11.
"Wenn Gott über das gemeine Volk richtete, waren Gut und Böse die Grundlage für sein Urteil."
AN ZHE wurde mit dem Kopf in den
Uniformmantel eingewickelt hinausgeführt, nachdem Lu Feng die Tür
aufgetreten hatte.
Natürlich kamen auch Poet und Herr Shaw mit –
aber sie wickelten sich ihre Köpfe selber ein.
Lu Feng hatte einen kleinen Ultraschall-Störsender zum Gebäudeeingang gebracht und damit vorübergehend einen Raum mit einem Umfang von etwa zehn Metern geschaffen. An Zhe wurde sicher im Auto verstaut und auch Poet und Herr Shaw kletterten ebenfalls ins Auto, und die drei quetschten sich gemeinsam zum Forscher auf den Rücksitz.
Lu Feng kehrte auf den Fahrersitz zurück und sagte: „Wir sind hinten über der Zuladungskapazität.“
An Zhe spürte irgendwie, dass der Schiedsrichter es wieder auf ihn abgesehen hatte.
Jedoch ergriff Herr Shaw diesmal die Initiative und sagte: „Ich melde mich! Ich bin nämlich keine Person im eigentlichen Sinne, daher kann hier hinten überhaupt keine Überlastung vorliegen.“
„Oh“, sagte Lu Feng. Er tätigte einen Anruf: „Der Rettungsplan mit den Ultraschall-Störsendern ist umsetzbar. Ich empfehle eine groß angelegte Organisation der Verlegung aller Bewohner.“
Die Stimme von Howard kam von der anderen Seite: „Eine Verlegung in den unterirdischen Schutzraum?“
Lu Feng erwiderte: „Ich begebe mich zuerst in den Schutzraum von Distrikt 8, um mich vor Ort zu vergewissern, dass es dort sicher ist.“
„Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.“
Lu Feng startete den Motor und ihr Auto fuhr um eine Kurve und in Richtung Distrikt 8.
Unterwegs klingelte Lu Fengs Kommunikator ununterbrochen. Gerade als die Städtische Verteidigungsbehörde einen Notruf abgesetzt hatte, forderte auch Distrikt 5 Verstärkung an, und kurz nachdem Distrikt 5 Verstärkung zugesagt worden war, rief das Gericht an und teilte mit, dass die Arbeitskräfte nicht ausreichen würden.
Am Ende hatten Lu Fengs Antworten alle sehr roboterhaft geklungen: „Bitte wenden Sie sich an die Städtische Verteidigungsbehörde.“
„Bitte wenden Sie sich an die Städtische Verteidigungsbehörde.“
„Bitte wenden Sie sich an die Städtische Verteidigungsbehörde.“
„Sie haben bisher einen guten Job gemacht, bitte wenden Sie sich an die Städtische Verteidigungsbehörde.“
„Lu Feng, du verdammter...“, diesmal war die andere Partei Howard, der Oberst der Städtischen Verteidigungsbehörde. Lu Feng legte sofort auf.
Aber nachdem er aufgelegt hatte, runzelte er leicht die Stirn und fragte den Forscher, der nun wegen der Überladung zu ihm nach vorne auf den Beifahrersitz geklettert war: „Haben Sie bislang eine Nachricht von Distrikt 6 erhalten?“
„Ich glaube nicht“, antwortete der Forscher.
Lu Feng wählte eine Nummer: „Distrikt 6?“
„Hallo, hier ist das Büro für städtische Angelegenheiten von Distrikt 6. Darf ich fragen...“
Die Stimme der Telefonistin war so ruhig, dass sogar An Zhe überrascht war.
Lu Feng runzelte noch mehr die Stirn: „Prozessgericht, Lu Feng. Wie stehen die Dinge im Distrikt 6?“
Die andere Partei hielt inne: „Alles ist normal in Distrikt 6. Haben Sie irgendwelche...“
Lu Feng unterbrach sie erneut: „Alles ist normal?“
„Ja.“
Lu Feng legte langsam auf und sah dann den Forscher an. Der Forscher war zunächst verblüfft, aber dann konnte er seine Aufregung in der Stimme nicht mehr verbergen: „Dafür gibt es nur eine Erklärung: die Notfallprozedur für das Ultraschall-dispersionsgerät von Distrikt 6 konnte noch erfolgreich gestartet werden!“
„Wow“, reagierte Poet trocken.
Lu Feng wählte erneut eine Nummer: „Prozessgericht, Lu Feng. Bitte bestätigen Sie noch einmal, dass in Distrikt 6 alles normal ist. Bitte bestätigen Sie, dass das Ultraschalldispersionsgerät normal funktioniert.“
„Ich bestätige, dass hier alles normal ist“, die Stimme des Vermittlers enthielt nun sogar einen Hauch von Unsicherheit, „Herr Oberst, ist etwas passiert?“
„Ja“, die Antwort von Lu Feng war
kurz und direkt, „Zieht sofort alle Isolationsmauern hoch,
bestätigt die Materialvorräte und
bereitet euch darauf vor,
andere zu beherbergen.“
„Ja, Sir!“
„Howard. Die Situation hat sich geändert. Lassen Sie die gesamte Stadt in Distrikt 6 Schutz suchen.“
„Okay“, kam es von der anderen Partei, „Die Städtische Verteidigungsbehörde wird die Rettung und den Transfer der Menschen übernehmen.“
„Verstanden“, sagte Lu Feng, „Das Gericht wird für die Überprüfung der Menschen verantwortlich sein.“
„Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.“
Nachdem das Gespräch beendet war, wählte Lu Feng erneut eine Nummer und An Zhe bemerkte, dass die Zahlenkombination ungewöhnlich kurz war.
„Hauptstadt. Zentrum Mitte. Hallo, Oberst Lu.“
„Prozessgericht, Lu Feng. Bitte um Durchführung für die ganze Äußere Stadt.“
„Bitte geben Sie die erwartete Sterblichkeit und Dauer dieser Durchführung an.“
Lu Feng schwieg drei Sekunden lang, bevor er sagte: „Sechzig Prozent, fünf Tage.“
„Bitte warten Sie.“
„Er will die ganze Stadt testen...“, An Zhe hörte Poet neben sich murmeln, „Ist das nicht...“
Herr Shaw blickte geradeaus, während er sagte: „Der Tag des Jüngsten Gerichts.“
Fünf Minuten später ertönte eine
Stimme aus dem Kommunikator:
„Erlaubnis zur Durchführung
erteilt.“
„Verstanden.“
Der Wagen wendete und fuhr in Richtung Distrikt 6.
