Kapitel 44 ~ "Die Aurora erhellte den Abgrund"

 

44.

"DIE AURORA ERHELLTE DEN ABGRUND."



Ich bin bereit, für die Sicherheit der Menschheit zu den Waffen zu greifen. Ich werde jedem Landsmann ein gerechtes Urteil zugestehen. Auch wenn es falsch ist, so ist es doch richtig“, Pauli rezitierte die Worte langsam, „Das Gelöbnis des Strafgerichts.“

An Zhe war verblüfft. Er hatte die letzte Zeile dieses Gelöbnisses schon einmal gehört. Nachdem er diese zwei Schlucke Blut ausgehustet hatte, wurde sein Körper unerwartet leichter, und seine Sinne trübten sich allmählich. Der heftige Wind des Winters blies ihm ins Gesicht, aber er zitterte nicht mehr vor Kälte. Es war eine Art ätherische Leichtigkeit, als würde er vom Wind verweht werden. Er stützte sich wieder auf, lehnte sich an das Geländer und sah auf die beiden Abzeichen hinab.

Das sechseckige Abzeichen war mit einem Muster graviert. Das Abzeichen des Gerichts bestand aus zwei sich kreuzenden prismatischen vierzackigen Sternen, die dem Symbol auf einer Landkarte ähnelten, das die Himmelsrichtungen anzeigte. Der Stern, der nach Norden, Süden, Osten und Westen zeigte, war etwas größer, und der Zacken, der nach Süden zeigte, war länglich und hatte die Form eines Kreuzes. Der Stern, der nach Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten zeigte, war etwas kleiner und unter dem anderen Stern verborgen.

An Zhe hatte diese ausgeprägte spitze Form schon oft untersucht.

Seine kalte silbrige Textur, die scharfen Spitzen und geraden Linien zeigten atemberaubende Strenge und Unparteilichkeit. Pauli strich mit den Fingern über die Oberfläche des vierzackigen Sterns. Vielleicht hatte er seine Form schon mehrfach nachgezeichnet, denn das Muster auf dem Abzeichen trug tiefe Spuren von Abnutzung und Verschleiß.

Die Vorlage wurde von einem meiner Kollegen gezeichnet“, im heulenden kalten Wind blickte Pauli in den fernen Nachthimmel, „Wir hatten gehofft, dass der vierzackige Stern wie ein Kompass den Menschen die richtige Richtung weist.“

Warst du nicht ... ein Wissenschaftler der Fusionsfraktion?“, fragte er mit leiser Stimme.

Das war ich“, sagte Pauli. Sein Tonfall war weich, wie ein Seufzer: „Ich war der Anführer der Fusionsfraktion und auch der Gründer des Gerichtshofs. Die Fusionsfraktion war der Vorgänger des Gerichtshofs.“

An Zhe erinnerte sich plötzlich daran, dass im langen Korridor des Strafgerichtshofs die Porträts mit den Geburts- und Sterbedaten aller Schiedsrichter aufgereiht waren. Der Bilderrahmen am Ende war jedoch entfernt und der Name sowie die Geburts- und Sterbedaten waren abgekratzt worden, so dass nur noch ein verschwommenes 'P' zu erkennen gewesen war. Das war der Eintrag des ersten Schiedsrichters, der aber aus irgendeinem unbekannten Grund von den Nachfolgern ausgelöscht worden war.

Die Nördliche Basis war ein Ort, an dem sich verschiedene ethnische Gruppen mischten.

Er wusste nicht, aus welcher Sprache das Wort 'Pauli' transkribiert worden war, aber er konnte das ähnliche Wort 'Paul' vage mit Buchstaben buchstabieren.

Sein Eindruck war jedoch, dass die Ideologien der Fusionsfraktion und des Prozessgerichtshofs völlig unvereinbar waren.

