EPILOG 1
"LASS MICH SEHEN, WIE DU EIN WEITERES KIND ZUR WELT BRINGST."
AN ZHE versank in einem Traum.
Diese Art von Traum hatte er schon vor sehr langer Zeit geträumt - an dem Tag, an dem er Lu Feng verlassen hatte.
Manchmal, obwohl es heller Tag und er wach war, versank er plötzlich wie in Trance wieder im Traumland. Wahrscheinlich waren es die Halluzinationen eines Sterbenden, aber er erwähnte sie nicht gegenüber Pauli. Die unerklärlichen blutigen Hustenanfälle, das hohe Fieber und die verschiedenen Schmerzen hatten bereits zu viel von Paulis geistiger Energie aufgezehrt.
In dem Traum war sein Körper zweigeteilt, ähnlich wie es der Blutegel in der Vergangenheit am Wasserbecken der Äußeren Stadt getan hatte. Die eine Hälfte befand sich im Hochland-Forschungsinstitut und die andere Hälfte war an einem unbekannten Ort, frei von Schmerzen und frei vom schwerfällig gewordenen menschlichen Körper.
In dem Traum hatte er weder Augen noch Ohren, keine Nase oder irgendeine menschliche Wahrnehmungsfähigkeit. Es war dasselbe Gefühl, als wäre er gerade erst in regengetränkter Erde begraben geboren worden - Pilze hatten ihre eigenen Sinne, die nicht in menschlicher Sprache beschrieben werden konnten.
Er wusste, dass er nicht weit von Lu Feng entfernt war. Das musste eine Täuschung sein, weil er Lu Feng verlassen hatte, aber es hinderte ihn nicht daran, Lu Feng in seinem Traum näher zu kommen.
Auch dieser Traum war nicht immer
glücklich. Manchmal wurde er in einen versiegelten Behälter
gesteckt, begleitet von einer eiskalten Flüssigkeit. Und ganz am
Anfang
war es Doktor Ji, der immer an seiner Seite war, und später
war es immer Pauli, zusammen mit... vielen anderen, die kamen und
gingen.
Er hatte nichts zu tun. Wenn Lu Feng in der Nähe war, wickelte sich An Zhe um ihn herum, aber wenn nicht, saugte er die Flüssigkeit auf und dachte an sein eigenes Leben.
Diese fernen Erinnerungen stiegen an die Oberfläche – sein Leben im Boden, in der Regenzeit, im Winter und in der Basis.
Wenn er sich an bestimmte Dinge erinnerte, kam er Lu Feng ein wenig näher, und Lu Fengs Finger berührten seine Hyphen. Es schien, als hätte er es endlich geschafft, mit diesem Mann friedlich zusammenzubleiben. Er war die ganze Zeit am Rande des Wachseins, aber er wollte nicht aufwachen. In der realen Welt könnten er und Lu Feng niemals so nahe beieinander sein.
Aber als er zum hundertsten Mal an seine eigenen Erinnerungen zurückdachte, gab es keinen Traum mehr, den er träumen konnte, also beschloss er, aufzuwachen.
Er entdeckte, dass er noch am Leben war.
Wenn er jetzt an diesen Tag zurückdachte, erinnerte er sich nicht mehr an alles. Die Gefühlsschwankungen hatten ihn viele Dinge vergessen lassen.
Er erinnerte sich nur daran, dass er an der Tür stand und dass Lu Feng sich inmitten eines üppigen Frühlingsgrüns umgedreht hatte - Er sah ihm dabei in die Augen und konnte und wollte keinen Schritt weitergehen. Er hatte zu viele Träume geträumt, und zu oft hatte er versucht, den zerbrechlichen Vollmond aus dem Wasser zu schöpfen.
Bis Lu Feng auf ihn zukam.
Wenn dieser Mann nicht da war, hatte er oft geweint. Manchmal zitterte sein Herz heftig, wenn er an ihn gedacht hatte, aber jetzt, als er Lu Feng wirklich begegnete, kräuselten sich seine Lippen, obwohl er es nicht wollte.
Er streckte die Hand aus, um Lu Fengs Gestalt zu berühren. Er konnte nicht mehr sagen, ob er dünner oder hagerer geworden war - es war zu lange her. Er hatte diesen Mann schon viel zu lange nicht mehr gesehen.
