12.
"AUCH WENN DU SONST ZU NICHTS ZU GEBRAUCHEN BIST, SO KANNST DU DICH WENIGSTENS UM DIE KINDER KÜMMERN."
„ICH HABE nicht gejammert“,
sagte An Zhe mit leiser Stimme.
Er reichte Lu Feng das Arbeitsheft, der die Stirn leicht runzelte und es annahm.
„Und die Kleidung.“
Er zog den Mantel aus und reichte ihn Lu Feng ebenfalls: „Ich danke Ihnen.“
Lu Feng legte das Kleidungsstück über seine Ellenbogenbeuge und senkte den Kopf, um An Zhe anzuschauen.
„Du hättest nicht auf mich warten müssen“, sagte er, „Du hättest die Sachen einfach am Stadttor abgeben können.“
An Zhe antwortete nicht. Er und Lu Feng sahen sich ein paar Sekunden lang in die Augen, bevor er vorsichtig fragte: „Geht es... Ihnen gut?“
Lu Feng wandte den Blick ab: „Mir geht es gut.“
Seine Stimme klang nichtssagend, als ob vorhin nichts passiert wäre.
„... Oh“, sagte An Zhe.
Dann fragte An Zhe weiter: „Wohin werden Sie jetzt gehen?“
Lu Feng schaute ihn an. Dieses Paar scharfer, kalter, grüner Augen ließen An Zhe immer an kalte Dinge denken. Mit dem mächtigen kalten Wind der nächtlichen Stadt, zog er, der gerade den warmen Mantel verlassen hatte, fröstelt die Gliedmaßen näher an seinen Körper heran.
Lu Feng drückte den Mantel zurück in
An Zhes Arme.
„Ich weiß es nicht“, sagte er, „Ich begleite
dich erst einmal zurück.“
An Zhe hielt das Kleidungsstück in der Hand und zog es dann erneut über sich. Nachdem er es angezogen hatte, ging Lu Feng voraus und er folgte ihm. Zu beiden Seiten der Straße befand sich immer noch die geteilte Menge der Demonstranten. Ihre Mienen waren finster, die Mundwinkel angespannt und nach unten gezogen und sie hatten die Plakate und Flugblätter in ihren Händen gesenkt. Die Papiere flatterten geräuschvoll, als der Nachtwind leicht an ihnen zerrte.
Alle Menschen starrten sie schweigend an, ihre Haltung angespannt. Die grüne, violette und orangefarbene Aurora leuchtete auf ihren Gesichtern und vermischte sich mit ihren Hauttönen zu einem seltsamen Farbton.
In diesen Augen sah An Zhe deutlichen Hass und vorsichtige Wachsamkeit - wäre da nicht ihr Misstrauen gegenüber der Waffe, die Lu Feng immer bei sich trug, und sein Privileg, jederzeit Menschen töten zu können, schienen sie zu allem fähig zu sein.
Die gleichen Augen waren auch auf An Zhe gerichtet, und man könnte sogar sagen, dass die meisten von ihnen ihn anschauten. An Zhe rückte unwillkürlich näher an Lu Feng heran - er wusste, warum Lu Feng ihn jetzt zurückbegleiten wollte. Er war von sich aus freiwillig auf den Schiedsrichter zugegangen, deshalb starrten ihn die Andersdenkenden an wie ein Rudel Wölfe.
Glücklicherweise war die Menge zwar nicht klein, aber im Vergleich zur gesamten Stadt konnte man sie auch nicht als groß bezeichnen.
In weniger als fünf Minuten passierten sie das gesamte Demonstrationsgelände und betraten die Straße des Wohnviertels. Das Polarlicht ließ die zahlreichen Gebäude des Wohnviertels riesige schwarze Schatten auf den Boden werfen und die hellgraue Straße wurde durch das Licht und die Schatten in schwarze und graue Streifen unterteilt. Die Schatten von Lu Feng und An Zhe wurden ebenfalls auf den Boden geworfen, wirkten länglich und überlappten sich mit diesen unregelmäßigen Streifen.
