionen das gesamte Gebiet ein. Die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten der Städtischen Verteidigungsbehörde hatten einen Kordon um das Gebiet errichtet und stellten Strahlenschilder auf.
Die vom Militär verwendete Uranmunition waren abgeschwächte Uran-Granaten. Sie hatten eine hohe Durchschlagskraft und relativ schwache Strahlung, obwohl ein längerfristiger Kontakt mit ihnen dennoch schädlich war und es deshalb eine besondere Handhabung mit ihnen erforderte.
Die meisten der aus dem Gebäude evakuierten Personen waren außerhalb der Behörde verstreut, aber Herr Shaw, Poet und die anderen Gefangenen wurden in einem behelfsmäßigen Zelt im Atrium untergebracht, wo fünf bewaffnete Soldaten sie bewachten.
An Zhe konnte sie sehen. Er sah, wie Lu Feng aufstand und zum Fenster ging. Große Bänder dunkelgrüner Aurora breiteten sich vor dem Fenster über den Himmel aus und sie sahen sehr schillernd aus. Die Gestalt von Lu Feng, als er an dem Fenster stand, verwandelte sich in eine schwarze Silhouette, und er drehte seinen Kopf, um auf die andere Seite des Atriums blicken zu können.
An Zhe folgte seinem Blick und sah, dass auf der anderen Seite des Atriums ein massives schwarzes Gerät stand, das einer schwarzen runden Scheibe ähnelte und dieses Gerät war von mehreren Schichten massiver achteckiger Spulen umgeben. Die Scheibe wölbte sich von den Rändern ausgehend sanft nach innen, und ein stämmiges kegelförmiges Objekt stand aufrecht in der Mitte.
Sehr dünne Dinger - so etwas wie Drähte oder Versorgungs-leitungen - strahlten vom Zentrum aus nach außen, die wiederum den schwarzen Kegel und die Spulen miteinander verbanden. Das gesamte Gerät war sogar größer als zwei Gebäude zusammen. Wenn man unter dieser Scheibe stehen und nach oben schauen würde, dann wäre es unmöglich, den Himmel zu sehen, egal, in welche Richtung man blickte.
An Zhe betrachtete es während er sein Kinn in seiner Handfläche abstützte. Er hatte immer das Gefühl, dass menschliche Schöpfungen kolossal und seltsam waren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lu Feng seinen Kommunikator herausnahm und eine Nummer wählte. Seine kalte und ruhige Stimme klang wie Frost im tiefsten Winter: „Prozessgericht, Lu Feng. Bitte um Verbindung in das Zentrum des Leuchtturms.“
Die beiden befanden sich in unmittelbarer Nähe zueinander. Als der Ton aus dem Empfänger des Kommunikators drang, erreichte er auch An Zhes Ohren.
Die andere Seite antwortete: „Ich verbinde jetzt, bitte warten Sie.“
Nach etwa zwanzig Sekunden ertönte eine männliche Stimme von der anderen Seite: „Was ist da bei der Städtischen Verteidigungsbehörde los?“
Lu Feng antwortete: „Invasion aus dem Untergrund, große Wurmklasse. Es wird vermutet, dass sie in Gruppen leben. Die Behörde scheint jedoch vorerst sicher.“
„Verstanden“, sagte die andere Partei, „Die Wahrscheinlichkeit, dass Würmer in Gruppen leben, ist extrem hoch. Wir werden sofort das Forschungsteam zur Städtischen Verteidigungsbehörde schicken. Achten Sie darauf, dass das Ultraschalldispersionsgerät geschützt wird.“
„In Ordnung.“
Gerade als er auflegte, klingelte sein Kommunikator wieder von selbst. Diesmal hatte ihn jemand angewählt.
„Howard?“, fragte Lu Feng.
„Der Boden unter Gebäude 3 kann
nicht mehr beschossen werden.