Erst jetzt rutschten ihm die Tränen aus den Augenwinkeln. Er zog seine Hand zurück und schaute Lu Feng ausdruckslos an, bevor er in eine feste Umarmung gezogen wurde. Er wischte sich mit den Fingern die Tränen von den Wangen. Dann lehnte er sich an Lu Fengs Schulter, seine Stimme war heiser, während er leise immer wieder seinen Namen flüsterte.
„Ja, ich bin es“, sagte Lu Feng.
Die Leute im Laboratorium gratulierten
ihnen. Unerwarteterweise hatte Pauli einen Mann von den Toten
zurückgeholt - er konnte sich das Prinzip dahinter nicht vorstellen.
Die Leute im Labor sagten ihm eine Menge Begriffe, wie Gene,
Frequenzen, Proben und so weiter. Das war für ihn alles
unverständlich, aber die menschliche Technologie war schon immer
sehr
erstaunlich gewesen, also akzeptierte er es einfach.
Drei Jahre waren bereits vergangen, seit er in den Simpson-Käfig gesprungen war.
Auch die Außenwelt hatte sich beruhigt.
Das Zeitalter der genetischen Störungen war mit dem Läuten einer einzigen Glocke geendet und seine Frequenz war in die ganze Welt übertragen worden, und niemand konnte bislang sagen, ob dies zum Guten oder zum Schlechten gewesen war, jedoch waren alle greifbaren Dinge von der Frequenz infiziert und dadurch stabilisiert worden. Die Menschen waren immer noch Menschen, und ein Monster war immer noch eine Art von Monster. Polymorphe Mutationen konnten zwar immer noch durchlaufen werden, aber das vorherrschende Bewusstsein war immer dasjenige, das die Kontrolle hatte, während die Glocke läutete.
Warum dies der Fall war, erklärte Pauli damit, dass nach vielen Experimenten und Vergleichen die vom Simpson-Käfig ermittelte Frequenz sich einer Definition der Materie selbst annäherte.
Wenn man zum Beispiel einen Apfel und
eine Orange vor sich hatte, wusste man, dass dies ein Apfel und das
eine Orange war, aber der Apfel selbst wusste nicht, dass er ein
Apfel war, und die Orange selbst wusste auch nicht, dass sie eine
Orange war - sie selbst würden es auch nie wissen. Nur die Menschen
wussten es.
So wie die Zikaden nichts vom Frühling oder Herbst
wussten, die Asahi-Bakterien nichts von der Zukunft und die Grillen
ihr Alter nicht kannten, so war auch die Biologie des Menschen nur
eine fehlerhafte, oberflächliche Analyse der Oberfläche.
Sie hatten auch keine Möglichkeit zu wissen, was sie selbst ausmachte oder was sie als Menschen definierte – das alles war ein Rahmen, den vierdimensionale Geschöpfe nicht verstehen konnten.
Doch durch die Analyse der Elementarteilchen im Simpson-Käfig gelang ihnen jedoch kurz eine unbedeutende Widerspiegelung der Wahrheit, sie erblickten Hinweise auf die wahre Definition und erfassten dann einige bemerkenswerte Frequenzen. In dieser Sinfonie des Universums war der Mensch die Note, die am leichtesten von anderen Kreaturen destabilisiert werden konnte, während er, ein Pilz, der irgendwie sein eigenes Bewusstsein erlangt hatte, die stabile Frequenz war, die alles enthalten konnte. Als diese Stabilität der ganzen Welt geschenkt worden war, war ein kurzer Frieden eingetreten.
„Das ist Zufall“, sagte Pauli Jones, „Zufall ist Schicksal, und das Leben ist zufällig.“
Als An Zhe das hörte, hatte er gerade ein Stück geschälten Apfel von Lu Feng bekommen. Mit einem einzigen Biss sprudelte aus dem frisch gepflückten Apfel ein Saft, der süß und zugleich leicht säuerlich war. Er vergaß, was er gerade sagen wollte, und Lu Feng fütterte ihn mit einem weiteren Stück.
„Und was ist mit Orangen?“, fragte
er, „Wie schmecken Orangen?“
Lu Feng hatte gesagt: „Warte
bis zum Herbst.“
Pauli schickte sie mit ihren Äpfeln und zukünftigen Orangen nach draußen .