Die eine Seite hoffte auf eine sichere Verschmelzung von Menschen und Monstern, während die andere gnadenlos alle fusionierten Xenogenics, die versuchten, in die Basis einzudringen, tötete. Die beiden Seiten waren so weit voneinander entfernt wie der Himmel und die Erde. Er war so verunsichert, dass er nicht wusste, was er zuerst fragen sollte. Pauli sagte: „Es war ein Unfall.“

In der Vergangenheit hatte An Zhe viele Leute gehört, die die Geschichte der Basis erzählt hatten. Diese ruhigen Erzählungen waren wie begrenzte Lichtstrahlen, und er sammelte all das Licht, um jeden Winkel des dunklen Raumes zu erhellen und sich ein Gesamtbild davon zu machen.

Es schien, dass die Fähigkeit, seinen Willen nach der Infektion aufrechtzuerhalten, nur vom Zufall abhing. Aber wir glaubten immer noch, dass alles in der Natur Spuren hinterlässt, denen man folgen kann. Nur waren unsere Möglichkeiten begrenzt und das wir die Muster darin noch nicht erkannt hatten. Wir haben ständig geforscht, gingen immer tiefer und wurden immer eifriger auf diesem Gebiet.“

Als er dies sagte hatte Pauli die Augen ein wenig geschlossen, und ein leichter Schmerz zeigte sich in seinem Ausdruck, während er sich erinnerte: „Der Körper einer Versuchsperson teilte sich aus ungeklärten Gründen in zwei Hälften, aber die Hälften hatten ein gemeinsames Bewusstsein. Einer der beiden entkam aus dem Labor, der andere blieb im Beobachtungsraum. Weil es so aussah, als sei es die ganze Zeit dort geblieben, entdeckten wir die Anomalie nicht rechtzeitig, und die entkommene Hälfte verursachte eine tragische Katastrophe.“

An Zhe wusste von der Katastrophe. Ein Blutegel-Xenogenic hatte die Wasserquelle der gesamten Äußeren Stadt verseucht.

Die gesamte Äußere Stadt war gefährdet, und die Basis musste Menschen von Xenogenics unterscheiden und letztere sofort eliminieren. Die Fusionsfraktion trug die Schuld an diesem Unglück. Diejenigen jedoch, die Infektion und Mutation erforscht hatten und am besten mit den Unterscheiden der Unterschiede zwischen Monstern, Xenogenics und Menschen vertraut waren, waren auch wir“, sagte Pauli.

In diesem Augenblick kam An Zhe zu einer Erkenntnis. Ganz am Anfang war das Prozessgericht keine Organisation des Militärs gewesen. Früher unterstand es der Zuständigkeit des Leuchtturms.

Alle Versuchsprojekte wurden eingestellt, die Proben wurden vernichtet und die Versuchspersonen getötet, aber die Basis gab der Fusionsfraktion die Möglichkeit, für ihre Sünden zu büßen. Wir richteten über Nacht das Gerichtsgebäude ein, entwarfen die Prozessregeln und stellten die gesamte Stadt vor Gericht. In diesen zehn Tagen töteten wir die Hälfte der Bevölkerung der Basis“, erklärte Pauli langsam, „Die Infektion wurde unter Kontrolle gebracht, und die Reinheit der menschlichen Gene blieb erhalten. Und danach wurde das Versuchssystem auf diese Weise fortgesetzt. Die Vernichtung der Virginia-Basis war ein weiterer Beweis für die Richtigkeit des Systems.“

Pauli sprach die folgenden Worte langsam: „Ich war zehn Jahre lang Mitglied der Fusionsfraktion und vier Jahre lang der Schiedsrichter.“

Der Schatten eines Lächelns erschien auf seinen Lippen, aber dieses Lächeln wirkte eher wie ein lautloser Schmerzensschrei, eine Grimasse des Schmerzes: „Meine ursprüngliche Absicht war es, jedem ein friedliches Leben zu ermöglichen, aber stattdessen habe ich jeden Tag meine Landsleute abgeschlachtet. Mit jedem Tag in diesen vierzehn Jahren wurden meine Sünden immer nur noch größer.“

An Zhe sagte: „Aber du hast auch die Basis beschützt.“

Das war mitnichten der Fall“, sagte Pauli, „Ich tötete wahllos
jeden Tag Unschuldige.“

Du hast Regeln aufgestellt und dich an die Vorschriften gehalten, also hast du nicht wahllos Unschuldige getötet“, verteidigte An Zhe ihn.

Paulis Antwort schlug ein wie ein Donnerhall.