Auf dem ganzen Weg dorthin bemerkte An Zhe, dass Lu Feng ungewöhnlich schweigsam war.
Als sie auf die Straße von Distrikt 5 kamen, parkte eines der gepanzerten Fahrzeuge der Städtischen Verteidigungsbehörde vor einem Gebäude. Ein hässliches Ultraschallgerät war vorübergehend darauf installiert worden und die Soldaten retteten gerade die Bewohner des Gebäudes.
Lu Feng hielt hinter diesem Panzer an
und öffnete die Autotür:
„Ich treffe mich nun mit dem
Prozessgericht, um mich auf den Tag des Jüngsten Gerichts
vorzubereiten“, sagte er, „Ihr alle geht nun mit der Städtischen
Verteidigungsbehörde mit.“
An Zhe konnte dem Befehl des Schiedsrichters nur blindlings gehorchen. Erst als die Soldaten der Städtischen Verteidigungs-behörde ihn mit den anderen in das gepanzerte Fahrzeug stopften, erinnerte er sich plötzlich daran, dass er vergessen hatte, Lu Feng seinen Mantel wieder zurückzugeben und unerwarteter Weise hatte Lu Feng auch gar nicht danach gefragt gehabt.
Es blieb nun keine Zeit mehr, nach
Lu Feng zu suchen. Mit einem dumpfen Geräusch schloss sich das
gepanzerte Fahrzeug und die Innenbeleuchtung verschwand komplett,
bevor es durch die Nacht in Richtung Distrikt 6 fuhr. In der
Dunkelheit lagen überall menschliche Leichen herum. Poet umklammerte
An Zhes Hand und An Zhes andere Hand umklammerte die Hand von Herrn
Shaws Ärmel.
Der Wagenraum bebte leicht und in der feuchtwarmen Luft kamen von irgendwoher außerhalb des Fahrzeugs Schreie.
„Hast du das gehört?“, murmelte Poet, „An diesem Tag des Jüngsten Gerichts liegt die erwartete Sterblichkeitsrate bei sechzig Prozent.“
An Zhe stieß einen bejahenden Laut aus.
„Ich bin ein bisschen erschrocken“, sagte Poet, „Aber wir werden es überleben.“
An Zhe wusste es nicht. Er war in der Tat ein wenig ängstlich. Nicht wegen dem Tag des Jüngsten Gerichts, sondern eher wegen dem Insektenstich.
Poet schien seine Steifheit zu spüren und klopfte ihm sanft auf den Rücken: „Hab keine Angst. Schlaf erst einmal.“
An Zhe gab einen leisen Laut von sich und schloss die Augen. Das leichte Schwanken des Abteils im Panzerfahrzeug machte es einem sehr leicht ins Traumland zu gelangen.
Die Welt verdunkelte sich und wurde schwerer, als plötzlich eine Szene vor seinen Augen auftauchte: Die Erde, der Wind, die verschwommene, aber weitreichende Sicht, seltsame Schwank-ungen. Das war etwas, was Menschen nicht sehen konnten. Er flog, der Wind umgab ihn, und sein Körper war sehr leicht. Wohin flog er? Er sah es... Eine verschwommene graue Stadt, von der Wärme ausging...
Mit einem Schreck wachte An Zhe wieder auf.
Er blickte stumpf in die Dunkelheit vor ihm. Die Szene von gerade eben war zu verschwommen, also wusste er nicht, was sie bedeutete. Aber er hatte ähnliche Szenen schon einmal in der Höhle im Abgrund erlebt, als seine Hyphen An Zes Blut auf-gesaugt und ihre Wurzeln in An Zes Organe und Knochen geschlagen hatten - menschliches Wissen war vor seinen Augen auf die gleiche Weise erschienen.
An Zhe schnappte leise nach Luft. Er senkte den Kopf und rieb unruhig den Daumenballen über die Spitze seines gestochenen Fingers. Im Abgrund würde kein Monster auf die Idee kommen, Pilze anzugreifen, aber gelegentlich war er auf blutige Überreste von Körperteilen einiger Kreaturen gestoßen oder hatte erlebt, wie seine Hyphen von den scharfen Dornen der Ranken gebrochen wurden, aber er war noch nie infiziert worden.
Er wusste nicht, ob er bislang einfach immer nur Glück gehabt hatte oder ob es einen anderen Grund dafür gab.
Was würde also dieses Mal passieren?
______________
Die unerwartete Ankunft des nächsten Unglücks über die Menschheit war ebenso unerwartet wie die plötzliche Verkündung der Durchführung des Prozessgerichts.
Spät in der Nacht beleuchtete schwaches, gelbes Lampenlicht den Eingang von Distrikt 6 und eine schwarze Menschenmenge bildete eine unüberschaubar lange Schlange entlang der Isolationsmauer.
Aus allen Richtungen ertönte der Flügelschlag von Insekten und man konnte sich vorstellen, wie begehrlich die Menschen außerhalb ihre Blicke auf diese sichere Stadt hinter dieser Mauer warfen, als wäre sie ein warmes Zimmer, dass die Zukunft aller nächsten Generationen absichern könnte.
Gleichzeitig ertönte das Rumpeln rollender Fahrzeugräder, die Geräusche von Panzerketten und das Vibrieren des Bodens, wenn schwere gepanzerte Fahrzeug über ihn rollten. Das Militär hatte die Bewohner der verschiedenen Wohndistrikte in einem kontinuierlichen Strom gerettet und die Transitzüge der Bahn hatten ebenfalls begonnen, Bewohner zu transportieren.
Manchmal schlich sich Ungeziefer in die Züge, aber sie waren nicht in der Lage, sich darum zu kümmern. Nachdem all diese vorerst geretteten Bewohner den Randbezirk von Distrikt 6 erreicht hatten, mussten sie sich in die Schlange stellen und auf ihren Prozess warten.
Die Schlange war ein schwarzer Strom mit einer unzähligen Anzahl von Menschen. Sie bewegten sich langsam vorwärts und nachdem sie ihre Prüfung bestanden hatten, dürften sie den sicheren Distrikt 6 betreten.
Die Roboterdurchsage hörte keinen Moment lang auf, während sie betonte: „Bitte bleiben Sie diszipliniert in der Warteschlange.“
„Bitte warten Sie geduldig“, und so weiter.