An Zhe wusste nicht, was er zu Lu Feng sagen sollte und Lu Feng ergriff auch nicht die Initiative, etwas zu sagen. Obwohl es Nacht war, war es an diesem Ort keineswegs ruhig. Ein großer Lastwagen des Militärs raste an ihnen vorbei, bevor er an der Weggabelung zum Stehen kam. Die Fahrzeugtür öffnete sich, und die Bewohner, die durch das Stadttor gekommen waren, wurden von einem Team von Soldaten und einem Mitarbeiter des Büros für Stadtangelegenheiten, der ein weißes Hemd und ein Notizbuch bei sich trug, hinausgelassen und zu dem Gebäude geführt.
Ein Mann fragte einen Soldaten: „Wie lange müssen wir Schutz suchen?“
Der Soldat antwortete: „Das hängt von der Situation ab.“
Ein anderer Einwohner fragte: „Ich habe gehört, dass nur Distrikt 6 in Ordnung ist. Können Sie garantieren, dass Distrikt 6 immer sicher sein wird?“
Der Soldat antwortete: „Es gibt keine definitiven Informationen. Warten Sie auf den Forschungsbericht des Leuchtturms.“
„Dann...“
Jemand wollte noch etwas fragen, wurde aber prompt von dem Soldaten unterbrochen: „Kommt alle mit mir, schnell.“
Unzählige Schritte erklangen, als sie das Gebäude betraten. An Zhe hob den Kopf und blickte auf die Nummer am oberen rechten Teil des Gebäudes. Das war das Gebäude 55. Lu Fengs Schritte hörten nicht auf, also blieb auch er nicht stehen. Sie liefen noch dreißig Meter weiter und erreichten das Gebäude Nummer 56.
Etwas in An Zhes Herz rührte sich und er hob den Kopf, um auf die Nummer zu schauen, dann sah er auf die pechschwarze Tür in der Mitte des Gebäudes.
Dieser Bereich lag ganz in der Nähe des Isolationstors und das Militär hatte bereits damit begonnen, die Menschen in Gebäude 55 unterzubringen, und sie würden sich sicher sehr bald auch dem Gebäude 56 zuwenden.
Lu Feng fragte: „Willst du reingehen?“
An Zhe schüttelte den Kopf. Der Tonfall von Lu Feng war unverblümt: „Geh ruhig rein, wenn du willst.“
An Zhe sagte nichts. Er vermutete, dass der Schiedsrichter und die anderen Richter eine Ausbildung im Gedankenlesen hatten.
Er sagte: „Dann lass uns gehen.“
Lu Feng änderte die Richtung und ging zum Gebäude 56. An Zhe ging neben ihm und während er ging, zog er eine ID-Karte aus seiner Tasche. Eine Reihe von Zahlen waren auf der Karte aufgedruckt: 3260563209, was für Gebäude 56, Einheit 3, Stockwerk 2, Nr. 09 stand.
Dies war nicht An Zhes Zimmer und dieser Ausweis gehörte ihm auch nicht – Er hatte Vance gehört, dem Mann, der ihn zur Nördlichen Basis gebracht hatte.
An jenem Tag, nachdem Vances' Leiche abtransportiert worden war, hatten ihm die Soldaten diesen Ausweis als Andenken mitgegeben.
Seitdem trug er ihn immer bei sich.
An Zhe zog die ID-Karte über den Sensor, um die Zimmertür zu öffnen – die Karte war noch nicht ungültig, was bedeutete, dass der Stützpunkt das Recht zur Nutzung dieses Zimmers noch nicht zurückgenommen hatte. Er ging hinein und schaltete das Licht ein.
Es war ein einfaches Zimmer, und die Bettdecke lag achtlos auf dem Bett, als sei ihr Besitzer gerade erst aufgestanden und gegangen. Einige Dinge des täglichen Bedarfs - ein Wasserbecher, ein Zigarettenetui und ein Feuerzeug - standen auf dem Tisch. Dies war Vances' Zuhause.