Es gab keine Prozessregeln!“, sagte er ohne Umschweife.

An Zhes Gesichtsausdruck wurde für eine Sekunde leer, denn es fiel ihm schwer, die Information in diesem Satz zu verdauen.

Mühsam fragte er nach: „Es... gab keine?“

Um genau zu sein, gab es keine Regeln, die Xenogenics mit hundertprozentiger Genauigkeit zu identifizieren“, Pauli hörte sich an, als ob er seufzen würde, „Wir entwarfen die Regeln anhand der Ergebnisse unserer lebenslangen Forschung. Unter verschiedenen Aspekten - Aussehen, Bewegungen und Gedanken - konnten wir eine Spezies anhand der unterschiedlichen Reaktionen auf externe Informationen bestimmen, aber es gab keine Möglichkeit, die absolute Richtigkeit zu garantieren. In Wahrheit konnten die Regeln nur achtzig Prozent der Xenogenics identifizieren. Bei den restlichen zwanzig Prozent konnten wir uns nur auf Erfahrung und Intuition verlassen, zusammen mit... der Ausweitung des Ausführungsbereichs. Es war besser, irrtümlich zu töten, als einen Xenogenic durchzulassen.“

Er erklärte weiter: „Die erste eiserne Regel der echten Prozessregeln ist, dass sie, egal unter welchen Umständen, niemals der Außenwelt offenbart werden können. Wir halten uns nicht wirklich an die Regeln. Das Prozessgericht lässt immer Raum für Totschlag, um absolute Sicherheit zu gewährleisten“, Paulis Stimme verfinsterte sich allmählich, „Als ich das Tor zur Äußeren Stadt bewacht habe, gab es bei jeder Hinrichtung eine achtzigprozentige Chance, dass es sich um einen echten Xenogenic handelte. Bei den restlichen zwanzig Prozent wusste ich ganz genau, dass es höchstwahrscheinlich ein echter Mensch war, aber ich erschoss sie trotzdem alle, nur um sicherzugehen. Und unter Xenogenics gab es eine Chance von eins zu zehntausend, dass jemand ein menschliches Bewusstsein hatte, und eine Chance von eins zu fünfundsechzig, dass jemand viele Jahre später sein menschliches Bewusstsein wiedererlangen würde.“

Seine Stimme wurde heiser. „Bis heute fällt es mir schwer, mich an diese vier Jahre zu erinnern.“

An Zhe stellte sich ein solches Spektakel vor, und er stellte sich selbst als Richter vor.

Er fragte: „Du hast also die Basis verlassen?“

Ich konnte mein inneres Leid nicht mehr ertragen. In dem Krieg zwischen Menschen und den Xenogenics konnte ich nicht bis zum Ende durchhalten“, Pauli schaute in den Nachthimmel. Nach langem Schweigen sagte er: „Zuerst litt ich, weil ich meine Landsleute tötete, aber später war auch der Tod von Xenogenics schwer zu ertragen. Ich hatte zu lange mit ihnen zu tun gehabt, und ich wusste, dass jedes Monster sein eigenes Leben hatte. Meine Hände waren mit Blut getränkt. Ich war ein schuldiger Mann. Später verließ ich mit einer Handvoll Kollegen den Stützpunkt und kam zum Hochland-Forschungsinstitut, wo wir im Stillen die Forschung der Fusionsfraktion fortsetzten und die Xenogenics akzeptierten. Mein ganzes Leben lang habe ich für meine eigenen Sünden gebüßt. Von damals bis heute sind über hundert Jahre vergangen.“

Hundert Jahre.

An Zhe sah Pauli mit leicht zweifelnder Miene an.