Schreie ertönten gelegentlich in der Warteschlange, wenn eine Person plötzlich mutierte, woraufhin die um die Schlange herum patrouillierenden Soldaten sofort das Feuer eröffneten. Nach einigen Schüssen ging die Menge anschließend immer von ihrer anfänglichen Unruhe in eine tödliche Stille über. Die Geschwindigkeit, mit der sie vorrückten, war sehr langsam. Niemand war bereit, sich zu bewegen, aber die Soldaten trieben sie ständig weiter.
Die Hauptquelle der Schüsse war jedoch nicht die Mitte der Warteschlange, sondern das Stadttor an der Isolationsmauer.
„Es ist schon hundert Jahre her“, sagte ein alter Mann, „Und doch ist nun der Tag des Jüngsten Gerichts wieder gekommen.“
Der neunjährige Junge, den der alte Mann an der Hand hielt, hob den Kopf und sah den Älteren ängstlich an, erhielt aber keinen Hinweis auf einen nennenswerten Trost. Die Augen des alten Mannes waren völlig leer, er festigte nur noch mehr den Griff um die Hand des Jungen.
Draußen waren es Käfer, die Menschen töteten. Sie waren vor den Käferschwärmen gerettet worden und in Distrikt 6 angekommen, wo nun Menschen die Menschen töteten.
Wenn Gott über das gemeine Volk richtete, waren Gut und Böse die Grundlage für sein Urteil. Aber vor dem Gericht hatten zwar einige Leute überhaupt nichts getan, mussten aber dennoch mit dem Tod bestraft werden.
Die Nacht vertiefte sich, und das grenzenlose Rauschen des Windes kam aus der Ferne und erinnerte an die fernen Gezeiten des Ozeans.
Mit einem Schuss fiel der Mann vor An Zhe und zwei Soldaten schleppten seinen Leichnam weg. Jeder Wohndistrikt hatte eine riesige Müllverbrennungsanlage, und jetzt wurden in ihr die Leichen verbrannt.
Ein weiterer Schuss und eine weitere Person fiel.
Die Schlange wurde immer kürzer, und die Menschen, die getötet wurden, waren zahlreicher als die Menschen, die den Prozess bestanden und die Stadt betreten dürften.
Als sich die Schlange weiter vorwärts bewegte, sah An Zhe den Aufbau dieser Prüfung.
Zunächst gab es eine streng bewachte Pufferzone. Wenn die Person bereits Mutationsmerkmale aufwies, die mit dem bloßen Auge erkennbar waren, erschossen die Soldaten sie direkt. Nachdem man diese erste Kontrolle bestanden hatte, waren vier Richter an den Seiten der Isolationstür verteilt. Jeder hatte ein Vetorecht und konnte jederzeit das Feuer eröffnen, solange sie der Meinung waren, dass diese Person kein Mensch mehr war, unabhängig davon, ob ihre Kollegen das genauso sahen oder nicht.
Die Menschen, die sie töteten, machten etwa ein Viertel aller Toten aus. Als Wirt für die Brut benutzt zu werden war anders als gebissen zu werden. Der Prozess verlief sehr langsam, und bei vielen Menschen waren die Infektionsmerkmale nicht deutlich sichtbar. Meistens schauten sie sich an und ließen die Person passieren. Dann ging die Person zu dem Ort, an dem der Blutgeruch am stärksten war, und stellte sich dem letzten Kontrollpunkt.
Lu Feng.
Seine Haltung war nicht so, dass er in aller Ernsthaftigkeit irgendwo aufrecht saß oder ordnungsgemäß gerade stand und seine Hände an den Seiten hielt. So wie sonst auch lehnte er ein wenig träge am Bogen des Tores und wirkte ein wenig so, als würde er sorglos mit der Waffe in seiner Hand spielen - allerdings war es genau diese Waffe, die in diesem Prozess die höchste und endgültige Zuständigkeit hatte.
Ein weiterer Schuss. Er hatte ein zwölfjähriges Kind erschossen, dessen Augen nach dem Sturz immer noch auf ihn gerichtet waren.
Die Gesichtsfarbe eines nahestehenden jungen Richters wurde blass. Seine Kehle zuckte, er beugte sich vornüber und versuchte, sein trockenes Husten zu unterdrücken.
Lu Feng warf einen flachen Blick in
diese Richtung: „Tauscht ihn
aus.“
Die Soldaten trugen den Richter weg, und in der kurzen Zeit-spanne, die für den Austausch benötigt wurde, wurde niemand verurteilt. Gekleidet in weiße Hemden traten die Mitarbeiter des Büros für Stadtangelegenheiten vor und gaben jedem Richter eine Flasche mit Eiswasser, in das grüne Minzblätter eingeweicht waren. Aber Lu Feng wollte keine Flasche haben.
Weniger als eine Minute später nahm ein neuer Richter den Platz des alten Richters ein und die Verhandlung begann von neuem. Herr Shaw und Poet schoben und zerrten, keiner von ihnen wollte der Erste sein, der weitergeht. Am Ende wurde An Zhe von ihnen nach vorne gedrückt.
Die Soldaten sahen ihn an und zeigten mit einer Geste, dass An Zhe weiter nach vorne gehen sollte. Die vier Richter sahen ihm kurz in die Augen und ließen ihn dann ebenfalls passieren. An Zhe ging auf Lu Feng zu und der Schiedsrichter schaute ihn mit seinen grünen Augen an. Unter dem Lampenlicht waren sie leicht verfinstert und völlig emotionslos, ähnlich wie an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten.
An Zhe senkte leicht den Blick.
Zufälligerweise war es erst einen Monat her, dass er in die Menschenbasis kam, aber es war bereits sein viertes Mal, dass er sich der Schiedsrichter-Überprüfung stellen musste.
Erst heute Morgen hatte ihn ein Käfer in die Hand gestochen, aber abgesehen von einigen kurzen seltsamen Bildern in seinem Traum war ihm nichts geschehen.
Wenn nicht einmal Lu Feng irgendwelche Probleme erkennen konnte...
Gerade als er diesen Gedanken hatte, sah er, wie Lu Feng seine linke Hand hob und sie dann leicht senkte - eine Geste, die anzeigte, dass er bestanden hatte.