Der Tod von Vance war bereits einen Monat her, aber An Zhe dachte manchmal an ihn. Die ganze Zeit über hatte er nicht verstanden, warum Vance, obwohl er genau wusste, dass er infiziert worden war, trotzdem zum Stützpunkt zurückkehren wollte. Aber nach diesem heutigen Tag, nachdem er Zeuge des Terrors und des Todes so vieler Menschen geworden und er wieder an Gebäude 56 vorbeigekommen war, hatte er das Gefühl, dass er Vance nun in gewisser Weise doch verstand.
Er selbst wurde von seinem Instinkt beherrscht und war fest entschlossen den Tod zu riskieren, indem er tief in die Basis ging, um nach seiner Spore zu suchen. Vielleicht war es für die Menschen unmöglich, seine Motivation diesbezüglich zu verstehen. Aber im Gegensatz zu Monstern, die vom Instinkt beherrscht wurden, waren Menschen eine Art von Kreatur, die oft von Emotionen beherrscht wurden. Sie taten Dinge, die nicht der Vernunft entsprachen oder zu viele Gründe brauchten, aber er verstand es nun, und er zweifelte nun nicht mehr an dem verblüffenden Verhalten.
Während An Zhe dies dachte, legte er den Ausweis vorsichtig unter das Zigarettenetui - er erinnerte sich, dass Vance gerne rauchte.
Nachdem er dies getan hatte, wandte er sich zum Gehen. Lu Feng lehnte sich an den Türrahmen und wartete auf ihn.
Sein Blick war wie eine fallende Schneeflocke, während er auf An Zhe heruntersah, und wirkte scheinbar anders als zuvor.
An Zhe fragte: „Was ist denn los?“
„Ich glaube nun subjektiv, dass du vielleicht ein Mensch bist.“
Lu Feng drehte sich um und ging hinaus. An Zhe folgte ihm schweigend, ohne ein Geräusch machen zu wollen. Wie zu erwarten war, hatte der Schiedsrichter ununterbrochen, ständig, immer vermutet, dass er kein Mensch war.
Als sie wieder auf der Straße waren, klingelte Lu Fengs Kommunikator, und die Stimme des Arztes kam aus dem Inneren: „Der Detektor wurde in den Prozess der Prüfung am Stadttor integriert und die Emotionen der Bewohner wurden bis zu einem gewissen Grad besänftigt. Der Leuchtturm wird morgen fünf weitere Instrumente herbringen lassen, aber ihre Geschwindigkeit ist bei weitem noch nicht in der Lage, mit Ihrer Geschwindigkeit mitzuhalten. Oberst, daher muss ich Sie bitten, dass Sie vielleicht morgen noch einmal zurückkehren müssen.“
„Ich weiß.“ Lu Fengs Stimme war kalt: „Ich werde tagsüber wieder da sein.“
„Ich danke Ihnen. Ruhen Sie sich heute Nacht gut aus“, der Arzt hielt kurz inne, „Jetzt, wo Direktor Howard tot ist, wie geht es weiter? In der Äußeren Stadt sind Sie der einzige Oberst, der noch Exekutivgewalt hat. Der Oberst des Büros für Stadtangelegenheiten ist ein Zivilist, und allein die Verteilung der Notvorräte reicht aus, dass ihm die Haare zu Berge stehen.“
„Das Gericht wird vorübergehend die Kontrolle über die Städtische Verteidigungsbehörde übernehmen und alle Truppen werden bis auf weiteres für die Rettungsarbeiten zugewiesen“, sagte Lu Feng.
„Nach dem Tag des Jüngsten Gerichts hoffe ich, dass der Leuchtturm uns bei der Ausarbeitung eines Plans helfen kann, wie wir die verschiedenen Ultraschalldispersionsgeräte wieder neu gestartet bekommen.“
Der Arzt antwortete: „Natürlich.“
Lu Feng legte auf, dann wählte er eine andere Nummer und traf Arbeitsvorbereitungen für den Strafgerichtshof. An Zhe hörte leise mit gespitzten Ohren zu. Die Worte des Schiedsrichters waren klar und präzise wie immer, und sein Tonfall war kalt und und methodisch wie immer. An diesem Abend waren viele Dinge passiert, aber Lu Feng schien immer noch derselbe Lu Feng zu sein.