Auf dem Weg zurück in sein Zimmer aß An Zhe die Hälfte eines Apfels und ließ die andere Hälfte für Lu Feng. Er hatte vor, ihn für den Oberst auch in Stücke zu schneiden, aber Lu Feng ließ ihn das Messer nicht anfassen.
In solch einer Angelegenheit diskutierte An Zhe nicht mit dem Oberst, denn wenn Lu Feng nicht wäre, würde er wirklich nicht viele Äpfel schneiden wollen. Er war schläfrig, denn es war Zeit für ein Mittagsschläfchen.
Aber er konnte nicht schlafen. Er hielt ein Tablet in der Hand und scrollte nach unten. Darauf befanden sich die Dokumente, die er in den zehn Tagen seit seinem Aufwachen zusammengesucht hatte. Die elektronische Version von 'Basis Aktuell', die von Doktor Jis Computer kopierten Forschungsunterlagen, die Laborhandbücher, die er von Paulis Computer kopiert hatte, und viele andere ähnliche Dinge.
Lu Feng setzte sich an seine Seite und An Zhe drehte sich schnell weg, damit der Mann ihn nicht sehen konnte. Lu Feng kicherte leise, dann schnitt er die verbleibende Hälfte des Apfels und fütterte weiterhin An Zhe damit.
Obwohl der Apfel sehr lecker war und der Oberst sehr gut aussah, wollte An Zhe nicht, dass Lu Feng neben ihm saß, während er die Dokumente las.
Er war immer misstrauisch und dachte, Lu Feng würde auf seinen Bildschirm schielen.
Aber das Schlimme nach seinem Erwachen war, dass er entdecken musste, dass Lu Feng den Raum übernommen hatte, den er früher im Forschungsinstitut bewohnt hatte.
Alles in dem Raum war noch genauso wie vor seinem Tod, aber der Besitzer hatte sich geändert.
Er versuchte, Lu Feng dazu zu bringen, in das Zimmer nebenan zu ziehen, aber Lu Feng sagte ihm verständnislos: „Wenn du kein Zimmer mit mir teilen willst, dann kannst du auch weiterhin in dem Tank mit der Nährlösung schlafen.“
An Zhe fand keine Worte mehr.
Es waren drei Jahre vergangen. Die letzten drei Jahre hatten den Charakter dieses Mannes nicht gebessert, nicht das kleinste bisschen.
Deshalb konnte er sich nur ein Zimmer, einen Schreibtisch und ein Bett mit dem Oberst teilen.
Schließlich wurde er so paranoid, dass er nicht mehr in der Lage war, weiter zu lesen und so müde wurde, dass er schlafen musste.
„Ich habe Langeweile.“
Auf dem Bett umarmte Lu Feng ihn von
hinten und er starrte
benommen auf die weiße Wand.
Die Stimme des Obersts war wie eine Schneedecke, die gerade zu tauen begann: „Wohin möchtest du eigentlich gehen?“
„Ich wünsche...“, An Zhe starrte mit leicht verwirrtem Blick die Wand an.
Er hatte einen Ort, an den er gerne gehen wollen würde.
Und es war ein Ort, den außer ihm nur Lu Feng kannte. Er hatte es nicht einmal Pauli gegenüber erwähnt.
„Ich möchte An Ze suchen“, murmelte er.
In der Höhle, in der alles begann, warteten noch immer die Knochen von An Ze auf ihn. Er hatte An Ze viel zu sagen. Er erinnerte sich an jedes Wort, das An Ze zu ihm gesagt hatte. An Ze hatte gesagt, er sei jemand, dessen Leben keinen Sinn habe. Er wollte An Ze von den dramatischen Veränderungen in der Nördlichen Basis erzählen, und er wollte ihm sagen, was es mit der Quelle des letzten Glockenschlags auf sich hatte. Wäre er nicht Lu Feng oder An Ze begegnet, wäre das alles nicht passiert. Auf diese Weise hatte sich das Schicksal in unzähligen Zufällen hin und her gewälzt.
Aber der Abgrund war so groß, dass er ihn nicht finden konnte, und niemand wäre bereit, ihn bei seiner Suche zu begleiten, also würde es für immer ein unerreichbarer Wunsch für ihn bleiben.
„Aber ich kann ihn nicht finden“, murmelte er, „Ich kann nichts tun, und ich weiß auch nicht mehr, wo ich ihn gelassen habe.“
„Aber ich kann etwas tun“, flüsterte Lu Feng in sein Ohr, „Lass uns gemeinsam gehen und ihn suchen.“
An Zhe öffnete seine Augen weit.