Unsere Männer haben Kriechspuren
gefunden und kämpfen
mit den Monstern unter der Erde“, sagte
Howard,
„Einige Männer wurden verwundet. Diejenigen mit
schweren Wunden wurden bereits erschossen, und die mit leichten
Wunden werden gerade rausgeschickt. Behaltet sie im Auge.“
Lu Feng schaute zur Treppe hinunter: „Ich kann sie sehen.“
Nachdem er das gesagt hatte, fügte er hinzu: „Würmer sind sehr gefährlich. Schick sie sofort weg, sobald sie auch nur mit dem Schleim in Berührung kommen.“
Howard stieß einen Fluch aus, aber Lu Fengs Gesichtsausdruck blieb unverändert. Er redete unbeirrt weiter: „Achten Sie auf das Ultraschalldispersionsgerät.“
„Zur Zeit sind keine Spuren in Richtung des Ultraschall-dispersionsgerätes entdeckt worden“, Howards Tonfall war ein wenig eindringlich, „Das Fundament unter dem Ultraschall-dispersionsgerät ist stärker als das der Gebäude. Konzentrieren Sie sich auf Ihre eigenen Aufgaben, Oberst Lu.“
Lu Feng erwiderte knapp: „Danke für Ihre Mitarbeit.“
Das Gespräch wurde beendet. Dem Ton nach zu urteilen, schien es vielleicht kein angenehmes gewesen sein, aber Lu Feng schien das nicht zu kümmern. Er lehnte sich an das Fenster, seine Haltung war etwas träge, aber er beobachtete ständig die Soldaten, die im Atrium ein- und ausgingen. An Zhe wusste, dass er die Soldaten beobachtete, um zu sehen, ob sie infiziert waren oder nicht.
Da es nichts zu tun gab, untersuchte An Zhe weiter diesen massiven Apparat am Rande des Atriums. Aus den Gesprächen zwischen Lu Feng und den anderen vermutete er, dass es sich dabei um das erwähnte 'Ultraschalldispersionsgerät' handelte.
Er war mit diesem Begriff vertraut, denn er hatte auch im Handbuch der Basis gestanden. Die Äußere Stadt der Basis verfügte über insgesamt zehn Ultraschalldispersionsgeräte, die alle von deren Zentrale in Distrikt 1 verwaltet wurden. Zuvor hatte er in Herrn Shaws Laden auch gehört, dass derzeit die Brutzeit für Monster der Arthropodenklasse und der parasitären Monster sei. Um eine Invasion aus der Luft zu verhindern, hatte die Basis die Betriebsstärke der Ultraschalldispersionsgeräte auf Stufe III hochgesetzt.
Das heißt, die Funktion des Gerätes bestand darin, den gesamten Stützpunkt vor einer Invasion von Monstern aus der Luft wie Arthropoden und Vögeln zu schützen. An Zhe wusste nicht, wie es genau funktionierte.
Er fand nur, dass es sehr magisch wirkte.
Nachdem er jedes einzelne Detail des Gerätes untersucht hatte, wandte er seinen Blick wieder auf das Innere des Raums. Dieses Büro war keineswegs groß und verfügte über nichts außer zwei Schreibtischen und Stühlen, einem Gewehrständer und ein paar Aktenschränke. In den Schränken waren viele Dinge fein säuberlich gestapelt worden.
Es gab Papiere, deren Inhalt er nicht sehen konnte und Aktenordner, ein paar Exemplare des Handbuchs der Basis, einige Bedienungsanleitungen für Geräte und eine 'Verfassung der Basis', die vier Fingerbreit dick war - es stellte sich heraus, dass der Gesetzesteil im Handbuch der Basis eine gekürzte Version war.
An Zhe sah sich weiter um. In den Fächern mit den Dokumenten im Aktenschrank standen auch einige Glasgefäße. Die meisten von ihnen waren leer, aber eines stand an der Seite und schien ein Dutzend Pflanzensamen zu enthalten. Daneben befand sich auch ein Beutel mit Erdproben mit einem weißen Etikett mit der Aufschrift 'sicher'.
An Zhe dachte noch einmal an seine Spore.
Samen und Sporen waren sich in etwa ähnlich. Würde seine Spore, die das Militär ausgegraben hatte, auch in einem Glasgefäß oder einem anderen Behältnis befinden? Sobald er sich das vorstellte, stieg das instinktive Unbehagen wieder auf, als wäre er auch in ein luftdichtes Gefäß gelegt worden. Seine Spore war der wichtigste Teil von ihm, aber er wusste immer noch nicht, wo sie war. Außerdem wurden alle Spuren von diesem Schiedsrichter neben ihm abgeschnitten und verwischt.