An Zhe drehte sich um und sah sich sein Profil an. Nach den Worten des Arztes musste diese Person morgen zum Stadttor zurückkehren und auch dieser Mann selbst hatte stillschweigend eingewilligt, zurückzukehren.
Der junge Richter hatte gesagt, dass der Oberst mit unvorstellbaren Riesenmonstern zu kämpfen hatte - Vielleicht war Lu Feng schon daran gewöhnt.
Das einzig Ungewöhnliche, was er in dieser Nacht getan hatte, war, sich umzudrehen und seinen Posten am Stadttor zu verlassen.
Nach Beendigung des Telefongesprächs
erreichten sie das Gebäude 117. Lu Feng schien mit den Straßen noch
besser vertraut zu sein als er und die beiden erreichten die Tür zu
Nr. 14
ohne Probleme. Nachdem sie das Licht angemacht hatten, war
drinnen alles wie immer, bis auf eine Sache, die nun nicht mehr
länger neben der Wand stand.
Aber auch wenn An Zhe den Mut von zehn Männern besessen hätte, so wagte er es nicht zu fragen, wo die Schaufensterpuppe jetzt war, nachdem sie konfisziert worden war.
An Zhe fragte Lu Feng, der an der Tür stand: „Wollen Sie hereinkommen und sich setzen?“
„Nicht nötig“, sagte Lu Feng, „Geh du und ruh dich aus.“
An Zhe zögerte eine Weile, bevor er fragte: „Wohin gehen Sie dann jetzt?“
Lu Feng runzelte leicht die Stirn und schien über die Frage nachzudenken. Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens sagte er: „Ich weiß es nicht.“
Der Bildschirm des Kommunikators zeigte, dass es bereits elf Uhr nachts war. An Zhe zählte die Stunden und kam zu dem Schluss, dass der Oberst seit fast vierzig Stunden nicht mehr geruht hatte.
Er wusste, dass der heutige Vorfall dringend war und dass viele Entscheidungen nur von Lu Feng und Howard hatten geregelt werden können. Sie hatten ihr Bestes versucht, all die geflüchteten Bewohner hier in Distrikt 6 unterzubringen, aber für die Soldaten und die Mitarbeiter des Gerichts und der Städtischen Verteidigungsbehörde hatten sie vielleicht vorübergehend keine Büros oder Wohnungen, oder vielleicht gab es auch nur ganz einfache Unterkünfte in der Nähe des Stadttors, wo sie übernachten konnten.
Aber er hatte das Gefühl, dass der jetzige Lu Feng nicht unbedingt zum Stadttor zurückkehren wollte. An Zhe fühlte sich sehr zwiegespalten. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zusammen und er schürzte die Lippen.
„Was ist los?“, fragte Lu Feng.
Seine Stimme war ein wenig leise und das Licht im Korridor war sehr schummrig. Vielleicht war es eine Folge der Beleuchtung, dass seine Konturen nicht so scharf und eindringlich waren wie sonst.
An Zhe stählte sich. Denn wenn es um seine Spore ging, musste er eine bessere Beziehung zu dem Oberst aufbauen: „Wenn... wenn Sie nirgendwo hingehen können“, sagte An Zhe und hob den Kopf, um Lu Feng anzusehen, „dann können Sie auch hier bei mir bleiben.“
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Für Menschen war es sehr schwierig, Worte, die sie einmal gesprochen hatten, wieder zurückzunehmen.
Und so kam es, wie es kommen musste.
