7.
"AD4117. MEINE KOMMUNIKATOR-NUMMER."
„WIE kommt es, dass du den Oberst
wieder zur Seite geschoben hast?“, fragte Herr Shaw laut, als er
den Laden betrat.
An Zhe hatte sich gerade auf dem Bett aufgesetzt. Er rieb sich die Augen und sagte mit leiser Stimme: „Ich kann nicht gut schlafen, wenn er neben mir liegt.“
„Du bist so empfindlich“, Herr Shaw ging hinüber und gab ihm einen harten Schlag auf seinen Kopf, „Vor ein paar Tagen wärst du nicht einmal in der Lage gewesen zu schlafen, während du einen menschlichen Kopf umarmst, richtig?“
An Zhe vergrub seinen Kopf wortlos wieder unter der Bettdecke.
Ein Menschenkopf war ein Menschenkopf und Lu Feng war Lu Feng. Als Xenogenic, den der Schiedsrichter immer wieder gestichelt hatte, brauchte er keinen Grund, um sich vor dieser Person zu fürchten.
„Ich ziehe dir Arbeitsverweigerung vom Lohn ab.“
Da ihm keine andere Wahl blieb, konnte An Zhe nur wieder unter der Steppdecke hervorkriechen und langsam seinen Mantel anziehen. Der Tonfall von Herrn Shaws Stimme wurde wieder scherzhaft: „Ich denke, du solltest besser doch keine Söldner verführen. Arbeite stattdessen hart mit mir.“
„Warum das?“, fragte An Zhe.
Herr Shaw hatte gestern noch eine andere Meinung vertreten.
„Mit deiner kleinen Erscheinung,... tsk, … wäre das nicht gut“, sagte Herr Shaw, „Diese rüpelhaften Söldner würden dich nur schikanieren.“
„Warum sollten sie mich schikanieren?“
„Wahrscheinlich aus Spaß.“
Als er fertig gesprochen hatte, schlug er An Zhe noch einmal auf den Kopf.
An Zhe runzelte die Stirn. Er hatte das Gefühl, dass Herr Shaw ihn bereits mit seinem Verhalten schikanierte.
Aber er hatte keine andere Wahl. Er war im Moment nur wie ein Parasit, der auf den Lohn von Herrn Shaw angewiesen war - er konnte also nur gehorsam aus dem Bett steigen, sich waschen und sich dann in die Arbeit des Tages stürzen.
Heute war der dreißigste Tag, seit er
mit der Herstellung von Schaufensterpuppen begonnen hatte. Mit
anderen Worten, sie mussten die Schaufensterpuppe heute komplett
fertigstellen und die Ware bis spätestens heute Abend beim Kunden
abliefern.
Herr Shaw hatte den Torso und die Gliedmaßen vor zehn
Tagen fertiggestellt, obwohl es hauptsächlich An Zhe gewesen war,
der sie unter seiner Anleitung modelliert hatte. Nachdem er diese
Dinge erledigt hatte, suchte er sich eine Requisitenpistole aus
dem Angebot des Ladens aus und befestigte sie an der
Schaufensterpuppe. Schließlich besorgten sie sich auf dem
Schwarzmarkt eine fast identische schwarze Uniform und kleideten die
Schaufensterpuppe an. Nun hatte die Schaufensterpuppe des
Schiedsrichters einen perfekten Körper und brauchte nur noch einen
Kopf.
Im Moment hielt An Zhe den Kopf der Schaufensterpuppe in der Hand und überprüfte, ob die Anordnung der Haare, die er persönlich eingepflanzt hatte, dem Auge gefiel. In der Zwischenzeit hatte Herr Shaw einen Schmelzofen in der Nähe angeheizt und rührte mit einer Hand transparenten Klebstoff in einem Keramikgefäß, während er mit der anderen Hand grünen Farbstoff Tropfen für Tropfen hinzugab. Der Farbstoff bildete zunächst einen dunkelgrünen Klecks im Topf, doch nach kurzer Zeit zogen unzählige winzige Ranken aus und verteilten sich nach außen. Durch das Umrühren verteilten sie sich gleichmäßig und der Kleber wurde hellgrün, der dann nach außen hin allmählich dunkler wurde. An Zhe hatte nichts mehr zu tun, nachdem er die Haare untersucht hatte, also starrte auf die Farbe und erinnerte sich dabei an Lu Fengs Augenfarbe.
Im Licht waren sie so grün wie mit Eis überzogene Blätter. Wenn dieses Augenpaar An Zhe anschaute, wurde ihm oft kalt, und er begann zu frieren.
Und in der schummrigen Beleuchtung der Nacht erschienen Lu Fengs Augen in einem tiefen, dunklen Grün wie ein unergründlicher See, der viele unbekannte Dinge verbarg.
Während er nachdachte, achtete er auf die Farbe der Substanz. Sobald sie mit den Augen in seiner Erinnerung übereinstimmte, sagte er, „Das ist gut.“
Mit einem Lächeln löschte Herr Shaw den Schmelzofen und sagte: „Du hast wirklich sehr gute Augen.“
An Zhe reichte Herrn Shaw die Form ohne ein Wort. Das durchscheinende Material wurde in die kugelförmige Form gegossen,um dann abzukühlen und auszuhärten. Dann, als sie das Grün in das Augenweiß eingebettet hatten, waren die Augen fertig.
Diese Augäpfel wurden sofort in die
Augenhöhlen der Schaufensterpuppe eingesetzt. Die Wimpern der
Schaufensterpuppe waren ebenfalls An Zhes Werk, die er eine nach der
anderen eingepflanzt hatte. Die schwarzen Wimpern umgaben sanft die
grünen Augen, und selbst die kleinsten Feinheiten des kalten
Ausdrucks waren sichtbar. Es war der echten Person wirklich zu
ähnlich. Beunruhigt hob An Zhe die schwarze Dienstmütze auf und
setzte sie auf die Schaufensterpuppe.
Die nächsten Aufgaben waren
die Abstimmung der Gelenke und das Polieren der Details im Gesicht.
Als sie vollständig fertig waren, war es sieben Uhr am Abend. An Zhe
sah die Puppe schweigend an, und die Schaufensterpuppe sah ihn
schweigend an.
Er hatte das Gefühl, dass sie der Oberst selbst
hier war. Sie klappten die Schaufensterpuppe, die dem Oberst sehr
ähnlich sah, an den Gelenken zusammen und legten sie in
einen Koffer. Herr Shaw klatschte in die Hände und sagte: „Sie
kann jetzt ausgeliefert werden. Ich werde Jensen beauftragen, das
zu erledigen. Er ist billig.“
Jensen war der schwarz gekleidete Junge, der Handys verkaufte und die Daten des Schiedsrichters an Herr Shaw weitergegeben hatte.
Aber obwohl Herr Shaw wiederholt mit seinem Kommunikator wählte, so antwortete niemand.