Als ob er seine Zweifel verstehen würde, lächelte Pauli. „Ich habe zu lange gelebt. In der Wildnis ist das Unvermeidlichste die Infektion“, Pauli krempelte seinen Ärmel hoch. Auf der Haut seines rechten Arms befand sich ein Fleck mit unordentlichen schwarzen Linien, „Ich wurde versehentlich von einem Mitglied des Forschungsinstituts verletzt und infiziert. Bevor ich das Bewusstsein verlor, verließ ich sie... Aber vielleicht, weil die Person, die mich infiziert hatte, bei klarem Verstand war oder vielleicht, weil der Zufall mich begünstigt hatte, bin ich später wieder aufgewacht.“

Bei diesen Worten lächelte Pauli: „Ich dachte, es wären nur ein paar Sekunden vergangen, aber in Wirklichkeit waren es mehrere Jahrzehnte gewesen. Es war, als wäre mein Bewusstsein augenblicklich durch Zeit und Raum gereist. Kannst du erraten, wo ich war?“

An Zhe schüttelte den Kopf.

Ich war noch im Forschungsinstitut“, sagte Pauli, „Sie hatten mich zurückgebracht. Auch wenn ich damals ein hirnloses Monster gewesen war, so haben sie mich nicht aufgegeben. Ich hatte sie einst beschützt, also beschützten sie auch mich. Die Gefühle zwischen Menschen sind genau so. Was du gibst, wirst du bekommen. In diesem Zeitalter ist das Vertrauen zwischen den Menschen sogar wertvoller als das Leben selbst, dass habe ich da verstanden.“

An Zhe betrachtete den warmen und friedlichen Ausdruck in Paulis Augen. Erst jetzt verstand er, warum es zwischen Pauli und den anderen Mitgliedern des Forschungsinstituts eine so tiefe Bindung gab.

Ich bereue nicht, dass ich damals den Stützpunkt verlassen habe, aber ich kann mir auch mein eigenes Ausweichen oder meine Inkompetenz niemals verzeihen“, erklärte Pauli schließlich.

An Zhe sagte: „Weil du von edlem Charakter bist.“

Nachdem er etwas nachgedacht hatte, fügte er hinzu: „Und weil du zu gütig bist.“

Nur weil Pauli jeden einzelnen Menschen liebte, musste er so leiden. Wenn sie in einem Zeitalter des Friedens leben würden, wäre er bestimmt jemand, der es nicht ertragen könnte, auch nur eine Ameise zu töten - doch so ein Mensch hatte in der heutigen Zeit eine Waffe gegen seine Mitmenschen erheben müssen.

Freundlichkeit... Freundlichkeit ist die größte Schwäche des Menschen“, sagte Pauli, „Freundlichkeit zu sich selbst ist der Ausgangspunkt egoistischer Wünsche, und Freundlichkeit zu anderen ist die Ursache für den schwankenden Glauben. Ich konnte weder völlige Gleichgültigkeit noch wahre Neutralität erreichen, also war ich kein geeigneter Schiedsrichter.“

Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, schwiegen sie lange Zeit.

Doch während sie über Paulis Worte nachdachten, runzelte An Zhe leicht die Stirn, denn er hatte an jemanden gedacht.

Aber ein Richter hat einmal etwas zu mir gesagt“, murmelte An Zhe, „Die Quelle des unerschütterlichen Glaubens des Schiedsrichters ist nicht Gleichgültigkeit, sondern Freundlichkeit. Freundlichkeit nicht gegenüber Einzelnen, sondern gegenüber dem Schicksal der gesamten Menschheit. Wenn die Interessen der Menschen Vorrang vor allem anderen haben, werden sie nicht wanken.“

Pauli sah ihn an und fragte leise: „Wie kann ich unerschütterlich glauben? Wenn du kein freundliches Herz für alle hast“, sagte er Wort für Wort, „wie kannst du dann dein Leben unerschütterlich dem Wohl der ganzen Menschheit widmen?“

An Zhe war fassungslos.

Seine Finger, die an seinen Seiten hingen, begannen zu zittern. Er wusste endlich, warum er jedes Mal, wenn er Pauli gegenüberstand, an Lu Feng denken musste, der das genaue Gegenteil von Pauli war.