In der Gemeinschaftstoilette im fünften Stock, neben einem Waschbecken, das mit braunen Kalkflecken übersät war, vor einem Wasserhahn, hielt An Zhe eine Tasse in der einen und eine Zahnbürste in der anderen Hand, während er sich sorgfältig wusch. Er verstand die täglichen Lebensgewohnheiten der Menschen und ahmte sie jeden Tag gewissenhaft nach, aber heute war er noch gewissenhafter als sonst, weil der Oberst direkt neben ihm stand.
Nachdem er fertig war, räumte er wieder alles vorsichtig weg und sah Lu Feng an.
Lu Feng hatte sich gerade das Gesicht mit kaltem Wasser ge-waschen und ein paar kristallklare Wassertropfen hingen an den Spitzen seiner feuchten Haare wie Perlen von frisch geschmolz-enem Schnee.
An Zhe reichte ihm schweigend das Handtuch.
Lu Feng nahm es mit einem knappen Wort des Dankes entgegen.
„Gern geschehen“, sagte An Zhe.
Er glaubte, dass das, was er tat, der menschlichen Etikette entsprach, denn Dinge zu teilen war etwas, dass die Menschen üblicherweise taten.
Er hielt Lu Feng seine Tasse hin.
„Wollen Sie die benutzen?“, fragte er, „Aber ich habe nur die eine.“
Der Stützpunkt war knapp an Materialien, daher gab es eine Begrenzung für den täglichen Bedarf, der jeder Person zugeteilt wurde. Wenn man einen zusätzlichen Bedarf hatte, dann musste man auf den Schwarzmarkt und es sich selbst kaufen. An Zhe hatte nur eine Tasse und eine Zahnbürste. Außerdem gab es den Schwarzmarkt nun auch nicht mehr, also konnte er nirgendwo mehr hin, um etwas zu kaufen.
Lu Fengs Augen waren auf ihn gerichtet,
und erst nachdem er ihn etwa fünf oder sechs Sekunden lang
angesehen hatte, bewegte er sich.
An Zhe senkte den Kopf. Das
schwache gelbe Licht des Badezimmers warf einen blassgoldenen
Schimmer auf den Rand der Tasse, und Lu Feng griff mit seinen
schlanken Fingern nach dem porzellanweißen Henkel und nahm ihm die
Tasse aus der Hand. Seine rechte Hand war die, die seine Pistole
hielt, so dass er eine leichte Schwiele auf der Fingerkuppe hatte.
Als An Zhe losließ, berührten sich ihre Finger sanft bei dem
Kontakt.
Lu Feng benutzte seine Zahnbürste nicht. Er benutzte nur die Tasse, nahm Wasser und spülte dann seinen Mund mit einer Mischung aus Flüssigkeit und Zahnpasta gurgelnd aus. Danach stellte er die Tasse weg und die beiden gingen hinaus.
Es war nach elf Uhr nachts. Wäre es ein normaler Tag gewesen, dann wären das Wasser und der Strom im Bad und auf dem Korridor von der Basis schon abgestellt worden, aber der ganze Distrikt 6 war in einen Notstand versetzt worden, so dass die Wasser- und Stromsperren alle aufgehoben worden waren. Viele Menschen konnten vor lauter Aufregung nicht schlafen. Und deshalb waren, obwohl es schon spät in der Nacht war, noch andere Leute im Bad – sie wuschen entweder sich selbst oder ihre Kleidung und warfen dabei verstohlene Blicke auf die beiden. An Zhe bemerkte es und er wusste, dass Lu Feng es auch bemerkt hatte, aber den Oberst schien das nicht sonderlich zu kümmern.
An Zhe ging voran. Der Boden im Bad war feucht und hatte ein paar Pfützen, so dass er mit gesenktem Kopf gehen musste, um diese Stellen zu vermeiden.
Als sie zur Tür gingen, kam plötzlich eine schwarze Gestalt unerwartet aus der Ecke vor ihnen. An Zhe hob seinen Kopf.
„Du...“
Es war die Stimme von Josh. An Zhe machte unbewusst einen Schritt zurück und stieß gegen Lu Fengs Brust. Er sah, wie Josh ihn ansah und etwas sagen wollte, aber als er an ihm vorbei hochblickte erstarrte er an Ort und Stelle.