Herr Shaw runzelte die Stirn: „Was ist hier los? Ist er entdeckt worden?“
Er wählte stattdessen Hubbards
Kommunikator an, aber eine Stimme kam sofort aus dem Hörer: „Der
von Ihnen gewählte Teilnehmer hat die Basis verlassen. Bitte
hinterlassen Sie eine Nachricht.“
Herr Shaw wandte sich dem
Tablett-Computer auf der Werkbank zu, tippte ihn an und löschte alle
Fotos mit ein paar schnellen Bewegungen. Er sagte zu An Zhe: „Da
stimmt etwas nicht. Wir sollten uns beeilen und die Ware loswerden.
Es gibt heute Abend nichts mehr zu tun, also komm mit mir mit und
wir lieferen sie ab.“
So kam An Zhe wieder zurück in den Distrikt 6, den er seit einem Monat nicht mehr betreten hatte. Einheit 4, Raum 312 im Gebäude 13 von Distrikt 6 war der Standort des Käufers. Der Koffer war sehr schwer, so dass An Zhe und Herr Shaw ihn abwechselnd die Treppe hinauf in den dritten Stock trugen. Anders als in Gebäude 117, wo An Zhe zuvor gewohnt hatte, waren die Bewohner von Gebäude 13 allesamt Frauen, und auf dem Weg dorthin begegnete An Zhe einer ganzen Reihe von ihnen. Die meisten von ihnen hatten kurzes Haar, eine hohe Statur und markante, starke Gesichtszüge.
Als er sie ansah, musste An Zhe unweigerlich wieder an Doussay denken. Doussay war eine ganz besondere Frau gewesen. Sie war groß, aber schlanker als alle anderen Frauen, die An Zhe bislang gesehen hatte. Gleichzeitig war ihr Busen voller als bei anderen Frauen gewesen. Durch diese schlanke Fülle wirkte ihr Körper seltsam weich, und diese Weichheit war selbst in der dritten Etage des unterirdischen Stockwerks eine Seltenheit gewesen.
Gleichzeitig sah er, dass auch Herr Shaw hemmungslose Blicke auf die vorbeigehenden Frauen warf. Schließlich sagte Herr Shaw: „Es gibt keine zweite Doussay.“
Ohne etwas zu sagen, klopfte An Zhe vorsichtig an die Tür von Nr. 12: „Hallo, wir kommen wegen einer Lieferung.“
Niemand öffnete die Tür. An Zhes Klopfen wurde ein wenig lauter: „Hallo, wir sind wegen einer Lieferung hier.“
Immer noch öffnete niemand die Tür. Herr Shaw trat einen Schritt vor und schlug ein paar Mal mit der Faust dagegen: „Ist da jemand? Es ist eine Lieferung aus dem dritten Untergeschoss.“
Stille.
Mitten in der Stille hörte man Schritte hinter ihnen. An Zhe drehte seinen Kopf und sah eine grau gekleidete Frau mittleren Alters. Er fragte: „Hallo, sind Sie die Bewohnerin von Nr. 12?“
Die Frau schüttelte den Kopf und schaute zur Tür: „Sie beide suchen nach ihr?“
„Mm-hm“, erwiderte An Zhe, „Sie hat etwas bestellt und wir sind gekommen, um es zu liefern.“
Das Gesicht der Frau war ausdruckslos, als ihr Blick zu dem Koffer wanderte, den Herr Shaw gerade zog: „Was für Waren?“
„Hochwertige Waren. Alles andere können wir nicht sagen“, sagte Herr Shaw, „Ist sie nicht da? Wann wird sie wiederkommen?“
Die Frau sah ihn an, ihre Lippenwinkel waren angespannt. Eine kurze Zeit lang sagte sie nichts. Herr Shaw konnte es nicht länger ertragen und sagte: „Ist sie...“
Gerade als die Worte seinen Mund verließen, sagte die Frau: „Sie ist tot. Habt ihr das nicht gewusst?“
Es herrschte eine kurze Stille.
„Tot?“, unterbrach Herr Shaw das Schweigen und erhob seine Stimme:„Wer wird mir dann den Rest meiner Bezahlung geben?“
Die Mundwinkel der Frau zuckten. Mit
einem Ausdruck, der den Schatten eines Lächelns enthielt, antwortete
sie: „Der
Schiedsrichter hat sie getötet. Bitten Sie den doch
zur Kasse.“
Herr Shaw, der aussah wie eine Ente, der man den Hals zugedrückt hatte, sagte eine Zeit lang nichts. Doch An Zhe war plötzlich fassungslos. Als er die Frau ansah, fragte er: „Wie wurde sie genannt?“
Als ob die Frau seine Worte nicht gehört hätte, drehte sie sich um, hob ihre Hand, öffnete mit ihrem Ausweis die Zimmertür auf der gegenüberliegenden Seite und ging hinein. In dem Moment, in dem sich die Tür schloss, ertönte ein einfaches Wort von innen: „Doussay.“
An Zhe dachte noch einmal an den Ausdruck zurück, den Doussay Lu Feng vor ihrem Tod gezeigt hatte, und wusste einen Moment lang nicht, was er sagen sollte. Auch Herr Shaw schwieg.
Nach einer langen Zeit stieß er einen Seufzer aus und sagte lächelnd: „Weißt du, wie viel Geld diese Bestellung gekostet hat?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete An Zhe.
„Sogar mehr als Hubbards Bestellung.“
Herr Shaw sah auf den Rollkoffer am Boden, die Augen halb geschlossen und sagte langsam: „Sie hat mit so vielen Männern gespielt, ich hätte nicht gedacht, dass sie auch echte Gefühle haben könnte.“
An Zhe erklärte: „Doussay sagte, dass der Schiedsrichter sie gerettet hat.“
„Dieser Dummkopf“, Herr Shaw seufzte und schüttelte den Kopf, „Die Art von Mensch, die der Schiedsrichter ist ... selbst wenn er sie gerettet hat, war es, weil er Xenogenics töten wollte. Sie hat von Männern gelebt, seit sie jung war. Sie war kein kleines Mädchen mehr, also wie konnte sie das nicht verstehen? Das ist es nicht wert.“
An Zhe sagte nichts.
Er verstand auch nicht, warum Doussay Lu Feng mochte. Aber - im Vergleich zu anderen Menschen war Lu Feng tatsächlich anders. Worin diese Unterschiede bestanden, konnte er jedoch nicht sagen. Nach langer Zeit sagte Herr Shaw: „Sie ist weg. Was sollen wir mit der Ware machen? Man kann sie nicht wegwerfen. Wenn es entdeckt wird, wird das Gericht bestimmt nach mir suchen.“
An Zhe fragte: „Bringen wir es dann zurück in den Laden?“
„Auf gar keinen Fall“, Herr Shaw schüttelte den Kopf, „Ich kann Jensen nicht mehr erreichen, also fürchte ich, dass etwas passiert ist.“
Während er sprach, sah er An Zhe an
und schien plötzlich an etwas zu denken: „Ich erinnere mich, dass
dein Haus auch hier in
Distrikt 6 liegt, oder?“
Er rüttelte an dem Koffer: „Und du wohnst eigentlich ja auch nicht bei mir, also musst du dir keine Sorgen machen, dass man dich mit mir in Verbindung bringt. Machen wir es so. Für heute Abend nimmst du die Ware zu dir mit nach Hause. In ein paar Tagen, wenn sich alles geklärt hat, finden wir jemanden, der sie kauft.“
„Was ist mit dir?“, fragte An Zhe.