Pauli schloss die Augen, seine Stimme war heiser, als er sagte: „Das ist die Ursache für all den Schmerz des Schiedsrichters. Er gibt seine Menschlichkeit auf, tötet wahllos Unschuldige und wird schließlich selbst von der Basis hingerichtet. Oder er verfällt schließlich durch unerträgliches Leid dem Wahnsinn. Das sind die beiden einzigen Schicksale eines Schiedsrichters. In dem Moment, als diese Regeln aufgestellt wurden, waren sie alle dazu verdammt, ein schreckliches Ende zu finden.“

An Zhe konnte nicht beschreiben, was er in diesem Moment fühlte. Mit Schwierigkeiten zu atmen blickte er auf das Abzeichen mit dem vierzackigen Stern in seiner Hand: „Wenn... Wenn es einen Schiedsrichter gäbe“, sagte er, „der immer einen klaren Verstand hatte und immer die Stadttore bewacht und nie einen Fehler in seinen Urteilen...“

Plötzlich kam er zu einer Erkenntnis, und seine Stimme zitterte, als er sagte: „Es gibt niemanden, der ihn nicht hasst, denn andere Richter töten nur ein paar Dutzende von Menschen pro Jahr, während er tausende tötet. In Wahrheit... in Wahrheit liegt es nicht daran, dass er besonders gerne schießt. Es liegt daran, dass die Zahl der irrtümlichen Tötungen nur dann am stärksten reduziert werden kann, wenn er schießt.“

Er verstand. Endlich hatte er es verstanden. Mit einem Schaudern fragte er Pauli: „Was für ein Mensch wäre er?“

Paulis Antwort war einfacher, als er es sich vorgestellt hatte.

Er wäre ein sehr einsamer Mensch“, sagte er.

Etwas stürzte herab und traf An Zhes Herz mit der Kraft eines herabstürzenden Felsblocks. Lange Zeit konnte er nicht sprechen, bis Pauli fragte: „Woran denkst du?“

Ich...“, An Zhes Sicht verschwamm, „Ich denke an ... an ...“

Er dachte an Lu Feng.

Er hatte einmal gedacht, dass Lu Feng kaltherzig sei, und er hatte auch zugegeben, dass Lu Fengs Überzeugungen unerschütterlich waren. Er wusste, dass für das illusorische Schicksal der Menschheit Oberst Lu sein ganzes Leben geben würde. Er wusste auch, dass Lu Feng leiden und einsam sein würde, aber erst heute begriff er, was für ein unvorstellbarer Koloss der Person gegenüberstand, die in seinem Herzen verwurzelt war.

Er hatte einmal gesagt, dass er Lu Feng verstehen würde, aber erst in diesem Augenblick - als er und Lu Feng viele Kilometer voneinander entfernt waren und sich nie wieder sehen würden - verstand er Lu Feng vollkommen.

Ich weiß, wer der Schiedsrichter ist, von dem du sprichst. Tang Lan hat ihn mir gegenüber mehrmals erwähnt. Wenn es möglich ist, würde ich ihn wirklich gerne kennenlernen“, sagte Pauli.

Er...“, während An Zhe das Abzeichen fest umklammerte, begannen seine Tränen endlich zu fallen, „Er ist seit sieben Jahren der Schiedsrichter und hat viele Menschen getötet. Alle hassen ihn. Aber er war sehr gut zu mir.“

Er lächelte, aber die Ränder seiner Augen fühlten sich heiß an und seine Nasenspitze war knallrot: „Eigentlich ist er sehr gut zu jedem.“

Du hast eben gesagt, du seist ein Monster durch und durch“, sagte Pauli, „Aber als Schiedsrichter habe ich keine Unterschiede zwischen dir und den Menschen gefunden. Was ist mit diesem Schiedsrichter?“

Er konnte sich nicht sicher sein“, An Zhes Finger zitterten leicht, und er blickte auf die ununterbrochene Kette von Bergen in der Ferne, „Bei unserer ersten Begegnung,... als wir uns trafen, hat er mich verschont. Herr Pauli...“, er schluckte, „wenn der Schiedsrichter einen Xenogenic beim ersten Mal verschont, wird er es dann ein zweites Mal tun?“

Pauli warf ihm nur einen warmen Blick zu.

Er hat mich auch ein zweites Mal verschont. Er hat mich viele Male verschont“, sagte An Zhe, „Später wusste er, dass ich ein Xenogenic bin. Aber ...“, er wollte etwas sagen, aber es kam nichts heraus. Sein Herz hatte sich in einem Todesgriff verfangen. Er wollte sich befreien aus dieser unentrinnbaren Gefangenschaft, aber er konnte nicht.