Er seufzte erleichtert auf und ging hinein - Lu Fengs Kleidung und Notizbuch waren noch bei ihm, aber in diesem Fall war es unangebracht, sie Lu Feng zurückzugeben, wenn er sich in einem solchen Zustand befand.
Am Eingang des Durchganges in die Stadt blieb er stehen. Vor ihm standen die großen Lastwagen des Militärs. Wenn sich die Menschen platzsparend zusammenquetschten, dann konnte ein einziges Fahrzeug sechzig oder siebzig von ihnen fassen. Die Menschen, die die Stadttore passiert hatten, konnten sich nun entscheiden, dort einzusteigen.
Nachdem sich das Fahrzeug gefüllt hatte, brachte das Militär sie zu den Unterkünften - einigen leerstehenden Wohngebäuden. Wenn schließlich auch die leerstehenden Wohngebäude gefüllt waren, wurden sie den regulären Gebäuden zugewiesen, wo sie sich die Zimmer mit den ursprünglichen Bewohnern teilen mussten. Alles in allem standen also noch ausreichend Plätze zur Verfügung.
Und wenn eine Person ursprünglich aus dem Distrikt 6 kam und dort wohnte oder Freunde oder Verwandte in Distrikt 6 hatte und er dort wohnen konnte, dann dürfte sie sich von nun an selbständig bewegen.
Bevor eine Minute vergangen war, kamen Herr Shaw und Poet einer nach dem anderen.
„Puh“, sagte Herr Shaw, „Ich habe überlebt.“
„Es wurde bestätigt, dass wir nicht infiziert worden sind, als uns der Schiedsrichter in der Städtischen Verteidigungsbehörde rettete, und auf dem Weg hierher sind wir die ganze Zeit im Auto gewesen“, sagte Poet mit einem Lächeln, „Das wir durchkommen war doch vollkommen selbstverständlich!“
Herr Shaw warf ihm einen Seitenblick zu: „Wer war dann eben derjenige, der sich beinahe ins Hemd gemacht hätte vor Angst, als Erster verurteilt zu werden?“
Poet sagte: „Keine Ahnung, wen du meinst.“
Herr Shaw klopfte An Zhe auf die Schulter: „Wo ist dein zu Hause? Ich muss einen Platz zum Schlafen finden. Ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen.“
An Zhe sagte: „Ich gehe nicht nach Hause.“
Herr Shaw runzelte die Stirn: „Was willst du denn dann tun?“
An Zhe zeigte auf die Kleidung, die er trug: „Ich warte darauf, dass er frei ist, damit ich ihm das zurückgeben kann.“
„Ich vergaß, dass ich unter diesen Umständen gar nicht mit zu dir nach Hause gehen kann“, Herr Shaw tätschelte seinen Kopf, „Macht nichts“, sagte er, „dann gehe ich mir auch eine Geliebte suchen.“
An Zhe sah seinem Lehrherrn nach und konnte einen Moment lang nicht verstehen, warum er das Wort 'auch' benutzt hatte.
Dann hörte er Poet sagen: „Herr Shaw hat sein Geschäft im dritten unterirdischen Stockwerk seit so vielen Jahren, dass mindestens neunzig Prozent der pornografischen Bücher und Filme auf dem Stützpunkt aus seinem Laden stammen. Es heißt, dass als er noch jung war, er unzählige Liebhaber gehabt hätte.“
An Zhe stellte fest, dass sein Meister anscheinend wirklich sehr berühmt war. Er fragte: „Kennen ihn hier alle?“
„Die Basis ist nur so groß“, sagte Poet mit einem Lächeln und hielt dabei Daumen und Zeigefinger nur einen kleinen Spalt voneinander entfernt hoch.
„Wer hier weiß nicht, was Herr Shaw macht? Aber als er älter wurde, war er nicht mehr so produktiv“, erklärte Poet weiter.
„Apropos dritter Stock,... ich dachte gerade wieder an Doussay. Du hast sie doch sicher schon einmal gesehen, oder? Doussay war die schönste Frau der gesamten Äußeren Stadt.“
An Zhe nickte.
Poet seufzte: „Ich weiß nicht, wo sie im Moment ist. Wenn sie tot ist, würde es mir sehr leid tun.“
An Zhe sagte nichts.
Poet war im Gefängnis eingesperrt gewesen, deshalb wusste er natürlich nicht, dass die Chefin des dritten Stocks des Schwarzmarktes bereits im Vorspiel der Brutsaison gestorben war.
Aber als er Poets leicht lustlosen Ausdruck sah, schien An Zhe plötzlich etwas verstanden zu haben.
Ein Mensch würde beim Tod eines anderen Menschen Trauer empfinden, und das war ein Gefühl, das nur Menschen hatten. Vielleicht war dies einer der Gründe, warum die Menschen mehr Angst vor dem Tod hatten als andere Lebewesen.
„Du hast schon wieder diesen Ausdruck“, sagte Poet.
An Zhe fragte leise: „Welchen denn?“
„Das alles, was hier geschieht, nichts mit dir zu tun hat. Als wärst du nur ein Zuschauer von außen.“
Poet stützte einen Ellbogen auf An Zhes Schulter und sagte sanft und mit oberflächlichem Ton: „Du scheinst uns entweder zu beobachten oder Mitleid mit uns zu haben. Vorhin gab es eine Sekunde, in der ich eine Art Göttlichkeit von dir hab ausgehen sehen.“
An Zhe blinzelte und verstand nicht ganz.
Vielleicht war er tatsächlich anders als die Menschen. Immerhin war er ein Xenogenic.
„Aber jetzt ist es weg“, Poet blies ihm ins Ohr, „Jetzt siehst du eher aus wie ein kleiner Einfaltspinsel.“
An Zhe war sprachlos.
Poet klopfte ihm auf die Schulter: „Ich werde jetzt auch gehen.“
„Wohin gehst du?“, fragte An Zhe.
„Wohin auch immer mich mein Weg führt“, sagte Poet, „Die Städtische Verteidigungsbehörde ist zu beschäftigt, um mich zu fangen, also werde ich meine Flucht aus dem Gefängnis nutzen.“
Er lächelte An Zhe an: „Auf Wiedersehen.“
An Zhe sah zu, wie seine Gestalt in der grenzenlosen Nacht verschwand. Poet war ein Gefangener, den die Städtische Verteidigungsbehörde eingesperrt hatte. Wohin er ohne Kommunikator oder Ausweis gehen konnte, wusste An Zhe nicht. Vielleicht wird er seinen Freund suchen, dachte An Zhe. Oder vielleicht sucht er andere Leute, denen er die Geschichte von der Errichtung des Stützpunkts erzählen konnte, und dann, spätestens nach drei Tagen, würde ihn die Städtische Verteidigungsbehörde wieder einfangen.