Herr Shaw sah auf seine Uhr und runzelte die Stirn: „Ich muss zurückfahren, denn jetzt gleich fährt der letzte Zug.“
An Zhe dachte eine Weile nach und fand, dass es machbar war. Er wohnte ansonsten nicht zu Hause, also war es in Ordnung, die Puppe vorübergehend für ein paar Tage dort zu verstecken.
Herr Shaw klopfte ihm auf die Schulter: „Du schaffst das schon.“
Dann ging er schnell weg, um den Zug zu
erwischen.
Aber es stellte sich heraus, dass An Zhe es nicht
schaffte.
Distrikt 6 war ein kreisförmiges Gebiet, so dass Gebäude 13 und Gebäude 117 nicht weit voneinander entfernt waren. Das war auch der Grund, warum Herr Shaw ihn die Ware zu sich nach Hause bringen ließ. Aber die Schaufensterpuppe war solide und konnte wirklich nicht als leicht bezeichnet werden.
Mit fast schildkrötenartiger
Geschwindigkeit schleppte er den massiven Koffer über die Straße.
Als er den Fuß von Gebäude 117 erreichte, hatte sich der Himmel
bereits vollständig verfinstert.
Überall waren undeutliche
schwarze Schatten zu sehen und die Umrisse des Gebäudes waren nur
noch durch das Leuchten des Lichtes der Aurora zu erkennen. Als An
Zhe vor der Anlage stand und darüber nachdachte, dass er mit dem
Koffer noch in den fünften Stock hinaufsteigen musste, war er
verzweifelt, denn der Koffer war wirklich sehr schwer.
Der verzweifelte An Zhe drehte sich auf
der Stelle um, so dass er nicht mehr auf den stockdunklen
Treppeneingang blickte. Er wollte erst einmal eine Pause einlegen
und sich ausruhen.
Plötzlich hörte er hinter sich das Geräusch
eines keuchenden Atems und er wurde abrupt umarmt.
„An Ze!“
Es war die Stimme von Josh: „Ich habe dich vom Fenster aus gesehen, also bin ich sofort runter.“
Josh drückte ihn fest an sich: „Wo bist du gewesen? Warum bist du erst jetzt zurückgekommen? Warum hast du es mir nicht gesagt? Ich habe die ganze Zeit nach dir gesucht.“
Er holte tief Luft und fuhr dann fort: „Du darfst nicht wieder gehen. Wo bist du nur gewesen?“
Herrn Shaws Worte waren richtig. Josh betrachtete An Ze als sein persönliches Eigentum. Deshalb sagte An Zhe ruhig: „Bitte lassen Sie los.“
Josh ließ nicht nur nicht los, sondern verstärkte stattdessen seinen Griff.
„Bist du böse auf mich?“, fragte er.
Bevor An Zhe etwas sagen konnte, meldete er sich erneut mit leiserer Stimme: „Ich habe mich geirrt, ich werde mich bei dir entschuldigen. Wie auch immer du willst, dass ich mich entschuldigen soll, ist in Ordnung. An Ze, ich liebe dich.“
An Zhe war sprachlos.
Herrn Shaws Worte schienen wieder einmal zu stimmen. Er wollte wirklich An Zhe ins Bett kriegen!
„Danke“, sagte An Zhe, „aber ich habe bereits jemanden.“
„Du bist wirklich wütend?“, Josh lächelte, „Du hast mich immer gerne absichtlich wütend gemacht, wenn du wütend warst.“
An Zhe war wirklich sehr verärgert über diesen Menschen. Er versuchte, sich zu befreien, aber Josh drehte ihn gewaltsam um: „Sieh mich an, An Zhe.“
PENG!
Ein Schuss ertönte.
Josh zuckte zusammen und ließ An Zhe reflexartig los, dann schaute er sich um. An Zhe blickte ebenfalls in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war und sah, dass im Schatten des schwarzen Gebäudes eine Person stand. Die Person hatte gerade in die Luft geschossen und steckte die Waffe weg, während sie zu ihnen hinüberging. Schlank und hochgewachsen, war es eine Gestalt, die ihm sehr vertraut war.
Nur Militärs durften in der Stadt legal Waffen tragen. Und innerhalb der verschiedenen Zweige des Militärs gab es nur eine Person, die nach Belieben schießen dürfte.
An Zhe dachte, dass er anscheinend wieder einmal der Patrouille des Schiedsrichters in die Quere gekommen war - was für ein Zufall.
Bevor er darüber nachdenken konnte, hörte er Lu Fengs vertraute kalte Stimme: „Was ist er für dich?“
„Ein Nachbar“, sagte An Zhe.
Lu Feng ging auf ihn zu. Aus einer so geringen Entfernung konnte jeder erkennen, dass dies der Schiedsrichter war. An Zhe spürte, wie sich Josh neben ihm abrupt versteifte.
„AD4117. Meine Kommunikator-Nummer“, die Stimme von Lu Feng klang nonchalant, „Wenn das nächste Mal so etwas passiert, dann kannst du mich kontaktieren und dann wird er wegen Unzucht und Unanständigkeit verhaftet.“
An Zhe hob den Kopf und sah Lu Feng an, seine Reaktion war vorübergehend etwas verzögert. Aber da dieser Mann der Oberst des Militärs war, schien er tatsächlich die Aufgabe zu haben, für Recht und Ordnung in dieser Stadt zu sorgen. Er sagte: „Okay.“
Er spürte, wie sich Josh, der hinter ihm stand, noch mehr versteifte. Aber An Zhe kümmerte sich überhaupt nicht um Josh. Denn Lu Fengs Hand ruhte sanft auf dem Griff des Rollkoffers. Er fragte: „Soll ich dir helfen, ihn hoch zu tragen?“
An Zhe und Lu Feng sahen sich an. Der Ausdruck in Lu Fengs Augen zeigte leichte Gleichgültigkeit, sein Blick war ruhig. Er meinte es ernst. An Zhe stotterte und war nicht einmal in der Lage, deutlich zu sprechen: „Das... das ist nicht nötig.“
Wenn etwas anderes im Koffer gewesen wäre und der Schiedsrichter aus irgendeinem seltsamen Grund plötzlich helfen wollte, - auch wenn er eigentlich nicht mehr mit dem Mann zu tun haben wollte als nötig – dann wäre er nicht so weit gegangen, abzulehnen.
Aber was diese Kiste jetzt enthielt, war nichts gutes. An Zhe legte seine Hand ebenfalls auf den Griff und versuchte ihn aus Lu Fengs Griff zu befreien: „Ich kann es selbst tragen.“
„Kannst du das?“, Als Lu Feng ihn ansah, zogen sich seine langen Brauen leicht gerunzelt zusammen, „Du wohnst im ersten Stock?“
„... Ich wohne im fünften Stock. Aber ich kann es trotzdem tun.“
„Oh.“
Seine Hand drückte auf die Finger von An Zhe, und dann wurde An Zhes Hand irgendwie augenblicklich von dem Griff gelöst.