Auch An Zhe war halb erstarrt. Josh blockierte gerade die Tür und er konnte weder heraus noch Josh hinein.
In diesem Moment spürte er ein leichtes Gewicht auf seiner Schulter, denn Lu Fengs Finger hatten sich dort niedergelassen.
Joshs Augen waren weit aufgerissen und An Zhe konnte praktisch sehen, wie seine Pupillen flimmerten. Dann zog Josh den Kopf ein, machte einen Schritt zurück, drehte sich zur Seite und wich mit einer ehrerbietigen Haltung den beiden aus.
Lu Feng drückte mit der Hand ein wenig fester auf An Zhes Schulter und lenkte An Zhe so zur Tür hinaus, ehe er losließ.
All das geschah innerhalb eines Augenblicks. An Zhes Herz pochte wie wild und sein ganzer Körper war angespannt, aus Angst, dass Josh vor dem Schiedsrichter 'An Ze' rufen würde oder sagen würde: „Er ist nicht wie An Ze“ oder so etwas.
Doch selbst nachdem sie mehr als zehn Schritte gegangen waren, hatte Josh kein Wort gesagt. An Zhe drehte sich um und betrachtete Joshs Profil. Joshs Finger, die an seinen Seiten hingen, waren um den Saum seines Hemdes gekrallt, und seine Mundwinkel waren angespannt.
An Zhe wurde plötzlich etwas klar - an
diesem Ort war der Schiedsrichter die Autorität über Leben und Tod
eines jeden Menschen. Deshalb hatten die meisten Leute in der
Basis,
Josh eingeschlossen, Angst, dem Schiedsrichter auch nur ein
Wort zu sagen.
Sie gingen durch den Korridor und kehrten in ihr Zimmer zurück. Lu Feng fragte ihn weder, wer das war, noch was für Verwicklungen es zwischen ihm und Josh gab. Streng genommen, abgesehen von der Übernachtung im Quartier des jeweils anderen, konnten er und Lu Feng auch nur als Fremde betrachtet werden.
Nach der Rückkehr in sein Zimmer setzte sich Lu Feng an An Zhes Schreibtisch, schlug sein Arbeitsbuch auf und begann, sich Notizen zu machen. Er schrieb sehr schnell und in die Zeile für den 19.6. schrieb er:
'Tag des Jüngsten Gerichts, unzählige Tote.'
An Zhe beobachtete ihn von der Seite und stellte sich wieder einmal eine Frage - was genau war der Zweck eines solchen Arbeitsheftes?
Er sagte: „Du schreibst so wenig.“
Lu Feng schloss das Notizbuch: „Das ist für die Inspektion.“
Sein Tonfall war sehr sachlich.
„Oh“, sagte An Zhe. Dann fügte er hinzu: „Ich gehe mich umziehen.“
„Hm“, antwortete Lu Feng.
An Zhe zog seine Tageskleidung aus. Er hatte ein sehr weiches weißes Baumwollnachthemd. Nachdem er sich umgezogen hatte, kroch er unter die Bettdecke und schlief auf der Seite des Bettes, die näher an der Wand war. Obwohl die Zimmer des Stützpunkts nur über ein Standard-Einzelbett verfügten, war das Bett keineswegs schmal - er konnte sich sogar darauf wälzen.
An Zhe vermutete, dass dies vielleicht daran lag, dass der Stützpunkt viele schwerfällige Söldner beherbergte, die eine Menge Platz einnahmen.
Nachdem er sich also hingelegt hatte, bot das Bett mehr als genug Platz, um eine weitere Person unterzubringen. Daher sah er Lu Feng an und sagte: „Ich wäre dann soweit.“
Er entdeckte, dass Lu Feng auf seinem Schreibtisch den Prüfungsratgeber betrachtete. Lu Feng fragte: „Du wolltest zum Versorgungsdepot gehen?“
„Mm-hm“, antwortete An Zhe.