Alles war wie ein Traum. Am nächsten Tag, nachdem sie sich von Pauli verabschiedet hatten, wurde ihr gepanzertes Fahrzeug von einem Transportflugzeug genau in der Mitte des Abgrunds abgeworfen. Der Besatzungskommandant war auch der Pilot der PL1109. Bevor er sich von ihnen verabschiedete, hatte er darauf bestanden, dass sie nicht vergessen sollten, auch nach Spuren von Hubbard und Tang Lan zu suchen. Seit dem Krieg, wo die Monster das Forschungsinstitut belagert hatten, galten beide als vermisst.
Das Einzige, dessen sie sich jetzt sicher waren, war, dass obwohl Tang Lan schwere Wunden erlitten hatte, er immer noch lebte - ihre Leichen waren im Umkreis von mehreren Kilometern nirgends gefunden worden.
„Ich vermute stark, dass sie sich erholen wollten, sich dann verirrt haben und dann Eier gelegt haben“, nachdem er diese Fakten zusammengetragen und eine letzte Schlussfolgerung gezogen hatte, flog der Besatzungskommandant das Transportflugzeug weg.
Lu Feng öffnete die Tür des gepanzerten Fahrzeugs und half An Zhe beim aussteigen. Der Boden war mit samtartigem Gras bedeckt, das ihnen bis zu den Knöcheln reichte.
An Zhe blickte in die Ferne. Im späten Frühling erstreckte sich das üppige Grün durch den Abgrund so weit das Auge reichte. Urzeitliche Winde schüttelten die Äste und Blätter, und die Geräusche der Vögel, die mit den Flügeln schlugen, drangen zu ihnen aus der Ferne. Er war wieder zurück an diesen Ort gekommen. Er wandte sich Lu Feng zu. Lu Feng war mit ihm hierher gekommen, was ihn noch mehr überraschte. Er fragte: „Warum bist du hierher mitgekommen?“
Lu Feng hob leicht die Augenbrauen: „Wolltest du denn nicht herkommen?“
„Wir werden lange Zeit hier sein“, sagte An Zhe, „Musst du denn nicht etwas zum Wohle der Menschheit machen?“
„Das Prozessgericht wurde aufgelöst“, Lu Feng sah ihn an, „Wenn es wieder einen Krieg gibt, oder wenn sie mich brauchen, dann werde ich zur Basis zurückkehren.“
Diese kalten grünen Augen enthielten weder Schmerz noch Hass oder sonst irgendetwas anderes. Es war, als hätte er etwas verloren, aber auch, als wäre er von einer schweren Last befreit worden.
An Zhe streckte die Hand aus und zupfte ein weiches, abgefallenes Blatt von Lu Fengs Schulter, dann fand er sich plötzlich in Lu Fengs Umarmung wieder.
„Aber jetzt möchte ich nur noch bei dir sein“, hörte er den Oberst in der Stille sagen.
„... Aber warum?“, fragte er mit leiser Stimme, während er Lu Feng ebenfalls umarmte und sein Kinn auf Lu Fengs Schulter stützte.
Er sprach seine Frage nicht deutlich aus, aber er wusste, dass Lu Feng ihn verstanden hatte. Es schien, als hätten sie beide nie viel zu sagen brauchen, aber sie verstanden sich trotzdem.
Er wusste, dass er Lu Feng mochte, aber er wusste nicht, warum Lu Feng ihn mochte.
Lu Feng machte einen Schritt vorwärts, und An Zhe stieß mit dem Rücken gegen das Auto. Er blickte zu Lu Feng auf. Diese Augen waren immer noch so ruhig und klar wie bei ihrer ersten Begegnung am Tor der Äußeren Basis, als sie sich zum allerersten Mal getroffen hatten.
Lu Feng sah ihn lange Zeit an.
In diesen drei Jahren hatte er oft von diesem Tag geträumt.
Damals war Lu Fengs Seele tief in einem dornigen Sumpf gefangen gewesen, am Rande des Kontrollverlustes und unfähig, etwas dagegen zu tun.
Und in diesem Zustand traf er auf An Zhe.