Wenn er seine Spore finden wollte, musste er Lu Feng um Informationen bitten. Aber er war nur ein Pilz. Er wusste, er war nicht wie die Menschen. Er wusste auch, dass die Beobachtungs-gabe von Lu Feng sehr furchterregend war. Es bestand eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass, sobald er etwas sagte, er verdächtigt werden würde.
Er konnte aber auch sein Bestes tun, um Lu Feng eine Zeit lang zu beobachten. Bei diesem Gedanken zuckte er plötzlich zusammen, drehte den Kopf und sah Lu Feng in die Augen. Im Lampenlicht wusste er nicht, wie lange ihn diese langen und schmalen tiefgrünen Augen schon beobachtet hatten, sein Blick war gleichgültig.
An Zhe ahnte, dass er wieder verdächtigt wurde, aber er musste sich weiter durchmogeln. Er begegnete dem Blick des Oberst und blinzelte. Der Ausdruck des Oberst änderte sich nicht, als er mit ruhiger Stimme sagte: „Du kannst jetzt gehen.“
Die Pufferzeit war vorbei.
„Wieder nach unten?“, fragte An Zhe.
Die Gefangenen lebten alle in den behelfsmäßigen Zelten im Atrium.
„Mm.“
An Zhe biss sich auf die Unterlippe. Nach einer Weile überwand die Sehnsucht nach seiner Spore seine Angst vor dem Oberst. Er sagte: „Es ist kalt dort.“
Lu Feng beäugte ihn und sagte: „Du bist ein Gefangener.“
„Aber ich habe keine unanständigen Verbrechen begangen.“
Lu Feng sah ihn an. Zwei Sekunden
später lächelte er.
„In Ordnung“, sagte Lu Feng, „Für das
Verbrechen des illegalen Sammelns und des Diebstahls an
Informationen über den Schiedsrichter wird die Strafe verdoppelt.“
„Ich habe sie nicht gestohlen“, An Zhe bemühte sich, sich zu erklären, „Ich habe nur etwas nach diesen Informationen hergestellt.“
„Oh“, sagte Lu Feng ruhig, „Für das Verbrechen, die Informationen des Schiedsrichters zu benutzen, um illegalen Profit zu machen, wird die Strafe noch einmal verdoppelt.“
An Zhe senkte seine Stimme: „Ich habe auch keinen Gewinn gemacht.“
Lu Feng sah ihn mit verschränkten Armen an: „Du hast keinen Gewinn gemacht? Hast du es dann für deinen persönlichen Gebrauch hergestellt?“
An Zhe war ratlos. Er hatte keine Chance zu Wort zu kommen. Lu Feng sah ihn an und runzelte leicht die Stirn: „Wie viel Gewinn?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete An Zhe.
„Wie hoch ist dein Lohn?“
„60R.“
Lu Feng lachte wieder: „Wie erbärmlich“, sagte er, „Dein Chef hat dich über den Tisch gezogen. Wenn du aus dem Gefängnis kommst, denk daran, ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten.“
An Zhe fühlte, dass er wieder verspottet wurde. Dies war das dritte Mal an einem Abend, dass diese Person ihn verärgerte. Er war fest davon überzeugt, dass Lu Feng der Mensch war, der andere in diesem Stützpunkt am besten schikanieren konnte.
Bevor ihm einfiel, was er sagen sollte, sah er, wie Lu Feng einen Blick auf seine Uhr warf: „Es ist jetzt früher Morgen.“
Seine Stimme nahm wieder den befehlenden Tonfall an, den An Zhe kannte: „Geh hinunter und schlafe.“
In diesem Moment wehte der kalte Nachtwind vom Fenster hinein direkt auf An Zhes Gesicht. Der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht in der Basis war sehr groß. Er nieste leise, dann sah er, wie Lu Feng, der ihm gegenüber stand, scheinbar angewidert die Stirn runzelte, und kalt sagte: „So empfindlich.“
An Zhe bestätigte für sich, dass er mit Abscheu betrachtet wurde. Aber der Wind war wirklich zu kalt. Unfähig zu widerstehen, nieste er erneut.