Es war schade, dass es nun so aussah, als würde er nie dahin gehen können, wenn die Äußere Stadt nun ständig von Ungeziefer besetzt sein würde.
„Geh morgen Nachmittag zum Büro für Stadtangelegenheiten“, sagte Lu Feng, „In den letzten Jahren gab es viele Neugeborene und zu wenig Personal in der Hauptstadt, deshalb wurde das Büro für Stadtangelegenheiten damit beauftragt, Leute aus der Äußeren Stadt zu rekrutieren.“
Während er sprach, erhob er sich von seinem Stuhl, zog seinen Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne, bevor er auf An Zhe zuging. An Zhe wusste, dass diese grünen Augen ihn prüfend musterten.
Dann hörte er, wie Lu Feng fortfuhr: „Auch wenn du zu sonst nichts zu gebrauchen bist, so kannst du dich wenigstens um die Kinder kümmern.“
An Zhe wollte seine Aussage widerlegen, aber er stellte fest, dass er eigentlich keine Möglichkeit hatte, dies zu tun. Er fühlte sich sehr beschämt und bedeckte sich mit der Bettdecke.
Er hörte, wie Lu Feng ein Lachen ausstieß, und dann kippte die Seite des Matratze nach unten, während Lu Feng ins Bett stieg.
Der kühle Geruch war ganz nah und er konnte das Geräusch von Lu Fengs Atem hören. Die Dinge, die heute geschehen waren, waren wie ein Traum. Als Xenogenic war er im Begriff eine Nacht mit dem Schiedsrichter zu verbringen.
„Also“, murmelte An Zhe, während er unter der Bettdecke hervorlugte, „vermutest du immer noch, dass ich objektiv kein Mensch bin?“
„Du hast die genetische Untersuchung und die dreißigtägige Beobachtungszeit bestanden“, Lu Fengs Gesicht war ausdruckslos, „Auch objektiv bist du jetzt ein Mensch.“
„Was ist die Beobachtungszeit?“
„Nachdem sie infiziert wurden, verlieren die Infizierten innerhalb von dreißig Tagen ihren menschlichen Verstand. Daher beobachten wir Verdächtige über diese Zeitspanne, ob sie ein Xenogenic sind oder nicht“, sagte Lu Feng.
„Dann... gibt es auch Xenogenics, die ihren Verstand nicht verlieren?“, fragte An Zhe zaghaft, „Also... sie wären zwar Xenogenic, hätten aber immer noch eine menschliche Gestalt und menschliche Gedanken. Sie hätten nur eine zusätzliche Fähigkeit, wie... das sie sich in andere Lebewesen verwandeln können.“
Er wusste, dass er ein Xenogenic war, aber er wusste auch, dass er weiterhin bei klarem Verstand war.
„Glaubst du, dass die Willenskraft der Menschen so stark ist?“, fragte Lu Feng .
An Zhe wusste nicht, was er antworten sollte, aber es schien, dass Lu Feng auch gar nicht mit einer Antwort von ihm rechnete.
„Eigentlich brauch man da gar nicht lange drüber zu reden. Der Leuchtturm hat viele Experimente dazu durchgeführt“, sagte Lu Feng, „Es wurde festgestellt, dass die Menschen den Überlebensinstinkt der Xenogenics nicht überwinden können. Im Gegenteil,... die Xenogenics verdauen allmählich die menschliche Denkfähigkeit und nutzen sie für ihr eigenes Überleben. Nehmen wir zum Beispiel die heutigen Käfer. Der Untersuchungsbericht des Leuchtturms ist noch nicht erschienen, aber ich bin mir verdammt sicher, dass es sich um vorsätzliche Angriffe handelte.“
Langsam öffnete An Zhe seine Augen weit. Dies war das erste Mal, dass Lu Feng so viel gesprochen hatte, und das Gewicht seiner Worte war sehr schwer.
Er sagte, dass der spezifische Wille, der den Menschen zum Menschen machte angesichts der Genfusion nicht der Rede wert sei, und dass der Mensch eine sehr schwache Kreatur ist.