Nachdem Poet gegangen war, stand nur
noch An Zhe allein am Fuß der Mauer. Es war ein offener Raum, und er
war nicht die einzige Person, die sich dort aufhielt. Es gab immer
noch viele Leute, die sich in der Nähe unterhielten, und auch in der
Ferne hatten sich einige Leute versammelt, aber er wusste nicht,
was
genau sie da taten.
Die vorübergehend errichtete Isolationsbarriere war niedrig und lichtdurchlässig, so dass er Lu Fengs Rückenansicht von hier aus sehen konnte.
Das Polarlicht drehte und bewegte sich am Himmel. Jede Nacht war die Farbe des Himmels anders als in der vorherigen Nacht. Vor den Toren der Stadt wurden ständig Leichen weggeschleppt, aber es kamen nur noch sehr wenige Menschen hinein. Gewehrschüsse und der Tod schienen die einzigen Dinge zu sein, die ewig währten.
Der stürmische Nachtwind wehte den Gestank von Blut heran. An Zhe konnte den Gesichtsausdruck von Lu Feng nicht sehen. Er fand nur, dass eine solche Rückansicht sehr gut aussah und sehr... einsam wirkte.
Ein Mensch würde Trauer über den Tod eines anderen Menschen empfinden, aber würde der Schiedsrichter Trauer um die Menschen empfinden, die er getötet hatte? Vielleicht hatte er sich bereits daran gewöhnt.
Schritte kamen von hinter ihm.
„Wie kommt es, dass du hier bist?“, es war eine vertraute Stimme. An Zhe drehte sich um und sah, dass es der junge Richter war, der oft an der Seite von Lu Feng war. In der Hand hielt er eine Flasche mit Minzwasser, seine Gesichtsfarbe sah nicht gut aus, aber der Ausdruck darauf war immer noch sehr sanft: „Willst du nicht nach Hause gehen?“
An Zhe nickte.
„Ich wollte dem Oberst seine Sachen zurückgeben“, er zog den Mantel aus, „Können Sie das für mich weitergeben?“
Der Richter lächelte leicht: „Willst du nicht auf ihn warten?“
An Zhe dachte, dass er den Mantel des Obersts nur einmal getragen hatte, aber alle schienen stillschweigend zu denken, dass sie irgendeine Art von Beziehung hätten.
„Der Oberst und ich... Wir kennen uns nicht besonders gut.“
„Ich weiß“, die Antwort des Richters entsprach nicht seinen Erwartungen, „Es ist nur so, dass ich den Oberst noch nie mit anderen Leuten gesehen habe.“
Er streckte seine Hände aus: „Dann gib ihn mir.“
Nachdem An Zhe sich vergewissert hatte, dass das Arbeitsheft und der Kugelschreiber noch in den Taschen vorhanden waren, faltete er den Mantel auf eine einfache Weise und reichte ihn weiter. Der Richter nahm ihn mit beiden Händen entgegen, und seine schönen Wimpern senkten sich leicht.
„Der Oberst arbeitet schon sehr lange“, murmelte er, „Willst du wirklich nicht auf ihn warten?“
Genau in diesem Moment veränderte sich das Polarlicht am Himmel abrupt und erleuchtete den Himmel und die Erde wie ein Blitz.
An Zhes Herz pochte, und eine unwiderstehliche Intuition überkam ihn. Unfähig, sich zurückzuhalten, blickte er auf die Stadttore und auf Lu Fengs Gestalt, diese große, aber dennoch so einsame Gestalt in der Nacht.
Plötzlich wurde ihm klar, dass er, wenn er jetzt ginge, er für den Rest seines Lebens keinerlei Verbindung mehr zu dieser Person haben würde. Er griff noch einmal nach dem Mantel. Der Richter schaute ihn an.
„Ich... ich werde auf ihn warten“, sagte An Zhe.
Der Richter lächelte ihn sanft an, entfaltete den Mantel und drapierte ihn noch einmal über ihn: „Ich danke dir.“
An Zhe blickte zurück auf Lu Fengs Gestalt. In der kurzen Zeitspanne ihres Gesprächs hatte Lu Feng zwei weitere Menschen getötet.
Er fragte: „Wann wird er sich ausruhen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte der Richter, „Vielleicht irgendwann in den nächsten zwei bis drei Stunden.“
„Danke“, sagte An Zhe.
Aber er hörte, wie der Richter fragte: „Woher kennst du den Oberst?“
An Zhe dachte zurück.
„Von vor den Toren der Stadt, nehme ich an“, er übersprang einfach die Möglichkeit der ersten Begegnung aufgrund seiner Spore, „Er hatte den Verdacht, dass ich kein Mensch bin, also hat er mich eine genetische Untersuchung durchführen lassen, und ich habe sie bestanden.“
Der Richter hob die Augenbrauen.
An Zhe fuhr fort: „Danach hat er mich verhaftet.“
Die Augen des Richters verdrehten sich, während er breit lächelte: „Ich weiß. Das ihr so etwas gewagt habt, war wirklich sehr mutig.“
An Zhe war sprachlos.
„Dann war es bei der Städtischen Verteidigungsbehörde. Ich habe ein bisschen Angst vor der Kälte, also hat er mir sein Zimmer für eine Nacht geliehen.“
An Zhe zählte an seinen Fingern weiter: „Und dann waren meine Freunde und ich in einem Zimmer gefangen und wussten nicht, was wir tun sollten, also habe ich ihn angerufen, und jetzt sind wir hier.“
Nachdem er geendet hatte, fragte er: „Hilft der Oberst in normalen Zeiten auch oft den anderen?“
Wenn das der Fall war, dann war Lu Feng tatsächlich ein guter Mensch.
„Ich weiß es nicht. Es gab bislang keine anderen an seiner Seite“, sagte der Richter.
Nach einer Weile sprach er wieder: „Manchmal möchte ich auch einfach nur die Leute beschützen. Aber ich habe nie die Gelegenheit dazu, denn niemand bittet jemanden vom Gericht um Hilfe.“
An Zhe schürzte die Lippen und sagte: „Sie sind ein sehr freundlicher Mensch.“
Dann fügte er hinzu: „Sie wirken gar nicht wie ein Richter.“
Das Temperament dieses Richters konnte - selbst unter all den Menschen, die An Zhe bislang gesehen hatte - als sehr sanftmütig bezeichnet werden.