Es tut mir leid...“, er erkannte, dass er völlig unfähig war, einen vollständigen Satz zu bilden. Zerbrochen flüsterte er: „Ich... Sobald ich an ihn denke, möchte ich... möchte ich weinen.“

Pauli nahm An Zhe in seine Arme: „Nicht weinen, Kind. Lebe weiter“, sagte er, „Du wirst ihn wiedersehen.“

Ich werde ihn nicht wiedersehen“, An Zhe umklammerte Paulis Arm, als wäre er sein letzter Rettungsanker inmitten des stürmischen Sturms der Gefühle. Er konnte seine Tränen nicht zurückhalten, und am Ende konnte er seine Augen nur noch zittrig schließen und seine Stirn an Paulis Schulter legen: „Ich wünschte ... ich wünschte, ich wäre ihm gar nicht erst begegnet.“

Warum?“

An Zhe konnte nichts sagen.

Mir kannst du alles sagen, Kind“, murmelte Pauli, „Du brauchst mich nicht zu täuschen, und du brauchst dich auch selbst nicht zu täuschen.“

Würgend weinte An Zhe noch heftiger. Er verstand menschliche Beziehungen nicht, aber wenn er Pauli gegenüberstand, schien er sie doch zu verstehen. Es war, als stünde er einem sanften Vater, einem liebenden Priester oder vielleicht einem nachsichtigen Gott gegenüber.

Im Tempel des Herrn kniend, konnte er alles beichten, wie jeder andere Mensch auch - aber eigentlich nicht irgendeiner anderen Person oder Gottheit gegenüber, sondern sich selbst.

Ich...“, er öffnete den Mund, sein ganzer Körper zitterte wegen der Schmerzen und sein Verstand war völlig leer. Schließlich überwand er die emotionale Barriere und es platzte aus ihm heraus: „Ich will ihn sehen... Ich will ihn sehen.“

Er wiederholte die Worte fast verzweifelt: „Ich möchte ihn sehen, Herr Pauli. Ich möchte ihn sehen. Ich bereue es nicht, ihn verlassen zu haben, aber ich... ich bereue es so sehr.“

Ich weiß... ich weiß“, Pauli klopfte An Zhe sanft auf den Rücken und tröstete ihn.

Du weißt es nicht...“, sagte An Zhe, wobei sich seine Worte widersprachen.

Seine Gefühle waren zerrissen, und die Trauer überschwemmte seine Seele wie ein gebrochener Damm. Wenn der allgegenwärtige Schmerz der Sehnsucht ihn jetzt getötet hätte, dann wäre er nicht im Geringsten überrascht.

Es wäre vielleicht sogar eine Gnade gewesen.

Ich habe viele Jahrzehnte mehr gelebt als du, Kind“, sagte Pauli, „Du bist noch jung, und es gibt noch zu viele Dinge, die du nicht weißt.“

Ich...“, An Zhe hob ausdruckslos den Kopf. Er konnte es nicht widerlegen und er hatte auch nicht die Absicht zu widersprechen. Da war wirklich etwas in seiner Brust, das er weder greifen noch klar sehen konnte. Er konnte es nicht beschreiben.

Er schaute über Paulis Schulter hinweg in den grenzenlosen Nachthimmel und murmelte: „Was weiß ich ... nicht?“

Ba-dum.

In der kurzen Stille hörte An Zhe seinen eigenen Herzschlag. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass das, was Pauli sagen würde, sein ganzes Leben verändern könnte.

Er hörte Paulis Atemzüge.

Du weißt nicht...“, in der Stille antwortete Pauli, „dass du ihn liebst.“

An Zhe riss seine Augen weit auf.

Am Himmel schwankte die Aurora, ihr tiefgrünes Licht war wie eine rollende Flut. Sie wanderte von Süden nach Norden, verflüchtigte sich, bevor sie wieder auftauchte.

Er begann heftig zu zittern.

Diese heftige Eingebung traf seine Seele wie eine Sternschnuppe, die auf der Erde einschlug und die alles auf der Welt hell erleuchtete. Er wusste eigentlich nicht, welche Bedeutung diese drei Worte hatten, aber er wusste, dass sie richtig waren.