Mit einem Klicken glitt der Griff zurück in den Koffer. Lu Feng ergriff den Griff an der Seite des Koffers und hob den Koffer mühelos an. An Zhe zuckte zusammen. Er sagte: „Das ist wirklich nicht nötig.“
„Der fünfte Stock?“
Nun gut.
An Zhe wurde klar, dass er selbst die Etage verraten hatte. Aber ohne auf eine Reaktion von An Zhe zu warten, ging Lu Feng bereits zum Eingang der Einheit, so dass er nur noch folgen konnte. Bevor er das Gebäude betrat, drehte An Zhe sogar seinen Kopf, um zu Josh zu sehen, und sah, dass dieser sie beunruhigt beobachtete und sich keinen einzigen Schritt bewegt hatte. Herr Shaw hatte gesagt, wenn An Zhe einen mächtigen Söldner verführen würde, würde Josh auf jeden Fall einen großen Bogen um sie machen, wenn er ihn zu sehen bekäme. So wie es jetzt aussah, könnte diese Aussage richtig gewesen sein, auch wenn es sich bei dem Mann an seiner Seite um den Schiedsrichter und nicht um irgendeinen Söldner handelte und er auch eigentlich in keinerlei Beziehung zu Lu Feng stand.
Doch in der kurzen Zeitspanne dieser Ablenkung war An Zhe bereits mehrere Schritte hinter Lu Feng zurückgefallen. Die Beine des Oberst waren länger als seine, also konnte er nur sein Tempo erhöhen, um aufzuholen, bevor er zusammen mit Lu Feng das Gebäude betrat.
Um Strom zu sparen, leuchteten nur die winzigen Notlichter des Korridors. Der Flur war sehr dunkel und sehr beengt. In der Stille war das Geräusch der Kampfstiefel des Obersts besonders deutlich zu hören, und jedes einzelne Auftreten schien auf An Zhes Herz zu drücken. Nach seinem Verständnis von Lu Feng wollte der Mann sicherlich gerade fragen: „Was ist in der Kiste?“, aber wie es der Zufall so wollte, hatte Lu Feng auf dem ganzen Weg in den fünften Stock kein einziges Wort gesagt.
An Zhe stand am Eingang zu Nr. 14, nahm seinen Ausweis heraus und öffnete mit einem Durchzug die Tür. Die Vorhänge des Zimmers waren nicht zugezogen worden, und sobald er die Tür geöffnet hatte, kam das Licht der Aurora durch das Fenster herein. Der helle Glanz des Polarlichts bedeckte den größten Teil des pechschwarzen Himmels.
Er war hauptsächlich grün, mit orangefarbenen und violetten Rändern. An Zhe trat ein und schaltete das kleine Licht im Raum an. Ausgehend von der Höflichkeit, die der menschlichen Gemeinschaft zu eigen sein sollte, sah er den Oberst an, der neben der Tür stand und sagte: „Bitte kommen Sie herein.“
Lu Feng ging bereitwillig hinein und stellte den Rollkoffer neben die Wand. Als An Zhe seinen Gesichtsausdruck beobachtete, spürte er, dass er tatsächlich gut gelaunt war und auch so aussah, als ob er nicht gleich vorhatte, gehen zu wollen. Er fragte zaghaft: „Werden Sie weiter patrouillieren?“
Lu Feng lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und sagte: „Nicht nötig.“
Angesichts dieser grünen Augen, die ihn beobachteten, spürte An Zhe, dass der Schiedsrichter selbst jetzt noch nicht ganz glaubte, dass er ein Mensch war und dass er immer noch akribisch nach jedem möglichen Fehltritt Ausschau hielt. An Zhe fragte mit leiser Stimme: „Was werden Sie dann jetzt gleich machen?“
„Zurück zur Städtischen Verteidigungsbehörde gehen und mich ausruhen“, sagte Lu Feng.
An Zhe bemühte sich, sich mit ihm wie ein Mensch zu unterhalten: „Gehen Siet nicht zurück zum Prozessgericht?“
„Das ist zu weit weg.“
„... Oh.“
Er hatte das Gefühl, dass er den Oberst unter den gegebenen Umständen einladen sollte, sich eine Weile zu setzen, aber er wollte unbedingt, dass der andere Mann ging, denn obwohl es nur einen Oberst im Raum zu geben schien, so waren es in Wirklichkeit eigentlich zwei.
Er fragte: „Wann gehen Sie?“
Lu Feng schaute ihn an.
An Zhe warf einen Blick nach unten und schürzte die Lippen.
„Hol mir ein Glas Wasser“, sagte Lu Feng.
Der Tonfall war ganz anders als bei einer Diskussion oder einer normalen Unterhaltung. Egal, was diese Person sagte, es klang immer als wolle er Befehle erteilen.
„Okay“, antwortete An Zhe.
Er nahm den Wasserbecher vom Tisch und öffnete die Tür. Von hier aus war es sehr weit bis zum gemeinsamen Wasserraum im Korridor auf dieser Etage. Er ging hinüber und erriet mit Blick auf die roten und blauen Knöpfe, ob Lu Feng lieber warmes Wasser oder kaltes Wasser trinken wollte.
Schnell drückte er den blauen Knopf, der für kaltes Wasser stand. Hier gab es kein Eiswasser, sonst hätte er es bestimmt für Lu Feng geholt. Danach hielt er den Wasserbecher in der Hand und dachte darüber nach, wie er Lu Feng weiterhin gegenübertreten sollte und ging schweren Herzens zurück in sein Zimmer.
Der Schiedsrichter, der ihm spät in der Nacht half, den Koffer nach oben zu tragen, war sicherlich nur noch da, damit er ein Glas Wasser trinken konnte. Konnte es sein, dass er so durstig war, nachdem er die ganze Nacht auf Patrouille gewesen war?
Wenn er Herrn Shaw morgen von diesem Erlebnis erzählen würde, - und von dem Gedanken ausgehend, dass Herr Shaw stets nur an die eine Sache dachte -, dann würde dieser ihm ganz bestimmt sagen: „Er will mit dir ins Bett.“
Falsch.
An Zhe blieb wie angewurzelt
stehen. Plötzlich erinnerte er sich, warum Herr Shaw den Koffer bei
ihm gelassen hatte.
Denn Jensen hatte eindeutig schon immer Handys auf dem Schwarzmarkt verkauft, ohne Ärger zu bekommen, aber plötzlich konnte man ihn nicht mehr erreichen. Herr Shaw hatte das Gefühl, dass etwas faul war, also konnten sie die Schaufenster-puppe des Schiedsrichters nicht zurück in den Laden bringen. Stirnrunzelnd erinnerte er sich an alle Handlungen von Lu Feng. Die Patrouillen des Gerichtshofs wurden alle in Gruppen durch-geführt, so wie damals am Eingang zum Schwarzmarkt, als Lu Feng drei Leute angeleitet hatte. Warum war er jetzt allein? Und das direkt neben seinem Haus?