Der Richter lächelte: „Viele Leute sagen das. Vielleicht sind nur Leute wie der Oberst für diese Arbeit qualifiziert.“
„Es scheint so“, sagte An Zhe.
Er dachte, dass Lu Fengs kaltes Temperament vielleicht gerade der Grund dafür war, dass er in der Lage war, die meisten treffendsten Urteile zu fällen.
„Dieses Jahr ist das siebte Jahr, in dem der Oberst für das Gericht arbeitet“, sagte der Richter, „Zu unterscheiden, ob jemand zu einer anderen Spezies gehört, die sich rein äußerlich gar nicht von einem Menschen unterscheidet, ist wirklich das Schwierigste, was es auf der Welt zu tun gibt. Manchmal macht man Fehler und dadurch gibt es manchmal versehentliche Tötungen. Wenn ein Richter ein Urteil fällt, kann der Schiedsrichter ihm sagen, ob er Recht hatte oder nicht, aber es gibt niemanden, der ihm sagen kann, ob er Recht hatte oder nicht, ob er richtig oder falsch lag. Was er zu bekämpfen hat, sind unvorstellbare Riesenmonster, versteckte Xenogenic, die Zweifel der anderen Menschen... und auch die Zweifel gegen sich selbst. Deshalb denke ich, dass es außer seiner Gleichgültigkeit, auch noch andere Dinge geben muss, die den Schiedsrichter in den letzten sieben Jahren am Gericht unterstützt haben“, sagte der Richter, „Ich hoffe, du kannst ihn ein wenig verstehen.“
Dieser Richter lenkte das Gesprächsthema immer auf Lu Feng. An Zhe durchschaute ihn sofort. Aber dann sah er, wie der Richter die Stirn leicht runzelte und etwas beobachtete, was nicht weit von ihnen entfernt innerhalb der Mauern stattfand.
Dort waren viele Menschen versammelt, sogar mehr als vorhin. An Zhe hatte angenommen, dass es sich um Bewohner der Stadt handelte, die gekommen waren, um das Spektakel zu bestaunen, aber ihre Mienen waren alle sehr ernst, so als wären sie gekommen, um an einer großen Versammlung teilzunehmen.
Sie unterhielten sich, aber ihre Stimmen waren sehr leise. An Zhe hörte nur ein paar leise Worte.
„Schuppen... erschreckend...“
„Viertausend Menschen.“
„...beginnen.“
Er sah, wie der Richter neben ihm seine Miene verzog und eine Geste zu den entfernten Wachen machte.
Ein Team von Wachen kam herüber, und in dem Moment, als sie es taten, löste sich die Menschentraube, die sich am Fuße der Mauern versammelt hatte, etwas auf. Es waren Hunderte von ihnen, und ihre Anzahl schien sogar noch größer zu wirken, nachdem sie sich verteilt hatten.
Außerdem strömten ständig neue Leute aus der Stadt, um sich ihnen anzuschließen.
Mitten in der Menge winkte jemand, und An Zhe erkannte, dass der Wink an ihn gerichtet war. Er blickte hinüber. Es war ein vertrautes junges Gesicht, die Person, die ihn zu Gebäude 117 gebracht hatte, als er zum ersten Mal in die Menschenbasis gekommen war.
Damals hatten sie gerade demonstriert. An Zhe wusste plötzlich, wozu diese Leute hergekommen waren und er schaute sie mit großen Augen an.
Die erste Person nahm ein gefaltetes Stück weißes Papier aus seiner Kleidung und klappte es auf. Auf dem weißen Papier standen in großen roten Buchstaben die Worte 'Gegen die Brutalität des Schiedsrichters' geschrieben.
Dann entfaltete jemand neben ihm ebenfalls sein eigenes Papier, auf dem stand: 'Veröffentlichen Sie jetzt die Prozessakten'. 'Veröffentlicht die Kriterien für den Prozess'. 'Keine Wiederholung des Jüngsten Gerichts'. 'Gebt den Toten eine Erklärung'. 'Wir lehnen ungerechtfertigten Mord ab'. 'Sicherheit durch wahlloses Töten? - Nein danke!' 'Wir verlangen eine regelmäßige Beurteilung des mentalen Zustands des Schiedsrichters'. 'An das Gericht: Übernehmt Verantwortung für den Bevölkerungsverlust der Basis.' 'Die Tötungsrate des aktuellen Schiedsrichters übertrifft bei weitem seine Vorgänger. Wir verlangen eine Erklärung.'
Unter dem Licht der Aurora entfalteten sich diese weißen Papiere wie Blumen. Sie flossen zusammen und glichen einem leise fließenden Ozean mit einem fahlen Weiß als Hauptfarbe und den blutroten Worten als seine wogende Gischt.
Die Menschen, die sich noch außerhalb der Mauern befanden, setzten sich in Bewegung. Sie reckten ihre Hälse, ihre Blicke durchdrangen die durchsichtigen Isolationswände, um die Situation auf der gegenüberliegenden Seite besser sehen zu können.
Die stille Atmosphäre wurde plötzlich durchbrochen und sie begannen, sich leise miteinander zu unterhalten. Doch An Zhe blickte in Richtung der Stadttore. Vor den Stadttoren bewegte sich Lu Fengs Gestalt leicht und drehte sich so, dass er in die Stadt blicken konnte. Es war ein ganz gewöhnlicher Blick. Und als ob er gar nichts gesehen hätte, drehte er sich um, lud seine Waffe nach und drückte den Abzug. Eine weitere Person, ein kurzhaariges Mädchen, brach in eine Lache aus Blut zusammen.
Wenn An Zhe sich nicht irrte, war dies die elfte Person in Folge, die Lu Feng getötet hatte. Jetzt war die zwölfte Person an der Reihe. Ein Mann mit bronzener Haut blickte zwischen Lu Feng, den Richtern und der tiefen Blutlache auf dem Boden mit ängstlichen Blick hin und her und trat lange Zeit keinen Schritt vorwärts.
Bewaffnete Soldaten traten vor und trieben ihn weiter. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als er auf die Menge starrte, die sich ihm gegenüber demonstrativ aufstellte. Schließlich biss er die Zähne zusammen, schloss die Augen und setzte sich auf den Boden: „Ich gehe nicht weiter!“
Diese Bewegung wiegelte die demonstrierende Menge innerhalb der Mauern auf, und sie hielten ihre Plakate noch höher. Außerhalb der Mauern setzte sich eine zweite Person hin.
Und eine dritte.
Dann eine vierte.
Wie von einem starken Strom durchflutet, setzten sich innerhalb von fünf kurzen Minuten alle auf den Boden wie umgestürzte Dominosteine.
Niemand sprach, und keine einzige Person betrat den Untersuchungsraum. Während die Aurora am Himmel fluktuierte, schauten sie schweigend zu Lu Feng, der in der Mitte stand, und drückten sitzend ihren Widerstand aus und verweigerten die Zusammenarbeit.
Vorne war die Prüfung, und hinter ihnen waren die Insekten-schwärme. Hier sitzend, schien es, als könnten sie allem wider-stehen, was davor und dahinter war. Widerstehen und so ein ewiges Leben erlangen.
Aber Lu Fengs Gesichtsausdruck änderte sich nicht im Geringsten. Seine Augen schlossen sich leicht, während er den Kopf senkte und ein neues Magazin in seine Waffe lud. Die leicht schrägen Augenbrauen dieses Mannes und die länglichen Augen besaßen eine natürliche Kurve. Normalerweise war ihr Blick eindringlich, aber da seine Augen nun gesenkt waren, schien die Form dieser Bögen eine kalte Verachtung und Geringschätzung auszustrahlen.
Mit einem leisen Klicken wurde das Magazin geladen. Er sagte: „Bringt ihn nach vorne.“
Die Soldaten der Städtischen
Verteidigungsbehörde zögerten kurz.
Erst nachdem die Szene volle
zehn Sekunden lang stillgestanden hatte, traten zwei Soldaten vor und
hoben grob den ersten Mann, der sich hingesetzt hatte, hoch.
Lu Feng hob langsam seine Waffe.
Die Blicke aller Anwesenden blieben auf ihnen haften. Das unterbrochene Schluchzen einer Frau erklang inmitten der Menge, und dann breitete sich dieses Schluchzen aus wie ein Virus und bildete einen riesigen Ozean aus klagenden Schreien. Kein Ort war frei vom weinenden Klagen. Es war, als ob das, was sie vor sich hatten, kein Prozess, sondern ein Massaker war.
Vielleicht war das eigentliche Wesen des Jüngsten Tags des Gerichts ein Massaker. So war es auch beim ersten Mal vor hundert Jahren gewesen, und so war es auch hundert Jahre danach.
Das Geräusch von gepanzerten Fahrzeugen durchbrach die angespannte Atmosphäre. Howard, der ein Team von Wachen mitgebracht hatte, stieg aus einem Fahrzeug aus und fragte Lu Feng: „Was geht hier vor sich?“
Lu Fengs Stimme war ausdruckslos: „Die Bewohner weigern sich, zu kooperieren.“
Howard sah sich um, runzelte die Stirn und sagte in einem leicht kritischen Ton: „Lu Feng, töten Sie nicht zu viele?“
Lu Fengs Tonfall änderte sich nicht, aber seine Stimme war leicht heiser: „Nein.“
„Die heutige Situation lässt keine
Verzögerungen zu!“, Howards Adjutant reichte ihm einen
Lautsprecher und dieser wandte sich zu den Bewohnern, „Es geht um
die Sicherheit der Basis. Es kann jederzeit zu einer großflächigen
Infektion kommen, also kooperieren Sie bitte mit dem Gericht und der
Städtischen
Verteidigungsbehörde.“
Niemand rührte sich. Vielleicht war die Wahl zwischen der Infektion, die jederzeit ausbrechen könnte, und der Mündung der Waffe des Schiedsrichters vor ihnen, die letztere beängstigender.
Es war offensichtlich, dass auch Howard das Schweigen der Leute bemerkt hatte.
Nachdem sein Blick über die Transparente der Demonstration gegangen war, dachte er kurz nach und sagte: „Lasst uns beide einen Schritt aufeinander zugehen. Das Gericht wird die detaillierten Bestimmungen der Prozessordnung veröffentlichen, und die Anwohner werden wieder in diesen Prozess hier eintreten.“
„Howard“, begann Lu Feng mit flacher Stimme. Plötzlich brachen Schreie aus der Menge hervor! Denn die Mündung von Lu Fengs Waffe hatte sich langsam auf Howard gerichtet. Zunächst fassungslos, runzelte Howard dann die Stirn und sagte: „Oberst Lu, was tun Sie da?“
Howards Wachen traten alle einen Schritt vor, luden ihre Gewehre und zielten auf Lu Feng!
Es war eine Patt-Situation.
Howard stieß ein kaltes Lachen aus: „Oberst Lu, ich war den ganzen Tag draußen, aber ich schwöre, ich bin mit keinem einzigen Käfer in Berührung gekommen.“
„Sie wurden infiziert“, sagte Lu Feng.
„Ich verstehe, dass das Gericht gerne die Kontrolle über die Städtische Verteidigungsbehörde übernehmen möchte und dass das Gericht gegen die Veröffentlichung der detaillierten Bestimmungen der Prozessordnung ist“, Howards Stimme war grimmig, „Aber wir sind jetzt an einem Punkt, wo es sich entscheidet, ob die Basis überlebt oder untergeht, Oberst Lu. Sie können Ihre Macht an jedem anderen Tag missbrauchen, aber heute muss es für alles eine Grenze geben!“
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, wurde die Menge sofort unruhig .
Lu Feng legte den Finger auf den Abzug. Er sagte kein einziges Wort, aber seine Bewegungen machten deutlich, was er tun wollte.
Mit den Wachen der Städtischen Verteidigungsbehörde war es dasselbe. Ihre Bewegungen waren offensichtlicher. Ohne Frage würden sie, wenn Lu Feng das Feuer auf ihren Direktor Howard eröffnete, auch ihn sofort niederschießen.
Eine Grabesstille breitete sich aus und verdichtete sich wie Eis. In der erstickenden Stille schrie jemand innerhalb der Mauern: „Widersetzt euch der Tyrannei des Schiedsrichters!“
Sein Ruf wurde von einer Vielzahl von Menschen erwidert.
Alle - innerhalb der Mauern, außerhalb der Mauern, die, die schon da waren, und die, die neu hinzugekommen waren - riefen immer wieder auch diese Parole:
„Widersetzt euch der Tyrannei des Schiedsrichters!“
„Widersetzt euch der Tyrannei des Schiedsrichters!“
„Widersetzt euch der Tyrannei des Schiedsrichters!“
Die Stimmen kamen in Wellen, eine lauter als die andere, aber Lu Feng, der mittendrin stand, bewegte sich überhaupt nicht.
Als An Zhe auf Lu Fengs Rückenansicht blickte, vergaß er fast zu atmen.
Er kannte Lu Feng zwar nicht sehr gut, aber aufgrund dieses oberflächlichen Verständnisses wusste er, dass Lu Feng wirklich das Feuer eröffnen würde.
Er würde sterben.
Der junge Richter neben ihm murmelte ebenfalls: „Tu's nicht...“
Die Aurora flackerte plötzlich und die Atmosphäre war kalt wie Eis.
Genau in diesem Moment zerriss ein ohrenbetäubender Pfiff die schwere Nacht und überdeckte die Rufe der Menschen. Plötzlich erschien ein weißes Licht auf der fernen Straße, das ständig flackerte, während es sich näherte und die Menge wich ihm aus.
Es handelte sich um ein weißes Auto mit einem roten Dreieck auf der Karosserie und als es sich näherte, öffnete sich die Tür und ein junger Mann in einem weißen Mantel streckte seine oberen Körperhälfte aus dem Fenster. An Zhe erkannte ihn. Vor einem Monat an den Stadttoren war es dieser Arzt gewesen, der seine genetische Untersuchung durchgeführt hatte.
„Ich bin der Leiter der Inspektionsabteilung des Leuchtturms.“
Er hielt einen Lautsprecher in der Hand und holte ein paar Mal hastig Luft: „Das genetische Kopplungsmittel der ersten Generation wurde vor einer Stunde erfolgreich eingesetzt. Es kann eine schnelle Abbildung von Zielpunkten erreichen und es braucht nur ...“, außer Atem keuchte er noch etwas, bevor er sagte, „...nur noch fünf Minuten.“
Niemand rührte sich. Er sprang aus dem Auto und lief eilig hinüber. Am Eingang drehte er eine Einwegspritze auf und ging nach vorne: „Direktor Howard - wenn Sie so freundlich wären zu kooperieren.“
Howard krempelte seelenruhig die Ärmel seiner allumfassenden schützenden Militäruniform hoch und ließ sich Blut abnehmen und schaute Lu Feng mit einem Stirnrunzeln an. Auch alle anderen sahen Lu Feng an. An Zhe wusste, dass sie auf ein bestimmtes Ergebnis warteten: das Ergebnis, dass Howards genetische Untersuchung normal war, um zu beweisen, dass der Schieds-richter tatsächlich wahllos tötete.
Aus den Reihen der Demonstranten hinter ihm sagte jemand: „Wir sind dabei, die Geschichte zu verändern.“
An Zhe sah, wie Lu Feng seine Waffe senkte und sie ausdruckslos abwischte, während er sich wieder an die Wand lehnte und sich um nichts zu kümmern schien.
Worüber dachte er nach? dachte An Zhe.
Drei Minuten später, nachdem er seine Waffe abgewischt hatte, schnallte Lu Feng sie wieder an seine Hüfte und scannte die Menge mit einem leidenschaftslosen Blick. An Zhe sah ihn an, und vielleicht gab es einen Moment, in dem sich ihre Blicke für einen kurzen Sekundenbruchteil trafen.
Prompt trat An Zhe näher an den Richter heran, um seine eigene Position zu verdeutlichen. Lu Fengs Lippen schienen sich zu einem Lächeln zu verziehen, aber An Zhe konnte es nicht genau sehen, denn der Mann drehte sich in der folgenden Sekunde um.
Noch eine Minute.
Die demonstrierende Menge wurde immer unruhiger und diskutierte angeregt miteinander.
Eine halbe Minute.
Zehn Sekunden.
Sie begannen, die Sekunden zu zählen: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins -“
Das rote Licht auf dem Untersuchungswagen war entscheidend. Der ominöse Alarmton hatte eine extrem hohe Durchschlagskraft, als er abrupt ertönte: „Alarm...“
Die Menge wurde für einige Sekunden in eine tödliche Stille gerissen.
PENG!
Ein Schuss ertönte.
Lu Feng brauchte nicht einzugreifen, denn die Wachen der Stadttore hatten das Feuer eröffnet.
Eine Stille breitete sich aus, denn niemand sprach. Am Ende sagte schließlich der Arzt: „Oberst...“
Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Lu Feng um und ging in das Innere der Stadt. Er ging direkt an allen vorbei, auch an An Zhe.
Die schweigende Menge schien wie gefrorene Holzpuppen. Sie reagierten erst, als er sich ihnen genähert hatte. Sie teilten sich langsam, um einen Durchgang zu bilden.
Der Anblick seiner Gestalt in An Zhes Augen überschnitt sich mit seiner Gestalt, als er sich an diesem Tag vor einem Monat umgedreht und die Stadttore verlassen hatte. An Zhe hatte nur gesehen, wie er sich umdrehte und ging, aber er hatte ihn nie auf jemanden zugehen sehen.
Der Richter neben ihm stieß An Zhe plötzlich mit dem Ellbogen an. Sofort kam An Zhe zu einer Erkenntnis. Mit Lu Fengs Arbeitsheft in der Hand, jagte er Lu Feng hinterher - der Schiedsrichter war groß und hatte lange Beine, so dass er ihn nur im Laufschritt einholen konnte.
„Herr Oberst.“
Lu Feng antwortete nicht.
„Oberst, bitte warten Sie.“
Lu Feng antwortete immer noch nicht.
„Oberst...“, An Zhe holte ein paar Mal tief Luft. Er hatte nicht viel Kraft, und jetzt, da er gerannt war, war seine Stimme beeinträchtigt und etwas leiser geworden. Er runzelte die Stirn, als er rief: „ Bitte ein bisschen langsamer, ich kann nicht mithalten...“
Der Oberst blieb stehen und drehte sich um, um ihn anzusehen.
An Zhe war noch nicht ganz zu Atem gekommen, als er den Kopf hob: „Herr Oberst...“
„Sprich vernünftig“, sagte Lu Feng mit einem kalten Blick auf ihn, „Und hör auf zu jammern.“
An Zhe fand keine Worte mehr.
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