Er war völlig verblüfft und vergaß sogar seinen Kummer, als er wie benommen in die Ferne starrte. Pauli ließ ihn los und trocknete sanft die Tränen mit einem Taschentuch auf seinem Gesicht.

Aber warum sollte ich so sein?“, murmelte er.

Ohne eine Antwort abzuwarten, beschäftigte er sich mit einer anderen, dringenderen Frage: „Dann... wird er mich dann auch lieben?“

Er schaute Pauli fast flehend an: „Wird er mich auch lieben? Ich bin doch nur ein ... ein Xenogenic.“

Hat er schon einmal etwas zu dir gesagt?“

An Zhe schüttelte den Kopf. Ihre Beziehung war beängstigend kurz. Er sagte: „Aber er hat mich geküsst.“

Aber er war sich keineswegs im Klaren über die Bedeutung des Kusses. An diesem Tag war die Kraft der Worte zu schwach gewesen, also konnten sie nur das tun.

Du lebst noch“, sagte Pauli, „Hat er dich gehen lassen?“

Ich habe ihn verlassen. Er war schon immer ein qualifizierter Schiedsrichter. Ich wusste, er würde mich nicht verschonen“, sagte An Zhe langsam, „Damals wollte ich ihn nur verlassen und mir einen Platz zum Sterben suchen. Aber nur, weil seine Waffe in meinen Rucksack gefallen war, konnte ich in den Abgrund zurückkehren.“

Seine Pistole ist in deinen Rucksack gefallen?“, wiederholte Pauli.

An Zhe stieß einen leisen Laut der Bestätigung aus, und ein unsicheres Lächeln erschien in seinen Augen: „Er hat seine Sachen immer gerne zufällig bei mir gelassen.“

Pauli Jones strich An Zhe langsam über das Haar.

Eins musst du wissen, dummes Kind“, sagte Pauli, „Die Waffe des Schiedsrichters weicht nie von seiner Seite. Das ist eine eiserne Regel, die schon vor hundert Jahren aufgestellt wurde.“

An Zhe sah ihm schweigend in die Augen. Schließlich biss er sich auf die Lippe.

Das wusste ich nicht“, sagte er, „Das wusste ich wirklich nicht.“

Aus welchem Grund auch immer...“, sagte Pauli, „Er liebt dich auch. Das ist es, was es bedeutet.“

Würde ein Schiedsrichter einen Xenogenic denn mögen?“

Ich weiß es nicht“, sagte Pauli, „aber ich habe auch mit vielen Xenogenics in den letzten hundert Jahren gelebt – und du glaubst ja auch, dass ich noch die Qualifikation dazu habe, Schiedsrichter genannt zu werden.“

Während er in diese scheinbar allwissenden grau-blauen Augen blickte, dachte An Zhe, dass Pauli bestimmt den Grund wusste, warum Lu Feng ihn mochte, aber er traute sich nicht zu fragen. Pauli musste seine Gründe gehabt haben, es nicht zu sagen.

Ein Bild nach dem anderen erschien vor seinen Augen. Vor den Toren der Stadt, eine Frau, die ihren Mann verloren hatte und ihn heiser verfluchte, einen elenden Tod zu sterben.

Auf dem Platz des Versorgungsdepots durchschlug eine Kugel Doussays Hinterkopf, aber sie stürzte auf ihn zu.

Unzählige Silhouetten erschienen vor seinen Augen. Diese heiseren Schreie, die zitternde Angst, die knochentiefe Bewunderung. Unzählige Schatten erhoben sich und drängten sich zusammen, streckten ihre Hände in die Höhe. Mit Liebe, Hass und stillschweigend verstandenem aufgestauten Groll und Ängsten trieben sie ihn auf den Gipfel des Berges, wo die kalten Winde heulten und ihn zwangen, auf diese Horden von Lebewesen hinabzublicken.

Niemand näherte sich ihm, niemand verstand ihn, und seine Bewunderer und seine Verehrer bestellten lieber mit ihrem ganzen Reichtum eine falsche Schaufensterpuppe, als von sich aus mit ihm einen einzigen Satz zu sprechen.