Außerdem schien dieser Mensch Lu Feng die Fähigkeit zu haben, Gedanken zu lesen. Zuvor wurde jedes abnormale Verhalten, das er ihm gegenüber gezeigt hatte, immer entdeckt. Wieso fragte er also dann nicht nach dem Inhalt des Koffers?
An Zhes Hand, die gerade auf dem Türgriff gelandet war, erstarrte.
Er dachte, der Schiedsrichter sei vielleicht gekommen, um ihn zu fangen. Er riss seine Hand zurück, nahm seinen Kommunikator heraus und wählte AE77243, die Nummer von Herrn Shaw.
Fünf Worte erschienen auf dem schwarz-weißen Bildschirm des elektronischen Kommunikators: 'Anruf kann nicht angenommen werden'.
Die Alarmglocken in An Zhes Herz und Verstand schrillten.
Doch genau in diesem Moment ertönte eine autoritäre und kalte Stimme von der anderen Seite der geschlossenen Tür: „Herein.“
An Zhes Herz klopfte wie wild. Er nahm
einen tiefen Atemzug,
dann öffnete er die Zimmertür.
Er sah Lu Feng an der gleichen Stelle
stehen wie zuvor, den Kopf
leicht gebeugt, den Rollkoffer aufrecht
an seiner Seite.
An Zhe wusste nicht, was er denken sollte. Er machte zwei Schritte und hielt ihm die Tasse hin: „Herr Oberst, Ihr Wasser.“
Lu Feng rührte sich nicht von der Stelle. Plötzlich kam An Zhe etwas in den Sinn. Langsam drehte er den Kopf und schaute auf die andere Seite des Raumes. Dann begegnete er dem Blick des echten Lu Feng.
Lu Feng saß mit gekreuzten Beinen an seinem Schreibtisch in einer erhabenen Sitzhaltung. In seiner Hand hielt er ein Blatt Papier, und sein Kopf war nach oben geneigt und er sah An Zhe direkt an.
An Zhe wusste nun, was wahre Verzweiflung bedeutete.
Aber in diesem Moment konnte er nur langsam zwei Schritte nach vorne machen und die Tasse auf den Tisch stellen: „Ihr Wasser.“
Lu Feng nahm den Wasserbecher, setzte
ihn an den Mund und
nahm einen kleinen Schluck, dann runzelte er
leicht die Stirn: „Kaltes Wasser?“
An Zhe wollte nicht sprechen. Es schien, als hätte er wieder etwas falsch gemacht. Er sah, wie Lu Feng den Wasserbecher wieder auf den Tisch stellte, ebenso das Papier wieder auf den Tisch legte und ihn ansah. An Zhe gab seinen Fehler schnell zu: „Ich habe mich geirrt.“
Lu Feng sagte nichts. Ganze zehn Sekunden vergingen, bevor er fragte: „Welches Vergehen hast du begangen?“
„Ich habe kein warmes Wasser für Sie geholt.“
„Kaltes Wasser ist auch in Ordnung.“
An Zhe schaute auf das Propagandapapier, auf dem 'WIDERSETZE DICH DER TYRANNEI DES SCHIEDSRICHTERS' in blutigem Rot geschrieben war, und sein Herz wurde wieder ein wenig kälter. Er sagte: „Ich habe an einer illegalen Demonstration teilgenommen.“
„Das ist es nicht.“
Er war erledigt. Es gab nur noch ein Vergehen, das er möglicher-weise begangen haben könnte. Wie würde die Anklage wegen der Herstellung einer Schaufensterpuppe des Schiedsrichter wohl lauten? An Zhe schämte sich dafür, dass er die Gesetze des Stützpunkts nicht genau gelesen hatte, und suchte nach den richtigen Worten.
Schaufensterpuppe. Eine Schaufensterpuppe, die für solch einen schlechten Zweck benutzt wird - Die Worte, die Lu Feng zu Josh gesagt hatte, als sie unten waren, kamen ihm wieder in den Sinn. Verzweifelt sagte An Zhe: „... Unanständigkeit?“
Er sah den Schatten eines Lächelns in
Lu Fengs Augen erscheinen.
„Hast du dir die Gesetze der Basis
schon einmal angeschaut?“
„Habe ich nicht.“
Lu Feng sagte: „Komm her.“
An Zhe trat einen Schritt vor: „Streck deine Hand aus.“
An Zhe streckte gehorsam seine Hand aus. Lu Feng hielt seine Worte immer noch sehr knapp. In demselben befehlsgewohnten Ton sagte er: „Leg sie hierhin.“
„Wohin?“
„Auf mich.“
An Zhe zögerte einen Moment, dann legte er langsam seine Hand auf die linke Seite von Lu Fengs Brust. Die silbernen Knöpfe der Uniform und das Abzeichen an seiner Brust waren kalt und hatten Linien, die ihre Oberfläche verzierten. Er wusste nicht, warum Lu Feng dies von ihm verlangte.
Klick.
Die eisige silberne Handschelle wurde erneut um An Zhes Hand-gelenk gelegt.
Lu Feng war ausdruckslos: „Wegen Unanständigkeit.“
An Zhe verstand nicht. Unmittelbar danach sah er, wie Lu Feng seinen Kommunikator betätigte.
„Gefangennahme abgeschlossen. Ein Stück Schmuggelware beschlagnahmt“, anschließend ergänzte er, „Kommen Sie zur Verstärkung.“
_______________
Der Korridor der Städtischen Verteidigungsbehörde war noch dunkler und kälter als der im Wohngebäude. An Zhe wurde in das erste Untergeschoss gebracht. Im schummrigen Licht waren überall Eisentüren zu sehen, und er erkannte, dass dies das Gefängnis der Menschen sein musste.
Er wurde hinter einer dieser Eisentüren
von ihnen eingesperrt.
„Du wirst morgen vor Gericht gestellt“,
sagte Lu Feng, während er die Eisentür schloss, „Du hast zehn
Stunden Zeit, um für dich eine Verteidigung vorzubereiten.“
An Zhe antwortete: „... ich habe keine Verteidigung.“
„Das habe ich mir gedacht“, erwiderte Lu Feng. Mit diesen Worten drehte er sich um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, und ließ nur einen Satz zurück: „Schlaf gut.“
An Zhe klammerte sich an die Eisentür und sah zu, wie Lu Fengs Gestalt im Korridor verschwand. Von der gegenüberliegenden Seite kam Geflüster: „Wie ich schon sagte, sie werden nicht einen einzigen verschonen.“
„Wenn Hubbard sich nicht in die Wildnis abgesetzt hätte, dann würde er jetzt auch Gefängnisfraß essen. Er ließ mich die Fotos heimlich machen. Ihr zwei habt mir wirklich eine Falle gestellt. Wenn wir rauskommen, bezahlt ihr mich.“
„Geh zu Doussay. Sie hat die Bestellung aufgegeben und die Rechnung ist noch nicht bezahlt.“
„Dann holt mich hier raus.“
Das waren die Stimmen von Herrn Shaw und Jensen. An Zhe blickte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen und be-mühte sich, die beiden Personen, die ihm gegenüber eingesperrt worden waren, in der schummrigen Beleuchtung zu erkennen.