Er hatte wirklich Angst vor der Kälte,
und er wollte auch wirklich nach Hinweisen an Lu Fengs Seite suchen.
Aber als er den Gesichtsausdruck des Obersts sah, wurde ihm klar,
dass er, wenn er noch länger bliebe, er aus dem Fenster geworfen
werden würde.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu
senken, schweigend seinen Hemdkragen hochzuziehen, aufzustehen und
sich zum Gehen zu wenden.
Gerade als er die Tür erreichte, hörte er Lu Fengs Stimme hinter sich sagen: „Halt.“
An Zhe blieb stehen und drehte sich um.
Lu Feng lehnte immer noch mit verschränkten Armen am Fenster. Sein Blick wanderte auf die rechte Seite des Raumes und er sagte: „Du kannst dort hinübergehen.“
An Zhe folgte seinem Blick und sah eine weitere Tür an der rechten Wand. Er ging hinüber und öffnete sie.
Es war ein Schlafraum mit einem einfachen Bett und einem Schreibtisch. Neben der Tür stand ein Kleiderständer, an dem ein schwarzer Uniformmantel hing.
An Zhe erkannte nun, wem dieses Zimmer gehörte.
Er sagte: „Ihr...“
„Ich kann heute Nacht eh nicht schlafen“, sagte Lu Feng, „Du kannst wählen, ob du hier oder da draußen schlafen willst.“
Nachdem er die beiden Möglichkeiten miteinander abgewogen hatte, entgegnete An Zhe entschlossen: „Ich danke Ihnen.“
Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Lu Feng zum Fenster und beobachtete weiter die Gegend unter ihm. Die Geräusche draußen hatten nicht aufgehört; es herrschte immer noch völliges Chaos.
An Zhe betrat den Raum, und nachdem er die Tür geschlossen hatte, untersuchte er diesen. Der Raum war erfüllt von einer freudlosen Atmosphäre. Es gab nicht viele Spuren menschlicher Behausung außer ein paar Falten in der gefalteten Bettdecke am Fußende des Bettes. Auf dem Holztisch lagen einige herausnehmbare Waffenmagazine und daneben ein stumpfes silbernes Militärmesser, aber das war nicht das, was An Zhes Blicke auf sich zog. In der Mitte des Tisches lag ein aufgeschlagenes Buch. Auf den Seiten stand in schwarzer Handschrift geschrieben:
14.6., normal.
15.6., normal.
16.6.,
normal.
An Zhe erkannte, worum es sich
handelte. Das waren die Arbeitsnotizen des Schiedsrichters - während
der Demonstration gegen das Gericht gab es ein Plakat mit der
Aufschrift 'Veröffentlichung der Arbeitsnotizen des
Schiedsrichters'.
Aber so wie es aussah, war das Notizbuch von Lu
Feng so oberflächlich, dass selbst wenn es veröffentlicht werden
würde, es keine sehenswerten Informationen preis gab. Er blätterte
zurück zum Mai. Inmitten einer Reihe von 'normal' gab es eine
zusätzliche Zeile:
17.5., Parasiteninvasion, geklärt,
Bericht wird
eingereicht.
18.5., normal, Bericht vom 17.05.
eingereicht.
Er ging weiter nach oben.
11.5., normal, Verdächtiger
ID3261170514 (extrem niedriges
Risiko), genetische Untersuchung
bestanden, darf in die Stadt.
Es schien, als hätte Lu Feng an jenem Tag vor den Toren der Stadt nicht nur seine Anomalie entdeckt, sondern auch, wie schwach er war. Aber er blieb nicht dabei stehen, denn eine Art Intuition trieb ihn dazu, weiter in den Seiten zurückzublättern.
Herr Shaw sagte, dass alle Mitglieder des Militärs, auch wenn sie dem Gerichtshof angehörten, auf Missionen in der Wildnis gehen. Und an der Stelle, an der er seine Spore verloren hatte, hatte sich eine Patronenhülse des Prozessgerichts befunden.