Was das Mitgefühl und die Gunst des Schiedsrichters anging, so war das etwas, von dem es sich niemand wagte auch nur zu träumen. Was für eine Art von knochenharter Angst und unvorstellbarer Ehre war das?

Er war ein Xenogenic, etwas, das der Menschheit diametral entgegengesetzt war, aber er hatte die leise Hoffnung, diese Gunst zu erhalten. Und unerwartet hatte er sie erhalten.

Zumindest in dem Moment, als Lu Feng seine Waffe in An Zhes Rucksack gesteckt hatte, gab es eine solche Sekunde in Hunderten von Millionen von Jahren - in dieser Sekunde überließ der Schiedsrichter seine Pistole einem Xenogenic.

Lu Feng verriet seinen Lebensglauben, um ihn zu lieben.

Dann, wie im Märchen in den Kinderbüchern, läutete die Glocke um Mitternacht, und der eine ging in den Abgrund zurück, während der andere in die Basis heimkehrte.

Wie ein allmählich nachlassender Sandsturm legte sich der Staub, mit dem Klang der Glocke, und An Zhes Herzschlag kehrte nach und nach zu seiner normalen Frequenz zurück. Er hatte ein unvorstellbares Geschenk erhalten, aber er war stattdessen völlig ruhig.

Er dachte, dass es genug war. Alles davon war genug.

Wenn der Tag kommt, an dem die Menschheit in Sicherheit ist und du ihn siehst“, sagte er zu Pauli, „Bitte... bitte sag ihm nicht, dass ich hier war.“

Pauli erwiderte: „Niemand kann den Schiedsrichter anlügen.“

Dann sag, dass ich gekommen und gegangen bin“, sagte An Zhe, „Ich bin weit weg gegangen und ich kann überall auf der Welt sein.“

Pauli sah ihn mit einem sanften, aber traurigen Blick an: „Ich hoffe wirklich, dass Gott euch beiden gnädig sein kann“, sagte er.

Doch An Zhe schüttelte langsam den Kopf.

Aber ich kann ihn nicht lieben, und er kann mich nicht lieben“, murmelte An Zhe, „Es sei denn, es kommt der Tag, an dem die Menschheit untergeht. Aber ich hoffe, dass dieser Tag niemals kommen wird.“

In diesem Moment hüllte ihn eine sichere Gelassenheit ein.

Unzählige durchscheinende weiße Schneeflocken tauchten in den Lücken zwischen der Aurora und den Wolken auf und fielen herunter. Sie schwebten herab, und die stille Berglandschaft und die Nacht wurden durch all die fliegenden Eissplitter lebendig. Es schneite.

An Zhe streckte seine Hand aus, und eine sechseckige Schneeflocke landete auf seinem Finger. Die schöne Form verlor allmählich ihre Gestalt durch die Wärme seiner Haut und zog sich in sich zusammen, um einen kristallinen Wassertropfen zu bilden.

Ich kannte ihn nur drei Monate“, sagte er, „Aber das ist mein
ganzes Leben.“

Der Wind wurde lauter, und Tausende von Schneeflocken wehten in den Korridor wie Weidenkätzchen, die der Frühlingswind in die Höhe trägt. An Zhe blickte auf. Er glaubte, dass sich alles aus der vergessenen Vergangenheit vor seinen Augen entfaltete und in glitzernde Fragmente zerfiel.

Der stürmische Sturm legte sich, die Wellen und Unterströmungen hörten gleichzeitig auf zu fließen. Er konnte sich weder als traurig bezeichnen, noch annähernd als glücklich. Er empfand nur, dass der Schnee schön war.

Die Freuden und Leiden in seinem Leben, die Begegnungen und Abschiede, waren genau wie die Geburt und der Tod aller greifbaren Dinge dieser Welt.

Sie waren alle flüchtige Schneeflocken.

Ist dir kalt?“

Nicht mehr.“

Er prägte sich die Form dieser Schneeflocke ein, und in dieser Sekunde erlangte er die Ewigkeit.

Die Aurora erhellte den Abgrund.

Aus dem Labor kam plötzlich das Geräusch von zersplitterndem Glas.


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