„Sie beide sind auch hier?“
„Offensichtlich“, antwortete Jensen, „Ich habe fröhlich Handys verkauft, als ich von Leuten vom Gericht abgeführt wurde.“
Herr Shaw seufzte: „Nachdem ich mich von dir getrennt hatte, war ich noch nicht ganz beim Bahnhof, als ich geschnappt wurde.“
Jensen fragte: „Und was ist mit dir? Wie wurdest du erwischt?“
An Zhe antwortete darauf nicht.
„Meister“, sagte er schließlich.
„Was ist los?“
„Bringe ich die Leute wirklich dazu, mich oft zu schikanieren?“
„Das ist dir jetzt erst aufgefallen?“, fragte Herr Shaw träge, „Warum fragst du?“
Auch darauf gab An Zhe keine Antwort. Stattdessen fragte er: „Welche Vergehen habt ihr begangen?“
„Muss das noch gesagt werden?“, fragte Herr Shaw, „Das Verbrechen des illegalen Diebstahls von Informationen des Schiedsrichters.“
„Ist das so?“, flüsterte An Zhe.
„Was denn?“, fragte Herr Shaw, „Ist das bei dir nicht der Fall?“
„Doch, ist es“, log An Zhe.
Herr Shaw lachte laut auf: „Dein Ton hat sich sogar verändert. Hat dich jemand schikaniert?“
An Zhe sagte gleichgültig klingend: „Nein.“
In dem stillen Raum gähnte Jensen: „Die Gefängnisbetten sind eigentlich ziemlich weich.“
An Zhe sah sich in seinem eigenen Raum
um. In der beengten
Gefängniszelle befand sich ein dünnes
Plastikbrett von einem
Meter mal zwei Meter in einer Ecke mit
einer gefalteten weißen
Decke am Fußende - das war wohl das so
genannte Bett.
Er ging dorthin und setzte sich im
Schneidersitz darauf, dann
wickelte er sich in die dünne Decke
ein und lehnte sich gegen die Wand.
Schritte kamen vom Ende des Korridors und ein grelles Licht erhellte den Gang. Drei Soldaten der Städtischen Verteidigungsbehörde drehten mit Taschenlampen in der Hand ihre Runde. Als die Soldaten an ihnen vorbeigingen, sagte der linke: „Jetzt sind es drei mehr. Wer hat sie hergebracht?“
„Der Schiedsrichter, denke ich. Oberst Lu ist mächtig. Seien wir mal ehrlich,... wir von der Städtischen Verteidigungsbehörde sind doch nur noch die Handlanger des Prozessgerichts.“
„Das Gericht will die komplette Kontrolle über die Städtische Verteidigungsbehörde übernehmen, aber unser Direktor hält sie noch zurück.“
Die Soldaten leuchteten jeweils mit den Taschenlampen in ihre Gesichter und sagten nicht viel mehr, während sie weitergingen.
Nachdem sie alle einzeln kontrolliert hatten, verließen sie den Gang durch einen anderen Eingang.
Nachdem die Geräusche ihrer Bewegungen verschwunden waren, wurde der gesamte unterirdische Raum völlig still, bis auf die Atemgeräusche der Gefangenen. An Zhe konnte spüren, dass hier nur sehr wenige Menschen waren. Aus der Ferne ertönte das Geräusch von tropfendem Wasser und Herr Shaw murmelte: „So verschwendet also die Städtische Verteidigungsbehörde unsere Wasserressourcen.“
Aber das Geräusch des tropfenden Wassers hörte nicht auf, es ging unaufhörlich und extrem gleichmäßig weiter. Jensen meinte: „Vielleicht ist es auch eine Uhr.“
Als er genau hinhörte, erkannte An Zhe, dass das Geräusch von nebenan kam und in kurzen Abständen einmal ertönte. Es war kein tropfendes Wasser, sondern das Geräusch einer alten mechanischen Uhr. In der Dunkelheit hörte man, wie sich der Sekundenzeiger in einer konstanten Geschwindigkeit bewegte und die Zeit zog sich nun nicht nur gefühlt, sondern auch gehört endlos in die Länge.
Schließlich sagte Jensen: „Herr Shaw, Sie haben eine Menge Erfahrung. Wie lange werden wir hier wohl eingesperrt sein?“
„Wahrscheinlich nicht allzu lange“, sagte Herr Shaw, „Für das Stehlen illegaler Informationen des Schiedsrichters hängt das Strafmaß von der Verwendung dieser Informationen ab. Solange es dem Schiedsrichter keinen Schaden zugefügt hat, kommt alles in Ordnung.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob man das so sehen kann. Du hast die Infos benutzt, um Profit zu machen“, erwiderte Jensen, „Selbst wenn wir nicht zu lange eingesperrt bleiben, müssen wir doch bestimmt Bußgelder bezahlen, oder?“
„Dann bleibe ich doch lieber die nächsten paar Jahre eingesperrt!“, kam daraufhin von Herrn Shaw.
Jensen sagte mit einem Seufzer: „Der Schiedsrichter ist der Schiedsrichter. Selbst wenn man Fotos von ihm macht, wird man inhaftiert. In Zukunft werde ich einfach nur noch in aller Ruhe Handys verkaufen. Ich war gerade dabei Handys zu verkaufen, als ich von Leuten des Prozessgerichts weggezogen wurde. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich sogar, ich würde irgendwann zum Xenogenic ohne es zu wissen und bekam Todesangst.“
Herr Shaw sagte nichts. Aus der Nachbarzelle von An Zhe kam jedoch die klare Stimme eines jungen Mannes: „Ich habe schon ein paarmal das Urteil wegen dem Verbrechen des illegalen Diebstahls von Informationen des Schiedsrichters mitbekommen.“
Herr Shaw fragte: „Wie lange wurden sie eingesperrt?“
„Das Kürzeste war drei Tage, das Längste war drei Jahre, und einer wurde sogar hingerichtet. Er wollte den Schiedsrichter mit den Infos ermorden.“
Herr Shaw fragte zögernd: „... Ist es ihm gelungen?“
„Natürlich nicht. Oder sieht er für euch tot aus?“
„Und er wurde trotzdem hingerichtet?“
„So ist nun einmal der Kodex des Schiedsrichters“, der Tonfall der Stimme war ruhig, „Ohne die absolute Sicherheit des Schieds-richters gäbe es keine absolute Autorität des Schiedsrichters.“
Herr Shaw sagte: „Dann ... also... wir hatten nie die Absicht, ihm zu schaden. Wie lange werden wir also eingesperrt?“
„Das hängt von der Laune des Schiedsrichters ab“, antwortete die Stimme.
Die Finger von An Zhe krallten sich in seine Decke. Er hatte gespürt, dass der Schiedsrichter gute Laune hatte. Er hörte Jensen neugierig fragen: „Kumpel, was hast du eigentlich aufgefressen?“
Die Stimme sagte: „Sie haben mich angeklagt wegen Aufwiegelung und Verbreitung von Angst.“
Jensen schien verblüfft: „Häh?“
„Ich habe Beiträge für das Verwaltungsamt für kulturelle Angelegenheiten verfasst und die Städtische Verteidigungsbehörde hat mich verhaftet“, sagte die Person nebenan, „Das Verwaltungsamt für kulturelle Angelegenheiten wurde danach geschlossen, aber ich wurde nicht freigelassen.“
Er war also ein Kollege von An Ze gewesen, dachte An Zhe. Dann hörte er Jensen sagen: „Wie lange bist du schon eingesperrt?“
„Ich sitze lebenslänglich.“
Jensen verstummte offensichtlich für einen Moment: „Du verarschst mich doch jetzt!“
Die Person lachte, antwortete aber nicht.