„Ich denke, das ist nicht richtig.“
Nachdem er subjektiv und objektiv als Mensch betrachtet wurde, fühlte sich An Zhe viel wohler. Zumindest wagte er es, sich mit Lu Feng ein wenig mehr zu unterhalten: „Wenn ihre Willenskraft sehr stark...“
„Das hängt nicht von der Stärke ab, es gibt kein 'wenn'...“
An Zhe runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach: „Zum Beispiel, wenn du infiziert wärst -“
Prompt deckte Lu Feng ihn mit der Bettdecke zu.
„Ich würde sofort Selbstmord begehen“, sagte Lu Feng eiskalt, „Und jetzt schlaf.“
An Zhe dachte, dass der Schiedsrichter vielleicht schläfrig geworden war und nicht mehr bereit war, mit ihm über Unsinn zu reden. Tatsächlich war er selbst auch schläfrig. Alles in allem hatte Lu Feng vierzig Stunden lang nicht geruht, und er selbst hatte gestern früh nur zwei oder drei Stunden in Lu Fengs Zimmer geschlafen. Praktisch in dem Moment, in dem er die Augen schloss, übermannte ihn der Schlaf.
Als An Zhe wieder aufwachte, war er sich einen Moment lang nicht sicher, wie viel Uhr es war. Er setzte sich im Bett auf. Das ganze Zimmer war immer noch so wie letzte Nacht, nur ein schwacher Lichtstrahl, der durch den Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer fiel, wie ein schwacher Strahl Sonnenlicht, der durch die Pflanzenschichten des Abgrunds dringt. Nachdem er die Vorhänge geöffnet hatte, war der Raum immer noch sehr düster, da es draußen bewölkt war. Er setzte sich wieder auf das Bett, nahm den Kommunikator heraus und schaute ihn an. Es war bereits 11 Uhr vormittags. Plötzlich spürte An Zhe, dass er etwas vergessen hatte.
Mit einem Ruck wachte er vollständig
auf und schaute zuerst auf
das Bett - da war überhaupt nichts,
nur er allein, und dasselbe galt auch für das Zimmer.
Dann entdeckte er ein Stück Papier,
das auf dem Tisch lag,
und neben dem Papier lag ein
Kugelschreiber.
An Zhe stand vom Bett auf, ging zum Tisch und nahm den Zettel in die Hand. Es war das Flugblatt 'Widerstand gegen die Brutalität des Schiedsrichters'. Es war umgedreht worden und auf der Rückseite standen ein paar Worte in schwarzer Schrift.
Ich bin weg.
Ruf
an, wenn etwas ist.
Lu
Aus irgendeinem Grund lächelte An Zhe. Er dachte, dass Lu Fengs Notiz genauso war wie das Arbeitsheft des Mannes, kurz und bündig formuliert.
Nachdem er den Zettel weggelegt hatte, ging er zum Kleiderschrank und suchte sich Kleidung für das Büro der Stadtverwaltung aus.
Er dachte sehr lange nach und entschied sich schließlich für einen grauen Pullover und zog ihn an.
An Zhe hob den Kopf und schaute nach draußen. Der Himmel und das Licht waren beide hellgrau und die Luft wirkte sehr diesig und schien schwer an den Dächern der Gebäude zu hängen. Dicke graue Wolken, die sich in Klumpen zusammenballten und über die Grenzen der Stadt hinaus bis zum Horizont sichtbar waren prägten das Bild. Es sah aus, als würde es bald regnen.
An Zhe war sehr glücklich, denn Pilze mochten Regentage.
Außerdem hatte Lu Feng ihm gestern diese Information mitgeteilt.
Wenn er also die Rekrutierung der Stadtverwaltung bestand, konnte er in die Hauptstadt gehen – und dort befand sich der Leuchtturm. Es schien, als sei er einen Schritt näher gekommen, seine Spore zurückzubekommen.
Er beschloss, sich nicht mehr mit der Frage zu befassen, ob Lu Feng seine Spore damals ausgegraben hatte.
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