An Zhe war ein Mensch, ein Xenogenic und ein Monster. Lu Feng hätte ihn töten sollen, aber er hätte es auch nicht tun sollen. Er war alles, was nicht definiert werden konnte. Er ist die wildeste Möglichkeit, und er war wie all die Menschen, die vor ihm gekommen waren und in ihren Blutlachen lagen.
„Warum bist du in den Simpson-Käfig gegangen?“, fragte er plötzlich.
An Zhe ging langsam seinen Gedanken nach und schüttelte dann den Kopf: „Ich weiß es nicht mehr“, antwortete er.
Dann fragte An Zhe mit leiser Stimme: „Du weißt es also auch nicht?“
„Ich weiß es“, murmelte Lu Feng und legte seine Stirn an die von An Zhe, „Weil du ein kleiner Pilz bist.“
Diese oberflächliche Antwort brachte
An Zhe dazu, seinen Blick unzufrieden zu heben, aber als er sah, was
sich in diesen kalten grünen Augen abspielte, wurde sein Blick
weicher
und er senkte ihn wieder.
Im Abgrund wuchsen alle Dinge.
Tatsächlich erinnerte er sich an jedes Wort, das Pauli gesagt hatte. Das ganze Universum war ein Ort ständiger Unruhe, und das Bewusstsein der Menschen waren flüchtige Lichter und bruchstückhafte Schatten, die innerhalb einer kurzen Periode der Stabilität entstanden waren. Die Geschichte der Menschheit spielte sich in einem Buch ab, aber das Buch war gerade dabei gewesen, zu Asche zu verbrennen. Die Frequenz des Magnetfeldes war wie kalte Luft, die dieser sengenden Hitze widerstand. Seine Frequenz verwandelte die Buchseiten in Asbest, so dass sie in der Flamme unversehrt bleiben konnten.
Aber die Flammen brannten weiter. Es
waren unbekannte Wellen, unvorhersehbare Störungen. Sie würden
immer wieder kommen, entweder noch heißer oder eine völlig
unbekannte Form annehmen. Vielleicht würde es schon in der nächsten
Sekunde soweit sein, vielleicht aber auch erst in zehntausend
Jahren.
Aber -
Es spielte keine Rolle mehr.
Sie alle hatten bereits ein Ergebnis erhalten, das ihre kühnsten Hoffnungen übertroffen hatte.
Er lehnte sich gegen das Auto und lächelte Lu Feng an.
Lu Feng beugte sich hinunter und küsste ihn auf einen Augenwinkel, dann drehte er sich zur Seite und begann, den Kompass und das Navigationsgerät zu kalibrieren.
Während er mit dem Kompass und dem Navigationsgerät herumhantierte, blätterte An Zhe weiter durch seine eigenen Dokumente. Er hatte bereits fast alles durchgelesen, und bevor fünf Minuten vergangen waren, hatte er alles, was noch übrig war, vollständig durchgelesen. Mit einem Klick drückte er auf die Taste für die Bildschirmsperre.
Zu diesem Zeitpunkt hatte auch Lu Feng seine Arbeit beendet.
Sie begannen im Süden. Vor ihnen lagen Seen, im Osten der Dschungel und im Westen waren die Sümpfe.
„Wohin?“, fragte Lu Feng.
„Ich weiß es nicht“, An Zhes Haltung wirkte niedergeschlagen.
„Dann lass uns nach Osten gehen“, sagte Lu Feng.
„Warum?“
„Ich weiß nicht, wo deine Höhle
ist“, sagte Lu Feng und legte das
Navigationsgerät beiseite,
„Aber ich weiß, wo ich dich zum ersten Mal getroffen habe.“
Es wäre wohl besser gewesen, wenn er
das nicht gesagt hätte. Denn nachdem er es so gesagt hatte, wurde An
Zhes Stimmung
komplett schlecht.
Er sah zu Lu Feng auf, seine Augenbrauen waren leicht gerunzelt und seine Augenränder waren rot und er stand kurz davor zu weinen.
Es war selten, dass Lu Feng einen Moment lang hilflos aussah. Er streckte seine Hände aus, um damit An Zhes Gesicht zu umfassen: „Was ist los?“
„Du magst mich überhaupt nicht“, schluchzte An Zhe und runzelte dabei die Stirn.