An Zhe dachte eine Weile nach. Ausgehend von An Zes Erinnerungen war die Arbeit, die er ausgeführt hatte, eine sehr sichere Arbeit. Er fragte den Nachbarn: „Was hast du ge-schrieben?“
Die Person antwortete: „Eine Zusammenfassung der Geschichte der Basis. Mein Pseudonym ist Poet. Hast du sie schon gelesen?“
„Habe ich nicht“, antwortete An Zhe ehrlich.
Poet sagte: „Willst du dann zuhören? Deine Stimme klingt sehr schön.“
„Deine Stimme klingt auch sehr schön“, An Zhe spürte, dass er wirklich reden wollte, also sagte er, „Ich möchte zuhören.“
„Stopp.“, Herr Shaw meldete sich zu Wort, „Das Verbrechen, das Sie begangen haben war Aufwiegelung. Denken Sie nicht daran, auch noch unseren Jungen aufzuwiegeln.“
„Nur zuhören ist in Ordnung. Sie müssen keine Angst haben, verhaftet zu werden“, ein Lachen war in Poets Stimme zu hören, „Ich meine, da ihr bereits verhaftet worden seid, und so.“
Seine Worte waren sehr vernünftig.
„Seitdem ich hier eingesperrt bin, hatte ich nur sehr wenige Gelegenheiten, über die Dinge zu sprechen, mit denen ich sehr viel Zeit verbracht habe, sie herauszufinden“, sagte Poet, „Aber ihr wisst ja auch ungefähr ein paar Dinge.“
An Zhe entgegnete: „Ich weiß nichts.“
„Ach?“, erwiderte Poet, „Dann werde ich ein bisschen mehr ins Detail gehen. Lass mich überlegen, wo ich mit dem Reden anfange...“
Seine Worte verlangsamten sich allmählich: „Ich beginne am besten mit der Wüstenära, nehme ich mal an. Vor dem Zeitalter der Wüste gab es das 'Zeitalter des großen Wohlstandes'. Die Welt hatte insgesamt sieben Milliarden Menschen und in den Flachlandregionen konnte man eine Stunde lang fahren und auf ein Dorf oder eine Stadt stoßen. Die Städte waren voll von Menschen. An den Rändern der Städte gab es Ackerland, Viehzuchtbetriebe und Fabriken, die Produktionsmaterialien für die Städte lieferten. In dieser Zeit gab es Kriege, aber das waren alles Kriege zwischen den Ländern. Tiere und Pflanzen waren nicht die Gegner der menschlichen Welt.“
An dieser Stelle hielt er inne und schien seinen Gedankengang zu ordnen. Es verging eine Weile, bevor er sagte: „Das war im Jahr 2020. Das ist jetzt schon über hundert Jahre her. Als ich ein Söldner war, ging ich zu den Ruinen eines Forschungsinstituts in der Hauptstadt eines Landes. Dort grub ich Informationen aus und zwar einen Forschungsbericht über Geomagnetismus aus dem Jahr 2020.“
Niemand in der Umgebung sagte etwas. Er fuhr fort: „Von diesem Jahr an haben sie festgestellt, dass das Magnetfeld der Erde rapide schwächer wurde - wisst ihr etwas über Magnetfelder?“
Jensen sagte: „Du brauchst mich nicht zu fragen, Kumpel. Ich bin total ungebildet.“
Herr Shaw sagte nichts.
„Die Basis lehrt diese Dinge nicht“, sagte Poet, „Wie auch immer, im Jahr 2030 ist das geomagnetische Feld verschwunden.“
Jensen fragte unverblümt: „Und was genau hat denn dieses geomagnetische Feld gemacht?“
„Die Erde war ein massiver Magnet, mit dem Süd- und Nordpol als positive und negative Pole. Das alles dazwischen war das geomagnetische Feld“, antwortete Poet, „Nachdem das geomagnetische Feld verschwunden war, funktionierten die Kompasse nicht mehr, die Biosphäre auf der ganzen Welt stürzte ins Chaos und die menschlichen Industrien kamen zum Stillstand, denn es gab keine Möglichkeit, ausreichend Energie zu erzeugen und zu nutzen. Aber das waren nur die leichtesten Folgen des Verschwindens des geomagnetischen Feldes. Denn die wichtigste Aufgabe des geomagnetischen Feldes war es,... die Erde zu schützen. Die Erde schwebt im Kosmos und es gibt kosmische Strahlung in alle Richtungen und Sonnenwinde, aber nachdem diese Dinge auf das geomagnetische Feld trafen, wurden sie in andere Richtungen abgelenkt und schadeten nicht Organismen auf der Erdoberfläche. Im Jahr 2030, nachdem das geomagnetische Feld verschwand, war der gesamte Planet direkt dem Angriff von Sonnenstürmen und kosmischer Strahlung ausgesetzt. Die Strahlung war so stark, dass der größte Teil des Festlandes direkt von den Stürmen weggeblasen wurde, das Wasser verschwand und die Atmosphäre wurde dünner. Dürreperioden, Hautkrankheiten, Krebserkrankungen... Die Hälfte der Menschen auf der Erde starb. Das war das 'Wüstenzeitalter'.“
„Verdammte Scheiße!“, sagte Jensen.
„Aber das Wüstenzeitalter endete sehr schnell“, Poet stieß ein kurzes Lachen aus, dann fuhr er fort, „Als die Veränderungen des geomagnetischen Feldes im Jahr 2020 entdeckt wurden, hatten die Menschen bereits Gegenmaßnahmen entwickelt, unterteilt in Plan A und Plan B. Ich habe so viele Informationen in den Ruinen der Stadt durchgeblättert, ehe ich das herausfinden konnte.“
Jensens Tonfall war mittlerweile respektvoll geworden: „Erzähl mehr davon.“
„Plan A war es, massive Magnetfeldgeneratoren an zwei speziellen Orten auf den Kontinenten Asien und Nordamerika zu errichten. Der eine wurde 'Ostpol' genannt und der andere wurde als 'Westpol' bezeichnet. Ersetzt man den Nord- und den Südpol der Erde durch die beiden Magnetfeldgeneratoren im Osten und im Westen, würde so eine Resonanz mit geladenen Teilchen in den Sonnenwinden entstehen und damit auch ein neues Magnetfeld, dass die ganze Welt bedeckt.“
Jensen klatschte ein paar Mal in die Hände: „Irre.“
„Plan B war es, große unterirdische Städte zu errichten und das Zentrum der menschlichen Existenz von der Oberfläche des Planeten in den Untergrund zu verlagern, um den Angriffen von der Strahlung und den Sonnenwinden zu entgehen.“
Jensen klatschte weiter: „Sehr gut!“
„Im Jahr 2040 war Plan B erfolgreich und die unterirdischen Städte wurden zum Leben freigegeben. 2043 war Plan A erfolgreich und ein schwaches Magnetfeld bedeckte die gesamte Welt. Die Atmosphäre verschlechterte sich nicht weiter und die Lebewesen starben nicht mehr an der kosmischen Strahlung. Die menschliche Technologie begann sich zu erholen und diese Zeitspanne zwischen 2040 und 2043 wurde das 'Zeitalter der Morgenröte' genannt.“
An dieser Stelle seufzte Poet leise: „Aber die schwersten Zeiten der Menschheit hatten gerade erst begonnen.“
An Zhe riss die Augen weit auf.