An Zhes Herz klopfte, während er hastig ein Dutzend Seiten durchblätterte, als ihm plötzlich ein Eintrag ins Auge fiel, der sich von den anderen unterschied:
20.2., zurück in der Basis, Übergabe der Proben an den Leuchtturm.
An Zhes Blick verharrte auf dieser Zeile, bevor er weiterblätterte. Die Aufzeichnungen auf dieser Seite wurden plötzlich viel ausführlicher.
12.2., Wildnis / Abgrund, 4
Karteneinträge ergänzt,
Gesammelt: 7 Pflanzenproben, 4
Tierproben,
7 Sekretproben, 3 gemischte polymorphe
Monster,
Informationsmaterial zu deren Verhalten.
13.2., Wildnis / Abgrund, Gesammelt: 13
Pflanzenproben,
3 Tierproben, 3 Sekretproben, 6
gemischte
polymorphe Monster, Informationsmaterial zu deren
Verhalten.
Er war wirklich im Abgrund gewesen. An Zhes Augen weiteten sich, und sein Blick blieb auf dem letzten Eintrag der Seite haften:
14.2., Wildnis, Rückkehr nach Hause, 1 abnormale Pilzprobe (Spore).
An Zhes Kopf war für einen Moment leer und seine Hand, die das Blatt hielt, zitterte.
Als er noch ein Pilz war, waren ihm Begrifflichkeiten wie Tage und Zeit an sich fremd. Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge waren nur eine Art von Veränderung im Lauf der Natur. Er wusste nicht, wann genau er seine Spore verloren hatte.
Der 14. Februar.
Nach den menschlichen Jahreszeiten war da der Winter noch nicht zu Ende gewesen. Es war tatsächlich so, denn die heulenden kalten Winde der Nacht, in der er seine Spore verloren hatte, hallten in seinen Erinnerungen und Träumen wider.
Es würde keinen anderen Pilz auf der Welt geben, der im selben Winter ebenfalls seine Spore auf diese Art verloren hatte. Seine erste Begegnung mit Lu Feng hatte viel früher stattgefunden als damals vor den Toren der Stadt.
Und vielleicht war es der Schiedsrichter selbst, in diesem Augenblick nur durch eine Mauer von ihm getrennt, der seine Spore persönlich an sich genommen hatte.
Er hielt inne, dann blätterte er weiter in diesen Arbeitsnotizen. Auf der nächsten Seite, dem 20. Februar, war Lu Feng zum Stützpunkt zurückgekehrt und hatte 'Proben an den Leuchtturm übergeben'.
Nachdem sein Blick drei Sekunden lang auf dieser Zeile verweilt war, blätterte er das Notizbuch bis zum 17. Juni zurück und legte den schwarzen Kugelschreiber wieder auf die Seite, als wäre es nie durchgeblättert worden.
An Zhe blickte von dem Buch weg und auf die Wand hinter dem Schreibtisch. Der Schiedsrichter hatte die höchste Autorität in der Basis.
Er konnte das Feuer auf jede Person eröffnen und auch die Zusammenarbeit aller Organisationen in der Stadt anordnen.
In Notsituationen konnte er die Soldaten der Städtischen Verteidigungsbehörde mobilisieren, so wie an jenem Tag auf dem Platz des Versorgungsdepots. Aber trotz seiner hohen Position und Autorität war sein Quartier in der Städtischen Verteidigungs-behörde noch trostloser und einfacher als An Zhes eigenes Zimmer. Selbst die Wände hatten nur eine dünne Schicht Farbe erhalten und die Struktur des grauen Zements war deutlich zu erkennen.
Und auf dieser hellgrauen Wand, an einer Stelle, die etwas über Kopfhöhe einer durchschnittlichen Person war, standen neun Wörter und ein Punkt mit roter Farbe geschrieben:
'Die Interessen der Menschheit haben Vorrang vor allem anderen.'
An Zhe schauderte leicht. Das unterirdische Gefängnis war zu kalt gewesen, und er hatte sich davon noch immer nicht erholt. Er wandte seinen Blick auf das nahegelegene Bett. Nachdem er ein paar Sekunden gezögert hatte, legte er sich hinein.
Sein Kopf sank in das Kissen, aber er wagte es nicht, die Bettdecke wie üblich um sich zu wickeln. Er zog sie nur locker über sich und rollte sich zusammen. Die Bettdecke, das Kopf-kissen und das Bettlaken waren die Standardausrüstung des Stützpunkts, ohne nennenswerte Unterschiede zum Bettzeug der Gefangenen des Untergrundgefängnisses. Selbst der Geruch des synthetischen Materials war identisch. Aber An Zhe spürte, dass dieses Bettzeug ganz anders war.
Auf dem Bett des Schiedsrichters zu schlafen, zusammen mit dem Geräusch einer kurzen Unterhaltung zwischen Lu Feng und einer anderen Person aus dem Büro auf der anderen Seite der Wand, war als Gefühl schwer zu beschreiben. Sehr gefährlich, aber auch sehr sicher.
Jeder würde in dieser Situation Schwierigkeiten haben zu schlafen, ganz zu Schweigen er selbst, ein Pilz.
Aber eigentlich hatte er keine Probleme
mit dem einschlafen.
In phantasievolle Gedanken versunken,
erwärmte sich sein Körper langsam durch die Bettdecke, die Welt vor
seinen Augen verschwamm allmählich und auf diese Weise fiel er in
einen Traum.
Jemand weckte An Zhe auf, und er war überzeugt, dass nur kurze Zeit vergangen war, seit er eingeschlafen war. Gerade eben noch hatte er das Gefühl, dass seine Spore zum x-ten Mal in der Wildnis ausgegraben worden war, und plötzlich spürte er eine Hand, die auf das Kissen neben ihm klopfte.
An Zhe schreckte auf, öffnete die Augen und sah in ein Paar kalte grüne Augen. Es war der Mörder, der seine Spore aus-gegraben hatte.
Lu Feng zog die Bettdecke von ihm herunter und sagte schnell: „Evakuierung!“
Es war nicht nötig, dass er etwas erklärte. In dem Moment, als An Zhe aufwachte, bemerkte er auch, dass das Gebäude unter ihm leicht zitterte, genau wie das unterirdische Gefängnis - waren etwa auch unter diesem Gebäude Würmer erschienen?
Nachdem er kurz nachgedacht hatte, schrillte erneut der wellenförmige Alarm. Es war ein weiteres Evakuierungssignal. Bevor er viel Zeit zum Nachdenken nehmen konnte, sprang er aus dem Bett und zog seine Schuhe an. Lu Feng ergriff An Zhes Schulter mit seiner rechten Hand und führte ihn aus dem Zimmer.
Ein kalter Wind wehte durch die offene Tür und An Zhe fröstelte instinktiv, da er plötzlich aus seinem warmen Bett in diese Situation geworfen worden war.
Sofort spürte er die Hand, mit der Lu Feng ihn festhielt, innehalten. Ein schwarzer Schatten fiel auf ihn und er spürte das fremde Gewicht auf seinem Körper. Lu Feng hatte sich seinen Mantel vom nahen Kleiderständer gegriffen und ihn auf An Zhe geworfen. An Zhe hatte keine Zeit, sich zu bedanken, sondern raffte nur den Mantel hastig um sich zusammen.
Lu Fengs Bewegungen hörten nicht auf. Er hob schnell das Arbeitsheft und den Kugelschreiber vom Tisch und steckte sie in die Tasche des Mantels, der An Zhe bedeckte, dann ergriff er sein Handgelenk und ging schnell zum Ausgang. Zwei Richter warteten bereits an der Tür. Als sie Lu Feng sahen, riefen sie sofort: „Herr Oberst!“
Dann warfen die beiden gleichzeitig einen Blick auf An Zhe. Lu Feng sagte nichts und die Gruppe ging durch den nächst-gelegenen Notausgang die Treppe hinunter. Das Innere des Ganges war stockdunkel, denn der Angriff der Monster hatte die Energiesysteme beeinträchtigt. Nur die grünen fluoreszierenden Leitlichter leuchteten noch. Die Treppe war eng und steil, so dass sie gerade noch mit zwei Personen nebeneinander Platz finden konnten. Aber die anderen drei bewegten sich viel zu schnell. Nachdem Lu Feng An Zhe eine Etage hinuntergezerrt hatte, war dieser bereits einige Male ins Stolpern gekommen und er erkannte, dass er, wenn er sich nicht in Hyphen verwandelte, er nicht nur nicht in der Lage wäre, mit diesen Leuten Schritt zu halten, sondern er auch Lu Feng verlangsamen würde.
Gerade als er sagen wollte, dass es nicht nötig sei, dass Lu Feng ihn weiter zog, und dass er selbst würde laufen können, wurde plötzlich eine Kraft auf seine Schulter ausgeübt, als Lu Feng sie packte und ihn nach hinten drehte - der Schwung vom der Treppe war immer noch da, und so rannte An Zhe praktisch sofort in Lu Fengs Rücken. Er war mit dem Kopf gegen das Abzeichen auf Lu Fengs Brust gestoßen, und nun stieß er mit dem Kopf gegen die Schulterklappe. Die Treppe verlief schräg nach unten, und er befand sich in einer höheren Position als Lu Feng, so dass er sich bei diesem Zusammenstoß instinktiv an Lu Feng klammerte. Dann hob ihn der Mann im Huckepack auf.
Die Arme um den Hals des Schiedsrichters geschlungen, erinnerte sich An Zhe an die chaotische, aber auch scheinbar logische Abfolge der Bewegungen und fühlte sich sehr verwirrt.
Der springende Punkt war, dass es diesem Mann keine Mühe zu machen schien ihn zu tragen, während er problemlos die Treppe hinuntersprang und sicher auf dem Boden landete. Dann legte er plötzlich einen Sprint zum Fenster im zweiten Stock hin, sprang hinaus, landete im Flug auf einem Fenstersims im ersten Stock und stieß sich dort wieder ab. Der Wind heulte in An Zhes Ohren, und irgendwie landete Lu Feng schließlich auf dem Rasen vor dem Gebäude.
Lu Feng hatte eindeutig nicht die offensichtliche Muskelkraft von Vance oder Howard, aber durch die Schichten der Kleidung hindurch spürte An Zhe seine furchterregende explosive Kraft, sobald dieser sich anspannte. Menschliche Körper waren keineswegs das Gleiche wie weiche Hyphen.
Nachdem Lu Feng gelandet war, ertönten hinter ihnen zwei weitere Landungen in schneller Folge. Es waren die beiden anderen Richter.
An Zhe spürte, dass das Festhalten an Lu Feng viel Energie verbrauchte, aber auch sein Körper war eindeutig ein menschlicher Körper. Er erkannte, dass die Unterschiede unter den Menschen noch größer waren als die Unterschiede zwischen Menschen und Pilzen.
Aber drei Sekunden später bemerkte er, dass alle Menschen im Atrium ihn ansahen. Der Himmel hatte sich aufgehellt und der leichte Nebel konnte die Blicke der anderen überhaupt nicht abhalten. Herr Shaw steckte seinen Kopf aus dem nächstgelegenen Zelt, blickte erst zu Lu Feng, dann zu ihm und begann dann prompt, ihm anzügliche Grimassen zu schneiden.
Lu Feng setzte ihn ab und auch An Zhe lockerte seinen Griff um Lu Fengs Hals, während seine Füße wieder sicheren Boden berührten.
„Danke“, sagte er.
„Gern geschehen“, sagte Lu Feng, „Geh zu den Zelten.“
Die Zelte waren nur ein paar Schritte
entfernt. An Zhe bejahte diese Aufforderung und drehte sich um, nur
um direkt in den
nahenden Howard zu laufen.
„Was ist denn los?“, fragte Lu Feng.
„Die Situation hat sich geändert. Plötzlich sind es viel mehr geworden. Als die Leute vom Leuchtturm kamen und das Radar einschalteten, zeigte es, dass unter allen vier Gebäuden Würmer sind“, antwortete Howard, „Es sind nicht nur ein oder zwei, sondern eine ganze Gruppe. Es gibt ein Wurmnest unter der Städtischen Verteidigungsbehörde. Sie sind durch die Erde gebrochen, um die Menschen in den Gebäuden anzugreifen.“
„Vollständige Evakuierung?“, fragte Lu Feng.
„Vollständige Evakuierung. Das gilt auch für Ihre Leute!“, sagte Howard mit aller Bestimmtheit.
Lu Feng reagierte sofort: „Zeigen Sie mir das Radarbild.“
„Nicht nötig, der Standort ist nicht mehr zu retten.“
„Das Ultraschalldispersionsgerät ist hier.“
Howards Stimme wurde kalt, während er seine Fersen zusammenstieß und damit einen klopfenden Knall erzeugte: „Das Ultraschalldispersionsgerät kann nicht mehr beschützt werden. Wie oft soll ich es noch sagen? Nach der Evakuierung werde ich sofort das Zentrum kontaktieren, um die Betriebsstärke der anderen neun Ultraschalldispersionsgeräte erhöhen zu lassen.“
An Zhe blickte zurück und sah, dass Lu Fengs Gesichtsausdruck eisig war und seine rechte Hand auf der Waffe an seiner Hüfte ruhte, während er jedes nachfolgende Wort sehr deutlich aussprach: „Zeigen Sie mir das Radarbild.“
„Sie...!“, Howard, der wütend zu sein schien und doch Angst vor dem Privileg des Schiedsrichters hatte, das dieser jederzeit und überall töten dürfte, winkte mit der Hand in eine bestimmte Richtung.
Ein Mann in einem einfachen Hemd kam von der anderen Seite herüber und hielt ein schwarzes Instrument in einer Hand. Lu Feng nahm das Instrument von ihm entgegen und betrachtete den Bildschirm.
An Zhe sah hilflos zu, wie die Temperatur in seinem Gesicht von null Grad Celsius auf mindestens achtzehn Grad unter Null sank und seine Stimme war so kalt, dass sie Eissplitter bilden: „Das Ziel der Monster sind nicht die Menschen in den Gebäuden, sondern das Ultraschalldispersionsgerät.“
Er hob den Blick und sah Howard an, seine nachfolgenden Worte sprach er sehr schnell: „Das Ultraschalldispersionsgerät im Atrium und sein Fundament sind verstärkt und kann nicht gebrochen werden, also konnten sie nur unter den vier Gebäuden hervor-kommen.“
„Der Bericht des Leuchtturms stützt nicht Ihre Schlussfolgerung, Oberst Lu“, entgegnete Howard kühl.
„Ich verbringe die Hälfte eines jeden Jahres im Abgrund“, mit den Fingern auf den Schaft der Pistole gedrückt, verengte Lu Feng leicht seine Augen und seine eisige Einschüchterung ließ alle erstarren, „Howard, ich habe mehr Monster gesehen als Sie Menschen.“
Howard schwieg drei Sekunden lang, ohne etwas zu sagen.
Dann, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre, weiteten sich seine Pupillen und sein Gesichtsausdruck änderte sich drastisch: „Dann sind die anderen Ultraschall-“
„Kontaktieren Sie sofort das Zentrum!“, sagte Lu Feng, „Unverzüglich.“
Der Richter hinter ihm zückte einen Kommunikator, wählte eine Reihe von Nummern und drückte die Lautsprechertaste.
„Piep-“
Der monotone Halteton ertönte.
„Piep-“
„Piep-“
Im ganzen Atrium war es totenstill.
Nach neun Haltetönen kam ein eiliger Besetztton aus dem Kommunikator und drei Sekunden später hörte der Besetztton auf und der Kommunikator legte automatisch auf.
Howard holte schnell seinen Kommunikator heraus und nachdem er ein paar Tasten gedrückt hatte, sagte er zur anderen Seite: „Städtische Verteidigungsbehörde, Oberst Howard, verbinden Sie mich mit dem Zentrum. Jede Leitung ist gut, sofort.“
„Bitte warten Sie.“, meldete sich die Stimme der Telefonistin.
Nach diesem Satz herrschte eine lange Stille. Ganze drei Minuten später meldete sich die Stimme der Vermittlung wieder, mit einem leichten Zittern am Ende ihrer Worte: „Das Zentrum ist nicht erreichbar.“
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