Lu Feng sagte: „Doch, ich mag dich.“
An Zhe erhob seine Stimme: „Was ist dann mit meiner Spore?“
Lu Feng hatte bislang die Sache mit der Spore überhaupt nicht mehr erwähnt. An Zhe war in der Vergangenheit noch zu ängstlich gewesen, so dass er es nicht gewagt hatte, von sich aus danach zu fragen.
Er konnte nur überall nach Neuigkeiten suchen, weil er wissen wollte, wohin die inerte Probe gegangen war.
Aber sie war nirgendwo. Erst als er fast schon mit seiner Suche aufgegeben hatte, sah er ältere Nachrichtenfetzen über ein 'inertes Extrakt' zusammen mit einem Foto, das eine schneeweiße Spore von der Größe eines Dattelkerns in einer Glasflasche zeigte.
Aber jetzt erwähnte Lu Feng sie nicht mehr, und weitere Spuren der Spore waren nicht zu finden gewesen.
Es gab nur eine Möglichkeit, nämlich, dass sie getötet worden war.
Als Lu Feng diese Worte hörte, erschien stattdessen der Hauch eines Lächelns in seinen Augen.
An Zhe war so verärgert, dass er nicht
mehr zusammenhängend sprechen konnte: „Sie ist in deiner Obhut
immer kleiner und kleiner geworden“, seine Sicht trübte sich, und
er
war kurz davor zu weinen, „Du hast sie getötet.“
Lu Feng sagte: „Das habe ich nicht.“
„Hast du doch!“, An Zhe packte ihn am Arm, ein Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet: „Du warst nicht gut zu ihr... Gib sie mir zurück.“
„Sie ist immer noch da. Nicht weinen“, sagte Lu Feng, „Was ist die Spore für dich?“
„Sie ist...“, An Zhe bemühte sich, sie in der menschlichen Sprache zu beschreiben, aber er konnte es nicht. Er konnte nur sagen: „Sie ist einfach meine Spore.“
„Ist sie sehr wichtig für dich?“
„Ja, das ist sie“, An Zhe zitterte fast vor Wut, „Ich kann sterben, aber vorher muss ich meine Spore einpflanzen. Ich habe sie dir nur gegeben, weil ich dachte, du würdest sie richtig aufziehen.“
„Ist sie sogar wichtiger als dein eigenes Leben?“
„... Mm-hm.“
„Für jedes Lebewesen ist das eigene Leben das Wichtigste.“
„Nein, die Spore ist das Wichtigste“, argumentierte An Zhe unnachgiebig, „Du bist ja kein Pilz. Du kannst das nicht verstehen.“
„Okay“, in Lu Fengs Stimme lag noch immer ein sanftes Lächeln, „Ist sie also dein Kind?“
An Zhe biss sich auf die Lippe. In der Welt der Pilze gab es keine Eltern oder Kinder, keine Verwandtschaft, nicht einmal Freunde. Jede einzelne Pilzart im Abgrund war anders als die anderen Pilze. Er hatte keine Möglichkeit, seine Beziehung zu der Spore mit Begriffen der menschlichen Beziehung zu beschreiben. Da er nicht sagen konnte, dass sie sein Kind war, konnte er nur sagen: „Ich habe sie geboren.“
„Ich habe sie aufgezogen.“
„Du hast sie überhaupt nicht richtig aufgezogen.“
„Hm?“, sagte Lu Feng, „Wie kommt es dann, dass sie damals im Leuchtturm, obwohl sie dich auch gesehen hat, aus eigenem Antrieb nur auf meine Seite geschwebt ist?“
An Zhe hatte gerade darüber gegrübelt, dass Lu Feng die Spore getötet hatte, aber jetzt, da die Vergangenheit wieder zur Sprache gekommen war, erinnerte er sich sofort wieder daran, wie die Spore sich so verräterisch verhalten hatte.
Sie waren beide nicht gut.
Unsicher, was er sagen sollte, konnte er nur antworten: „Aber... ich habe sie geboren.“
Lu Feng lächelte wieder.
Die Welt drehte sich.
An Zhe wurde fest gegen das Auto gepresst.
Lu Fengs Finger glitten über seinen Unterleib, und an dieser schwächsten und weichsten Stelle lösten die kühlen Fingerspitzen einen Schauer aus.
An Zhe schnappte leise nach Luft.
Lu Feng senkte seinen Kopf und sprach sanft in sein Ohr: „Dann lass mich sehen, wie du ein weiteres Kind zur Welt bringst.“
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