„Ich weiß“, sagte Jensen von der anderen Seite, „Die 'Ära der Unheils' kam.“
„Mm-hm“, sagte Poet, „Die kosmische Strahlung brachte unbekannte genetische Mutationen hervor, die zu sehr furchterregenden Dingen führte. Ursprünglich waren es Superbakterien, Pilze und Viren. Sie vermehrten sich in den menschlichen Städten, infizierten wahllos alle Menschen und hinterließen überall in den Städten Leichen. Diejenigen, die in den Ruinen in der Wildnis gewesen sind, wissen alle davon.“
An Zhe fragte: „Wie haben sie überlebt?“
„Das Überleben war eine Frage des Glücks“, antwortete Poet, „Es lag an den Genen. Wenn man gegen diese Keime immun war, konnte man überleben, aber ansonsten würde man sterben. Die verbliebenen Menschen waren alle immun. Am Ende waren von den drei Milliarden Menschen auf der Erde, die das Wüstenzeitalter überlebt hatten, nur etwa hundert Millionen übrig. Aber selbst das war noch nicht die schwierigste Zeit der Menschheit.“
„Was kam danach?“, fragte An Zhe.
„Was danach geschah, wisst ihr alle. Man könnte sagen, dass es die unbekannte Evolution war, die durch kosmische Strahlung oder eine Art Virus, das wir nicht entdecken konnten, hervor-gerufen wurde. Überall mutierten die Lebewesen und ihre Mutationen konnten übertragen werden und das geschah auf der gesamten Welt. Es muss etwas Besonderes auf ihren Körpern gewesen sein. Sobald Menschen mit ihnen in Kontakt kamen, wurden sie auch infiziert, verloren allmählich ihre menschlichen Eigenschaften und wurden assimiliert. Die mutierten Lebewesen griffen gerne Menschen an und menschliche Gene sind sehr schmackhaft für sie - und so begann der Krieg. Dies war der größte Krieg in der Geschichte der Menschheit.“
Nachdem er tief durchgeatmet hatte, fuhr Poet fort: „Die versprengten Menschen hatten keine Möglichkeit, den Angriffen der Monster standzuhalten, also begannen die Menschen, ihre verbliebenen Ressourcen zu bündeln und errichteten menschliche Stützpunkte. Unsere ID-Nummern beginnen mit 3, was bedeutet, dass dieser Ort die dritte Basis der Menschheit ist. Die Unterirdische Stadtbasis, die Virginia Basis, die Nördliche Basis und die Südöstliche Basis. Die Koalition dieser vier Stützpunkte war die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit. Nachdem die Basen gebildet worden waren, konnten die Menschen eine kurze Atempause einlegen. Daher könnt ihr alle jetzt so leben.“
Mit diesem Satz schien sich die Atmosphäre im Gefängnis etwas zu entspannen, doch mit dem nächsten Satz sank sie erneut auf den Gefrierpunkt: „Leider waren die Stützpunkte nicht unbedingt sicher.“
Poet hustete ein paar Mal und seine Stimme wurde langsam leiser: „Im Jahr 2061 gab es einen Ausbruch von Nagetiermutanten und die südöstliche Basis fiel. 2073 schlichen sich marine Xenogenic in die Virgina Basis ein und diese fiel ebenfalls.“
„Verdammt“, Jensen unterbrach ihn plötzlich, „Jetzt weiß ich, warum man dir das 'Verbrechen der Aufwiegelung' und der 'Verbreitung von Angst' vorwirft. Die Städtische Verteidigungsbehörde sollte dir den Mund stopfen.“
„Aber ich habe nichts Falsches getan“, sagte Poet mit einem Lächeln, „Ich habe nur die Söldnertruppe meines Freundes begleitet und überall Informationen aus menschlichen Ruinen gesammelt, sie dann zusammengefasst und veröffentlicht, und dafür wurde ich zu lebenslänglicher Haft verurteilt.“
Jensen sagte: „Man sollte dir die Zunge für immer heraus-schneiden. Warum hatte einer wie du sogar einen Freund?“
Poet lachte: „Nun ja, es ist so langweilig hier auf der Basis. Warum kann ich dann keinen Freund haben?“
Ohne Jensen weiter zu beachten, sagte er: „Jetzt sind also sind nur noch die Nördliche Basis und die unterirdische Stadtbasis in Betrieb. Diese beiden Basen schützen die Magnetfeldgeneratoren, deshalb sind die Polarlichter über den Basen heller als an anderen Orten. Die Polarlichter sind die Teilchenströme in den Sonnenwinden.“
An dieser Stelle seufzte Poet: „Ich
weiß nicht, ob es noch
Kommunikation zwischen den beiden Basen
gibt. Immerhin liegt der ganze Pazifik zwischen ihnen. Ich habe
vorhin gesagt,
dass die schwierigste Zeit der Menschheit nicht die
Ära der Wüste war, und sie war auch nicht das Zeitalter des
Unheils, denn die schwierigste Zeit ist genau jetzt. Wer weiß, was
als Nächstes passieren wird?“
Gerade als er zu Ende gesprochen hatte, bebte die Erde heftig. Staub fiel von der Decke des Gefängnisses und landete auf An Zhes Kopf und Körper und brachte ihn zum Husten, doch dann setzten stärkere Vibrationen ein.
Jensen sprang auf und rief: „Ein Erdbeben?“
„Das ist kein Erdbeben“, An Zhe hörte, wie sich Poet nebenan aufrichtete und der gut informierte Mann schwafelte plötzlich von Dingen, die er nicht verstand, „Erdbeben haben transversale und longitudinale Wellen. Gerade jetzt sind es nur zufällige Schwingungen mit einem sehr flachen Hypozentrum-“
„- Da ist etwas unter der Erde!“
Allerdings verstand An Zhe diesen Satz.
BUMM!
Innerhalb eines Augenblicks ertönte ein lautes Geräusch aus den Tiefen des Korridors, begleitet vom Klirren eiserner Türen, die auf den Boden fielen.
BUMM!
Das Geräusch kam erneut. Eine Vibration, die hundertmal stärker war als die vorherige und An Zhe klammerte sich an die Gitterstäbe der Eisentür, um sich zu stützen.
Jetzt konnte er erkennen, was das Geräusch war:
Da war etwas - ein massives Lebewesen -, das von unten heftig gegen den Boden knallte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen